Vroni Engel-Stiegler (39) liegt kurz vor Mitternacht im Bett. Ehemann Erwin (43) ist noch nicht zu Hause. Die drei Kinder des Ehepaars schlafen bereits. Bei den Gästen in der Ferienwohnung auf dem abgelegenen Hof der Engels in St. Antönien GR ist es ruhig. Dann plötzlich ist ein lautes Rumpeln in der nächtlichen Stille zu hören. «Zuerst dachte ich, dass es sich um einen Schneepflug handeln könnte. Um diese Zeit konnte das aber nicht sein. Da war mir sofort klar, dass eine Lawine runterdonnert», erinnert sich die Bäuerin an den Lawinenabgang im Februar 2018. Noch im Pyjama schaute sie nach, ob wirklich alle Kinder und Gäste im Haus in Sicherheit waren. «Im ersten Moment hatte ich schon Herzklopfen», gesteht sie. Wie kurz darauf Ehemann Erwin nach Hause kam, legten sich aber alle auf dem Bauernhof wieder in die Betten und schliefen.
Am nächsten Morgen zeigte sich erst, wie knapp vorbei am alten Bauernhaus die Lawine niederging. «Das war die letzte grössere Lawine, die ohne Vorwarnung so nah an unserem Haus runterkam», sagt die Ehefrau. Das Auto der Feriengäste war verschüttet und hatte Totalschaden. Ansonsten gab es glücklicherweise keine nennenswerten Schäden.
Tragische Lawinenabgänge in der Vergangenheit
Familie Engel kaufte 2005 den alten Bauernhof am Hang in St. Antönien. Ehemann Erwin wuchs in St. Antönien und damit auch mit der Lawinengefahr auf. Den Lawinenwinter von 1951 kennt Erwin Engel nur von Erzählungen der älteren Dorfbewohner. Damals zerstörte oder beschädigte eine Lawine 42 Gebäude, zehn Menschen wurden verschüttet. Eine Person starb, neun Menschen konnten gerettet werden.
Nach dem Lawinenwinter 1951 wurden im Prättigauer Dorf St. Antönien die ersten grossen Lawinenverbauungen der Schweiz erstellt. In St. Antönien machte man über die Jahre mehrfach tragische Erfahrungen mit Lawinen: In den Jahren 1935, 1951, 1954 und 1968 hatte man im Prättigau mehrere Todesopfer durch Lawinenniedergänge zu beklagen.
Schulfrei für die Kinder
«Wir haben gelernt, mit den Lawinen zu leben, und fühlen uns hier ziemlich sicher, auch wenn bei solchen Naturereignissen ein Restrisiko und manchmal ein mulmiges Gefühl bleibt», sagt die dreifache MutterEngel-Stiegler. Sie beobachtet das Wetter und die Schneeverhältnisse täglich. Für die Engels ist es nichts Ungewöhnliches, dass eine Staublawine über ihr Hausdach hinwegfegt.
Bei erhöhter Lawinengefahr wird die Bevölkerung vom Lawinenstab der Gemeinde aber gewarnt und die Strassen werden gesperrt. Für die drei Söhne der Engels bedeutet das kindergarten- und schulfrei. «Darüber sind die Jungs aber nicht unglücklich», sagt die Mutter lachend. Die ganze Familie bleibt während der kritischen Zeit im Haus und verweilt sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen oder lesen. «Die Kinder dürfen dann keinen Schritt aus dem Haus, aber sie haben sich daran gewöhnt.» Die grossen Schneemengen im letzten Jahr bescherten im Januar 2019 den Engel-Buben letztmals vier schulfreie Tage. Diesen Winter blieb der grosse Schnee bis jetzt aus.
Stromleitungen wurden in den Boden verlegt
Einem dem die Lawinengefahr mehr Sorgen bereitet ist Jann Flütsch, Gemeindevorstand und Vizepräsident der Gemeinde Luzein. Bis zur Gemeindefusion im Jahr 2016 war er Gemeindepräsident von St. Antönien. Er ist unter anderem zuständig für die öffentliche Ordnung und Sicherheit und vertritt die Gemeinde in der Lawinenschutzorganisation.
In seiner Verantwortung liegt auch die stetige Lagebeurteilung der Lawinengefahr. Er erinnert sich besonders an den schneereichen Winter 1999. «Das waren happige Tage. Für uns ging es zum Glück glimpflich aus. Die Einheimischen sind sich den Umgang mit der Lawinengefahr gewohnt, nicht aber Feriengäste. Um kein Risiko einzugehen, haben wir uns frühzeitig entschieden, alle Gäste rechtzeitig zur Abreise zu bewegen.» Wenn die Schranken der Strassen im Tal wegen Lawinengefahr geschlossen sind, gibt es kein Durchkommen mehr. «Das wollten wir verhindern», so Flütsch.
Auch er ist in St. Antönien aufgewachsen und seit seiner Kindheit den Umgang mit Lawinen gewohnt. Im Januar 2019 erschwerte ein Stromausfall die angespannte Lawinensituation zusätzlich. Flütsch: «Umstürzende Bäume haben die Stromleitungen gekappt, was die Information der Bevölkerung behinderte. Damit das nicht mehr passieren kann, haben wir die Stromleitungen neu in den Boden verlegt.»
Trotz Verbesserung bleibt ein Restrisiko
Aus all den Lawinenerfahrungen der Vergangenheit hat man in den Dörfern im Prättigau Lehren gezogen, um den Schutz der Bevölkerung stetig zu verbessern. Die bestehenden Lawinenverbauungen bei St. Antönien werden derzeit erneuert und zudem erweitert. Flütsch dazu: «Wir wissen durch die langjährigen Messungen des SLF und Datenauswertungen, dass sich das Gefahrengebiet verändert hat und wir den Lawinenschutz im Siedlungsgebiet ausweiten müssen.» Trotz sämtlichen Investitionen und Bemühungen weiss Flütsch: «Ein Restrisiko bleibt immer.»
Unesco-Kulturerbe «Umgang mit der Lawinengefahr»
Der «Umgang mit der Lawinengefahr» wurde Ende November 2018 in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen. In der Startphase dazu ist in der Gemeinde im Prättigau das Projekt «Unesco-Tal St. Antönien – Leben mit Lawinen». Die Erfahrungen und Erkenntnisse von St. Antönien im Umgang mit Lawinen der Vergangenheit, will Jann Flütsch zusammen mit weiteren Projektmitglieder dabei für die Zukunft festhalten.