Foto: Jessica Keller

Zweigeteiltes Weiach ZH
Wie die Zersiedelung ein Dorf spaltet

Die Zersiedelungs-Initiative will Kulturland vor der Überbauung retten. Für Weiach ZH ist das zu spät. 
Ein Besuch in einem zweigeteilten Dorf.
Publiziert: 26.01.2019 um 21:35 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2019 um 07:43 Uhr
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Landwirtschaft und neue Siedlungen treffen in Weiach (ZH) unmittelbar aufeinander. Das führt zu Spannungen, etwa wenn Hundehalter ihre Haufen nicht aufnehmen und Ponys Koliken bekommen, weil das Gras verschmutzt ist.
Foto: Jessica Keller
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

 «Mit den meisten dieser Leute kann man nicht reden», sagt ein junger Weiacher, der anonym bleiben will. 

Hinter ihm grasen Pferde, direkt dahinter steht eine Neubausiedlung. Rund um die landwirtschaftliche Parzelle, die seiner Familie gehört, stehen Kräne. Investoren ziehen weitere Siedlungen hoch. Wir befinden uns nahe der deutschen Grenze im Zürcher Unterland, in Weiach. 

«Wenn wir normale landwirtschaftliche Arbeiten verrichten müssen, wie Heuen oder Stroh abladen, rufen die Neuzuzüger auch mal die Polizei wegen Lärmbelästigung», sagt der Einwohner eines alteingesessenen Bauerngeschlechts. «Sie nehmen ihre Hundehaufen nicht zusammen, und unsere Tiere bekommen Koliken. Sie böllern an Silvester und am 1. August ohne Rücksichtnahme auf unsere Tiere Raketen ab – die Reste sammeln wir dann auf den Weiden zusammen. Reden nützt nichts.»

Grund für unseren Besuch in Weiach ist die Zersiedelungs-Initiative, über die wir am 10. Februar abstimmen. Weiach liegt in einem sanft hügeligen Gebiet mit Wäldern, Landwirtschaft und dem Rheinufer in nächster Umgebung. In den letzten fünf Jahren ist die Gemeinde um fast 70 Prozent gewachsen. 2013 lebten hier noch 1074 Menschen, fünf Jahre später sind es schon 1823. Vor Ort herrscht noch immer rege Bautätigkeit – und dies, obwohl fast ein Zehntel der neuen Wohnungen leer steht. Bis 2020 will man weiterbauen. 

Ein zerschnittenes Dorf

Das Dorf wirkt optisch zweigeteilt. Der alte Dorfteil ist mit idyllischen Riegelhäusern bäuerlich geprägt und organisch gewachsen. Fährt man etwas weiter, folgt «die Faust aufs Auge», wie ein gewählter Gemeindemitarbeiter, der mit diesem Zitat nicht namentlich genannt werden will, sagt. Er hat recht: Es sind Betonsiedlungen, die beim besten Willen niemand als schön oder auch nur als stimmig bezeichnen kann. 

Die Gründe dafür sind vielfältig – und politisch-historisch begründet. «In der Zonenplanrevision von 1986 wurde eine grosse Industriezone grösstenteils in eine Wohnmischzone umgewandelt», erklärt Gemeindepräsident Stefan Arnold. «An wen das Land dann von Privaten verkauft wurde und welche Investoren eingestiegen sind, darauf hat die Gemeinde wenig Einfluss.» Alexander Gyr, Ressortvorstand Hochbau und Liegenschaften, führt an: «Genauso wenig wie auf die Optik der Siedlungen – der liegen kantonal bestimmte Richtlinien wie Raumausnützungskoeffizient oder Grenzabstandsregelungen zu Grunde.» 

«Früher, wenn jemand gebaut hat, da kannten wir den Bauherrn, da kannten wir die Baufirma, da war klar, wer in der Gemeinde was macht. Heute haben wir keine Ahnung, wer die Investoren sind und wer hier das grosse Geld macht – wir sinds jedenfalls nicht!», sagt ein ehemaliger Landwirt in der Linde. In der letzten verbliebenen Gastwirtschaft im Dorf – einst waren es vier – trifft sich immer dienstagmorgens um zehn eine Runde alteingesessener Herren. 

Weiach ist nicht der einzige Ort, der von nichtlokalen Investoren überrollt wird. Das liegt unter anderem am historisch tiefen Zinsumfeld: Aktien und Obligationen werfen kaum mehr Gewinn ab, weshalb Banken und Pensionskassen gross ins Immobiliengeschäft eingestiegen sind. Sie bauen sozusagen auf Vorrat – und nehmen Leerwohnungsbestände in Kauf. So verzinsen sie ihr Kapital immer noch ertragreicher, als wenn sie in Wertschriften investieren – auch in Weiach, wo gemäss letzter Erhebung Mitte 2018 fast zehn Prozent der Neubauten leer stehen. 

Dass mit Immobilien auch in Zeiten von Negativzinsen noch eine Rendite möglich ist, haben auch Private gemerkt. «In Weiach entsteht eine Siedlung durch Crowdfunding, also durch Private, die ihr Kapital zusammenlegen, um es in Bautätigkeit zu investieren», sagt Gemeindepräsident Arnold. «Investoren aus der Gegend gibt es hingegen kaum, auch die Bauunternehmungen sind nicht von hier.» 

Seit 2002 geht die Zersiedelung weiter

Dieser Drang des Kapitals in Immobilien schwächt sich trotz einer Revision des Raumplanungsgesetzes im Jahr 2012 gesamtschweizerisch nicht ab. Dies zeigt die neueste offizielle Untersuchung «Zersiedelung messen und begrenzen» von mehreren Autoren und der für Zersiedelung zuständigen Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) aus dem Jahr 2018. In ihr heisst es lapidar: «Seit dem Jahr 2002 steigt die Zersiedelung (…) wieder jährlich (…) an.» Eine kurze Phase der Abschwächung zwischen 1980 und 2002 sei vorbei. Aber die Zersiedelung beginnt historisch gesehen schon sehr früh: Seit 1885 bis zur Erhebung von 2010 hat sie um 557 Prozent zugenommen. 

«Die Menschen, die hierhergekommen sind, haben keinen Bezug zur wunderschönen Gegend. In den Vereinen macht keiner mit, von der Geografie hat niemand eine Ahnung, man sieht nur Hündeler, nie Familien. Die gehen mit ihren Kindern nie spazieren. Wie soll man da einen Bezug zu einer Gegend bekommen?» Die träfen Herren in der Linde nehmen kein Blatt vor den Mund: «Die sind nicht von hier, reden die Sprache teilweise nicht, jeder von denen arbeitet anderswo und hockt am Abend vor seinem Fernseher in der Wohnung. Und wenns mal nach Stall riecht, rufen sie im Gemeindehaus an!» 

Dass viele der neuen Einwohner Pendler sein müssen, bestätigt indirekt auch Gemeindepräsident Arnold: «Wir müssen ein Parkierungskonzept erstellen, um dem Wildparkieren Herr zu werden.» Die Menschen, die zugezogen sind, würden pro Wohnung oftmals zwei, teilweise sogar drei Autos besitzen. «Wir müssen jetzt erst einmal das Parkplatzproblem lösen», sagt Arnold. Er ist damit nicht allein: Zersiedelte Flächen sind oftmals nicht genügend an den öffentlichen Verkehr angeschlossen. In Weiach fährt das Postauto aber immerhin halbstündlich. Kulturelle Angebote und Einkaufsmöglichkeiten sind aber dünn gesät – es gibt etwa kein Restaurant mehr, in dem man etwas essen kann, und die einzige Einkaufsmöglichkeit ist der Volg mit einem beschränkten Angebot. 

«Für uns kommt die Initiative zu spät», sagt Gemeindepräsident Arnold. «Hier wurde ja schon 1985 umgezont. Wenn diese Parzellen 2020 fertig gebaut sind, ist kein Bauland mehr da.» 

Elf Hektaren einstiges Landwirtschaftsland, also ungefähr 16 Fussballfelder, sind in Weiach seit 1965 verloren gegangen, in der gesamten Schweiz ist knapp ein Fünftel der verfügbaren Fläche bereits überbaut. Die Zahlen erklären sich folgendermassen: Nur 43,3 Prozent der Gesamtfläche der Schweiz sind zum Wohnen und zur Nahrungsmittelherstellung nutzbar. Der Rest sind unnutzbare Gebiete wie Berge, Felsen und Gewässer sowie strikte geschützte Wälder.

18,8 Prozent der Schweiz sind besiedelt

Von den nutzbaren Gebieten sind nach aktuellsten Erhebungen 18,8 Prozent besiedelt – der besagte Fünftel der verfügbaren Fläche. Und der Verlust geht weiter: Pro Sekunde, erklärt der Bauernverband, geht in der Schweiz knapp ein Quadratmeter Landwirtschaftsland verloren – aufs Jahr gerechnet sind dies 31 Quadratkilometer. Das ist knapp die Fläche von Basel-Stadt, die jährlich überbaut wird.

«Natürlich gab es für die Umzonungen damals eine Abstimmung», sagt ein Pensionär in der Linde. «Dass Weiach einst so aussehen würde wie jetzt, hätte sich niemand von uns je im Traum vorgestellt.» Die Alteingesessenen dachten, es kämen Einfamilienhäuser von Privaten hin. 

Weiach sieht heute aus, wie es aussieht, weil 1965 und 1985 Umzonungen vorgenommen wurden. In der Folge hatte die Bautätigkeit eine Eigendynamik angenommen, die niemand mehr verhindern konnte. Eine Gemeinde kann Privaten nicht vorschreiben, welchem Investor sie das Land verkaufen und was die dann genau bauen. 

Der Bund hat das Problem erkannt: Mit der Revision des Raumplanungsgesetzes hat er 2012 versucht, neue Einzonungen von Bauland zu bremsen. Die Revision beschränkt diese Einzonungen auf 15 Jahre. Über neue Einzonungen nach Ablauf dieser Fristen muss die Gemeinde zuerst abstimmen. Der Kanton muss dann die neue Einzonung absegnen. Und die Kantone müssen diese Bewilligung wiederum mit einem vom Bund abgesegneten Richtplan für die Raumplanung koordinieren. Theoretisch gibt es mit diesem Richtplan also ein Instrument, um die Raumplanung übergeordnet zu gestalten. 

Ob dieses Instrument aber greift? Experten sind sich unsicher. Anna Hersperger ist Leiterin der Forschungsgruppe für Landnutzungssysteme an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, die sich auch mit Raumplanung beschäftigt. «Es bestehen sehr grosse Unterschiede darin, wie die einzelnen Kantone ihre Richtplanung umsetzen», sagt Hersperger. Es gibt aber bereits Bestrebungen, den Kantonen auf die Finger zu klopfen – weshalb für Hersperger die Initiative etwas zu früh kommt: «Die Kantone sind aktuell in der Pflicht, bis Mai ihre Richtpläne zu revidieren und dem Bund zur Genehmigung vorzulegen.» Wenn die Umsetzung dieser Pläne durch Kantone und Gemeinden nichts bringe, dann sei Hersperger «definitiv für die Initiative». Bei alteingesessenen Weiachern stösst die Initiative hingegen nicht auf grosse Zustimmung – und sie zeigt, dass die Zweiteilung des Dorfes nicht nur optisch ist. 

«Dann können wir hier ja noch weniger bestimmen», lautet der Tenor. Und: «Wir wählen SVP.» Die Initiative könnte in Weiach dennoch durchkommen, glauben sie: «Die Neuen, die wählen links», heisst es am Stammtisch in der Linde.

 

Zersiedelung: Interview mit Geograph Christian Schwick

Was ist seit der Revision des  Raumplanungsgesetzes von 2012 geschehen?
Christian Schwick: Die Revision ist noch nicht umgesetzt, die Kantone revidieren aktuell ihre Richtpläne. Gemeinden und Investoren mit vielen leer stehenden Baulandparzellen, meistens sind diese eher abgelegen, haben deshalb seit 2012 teilweise auf Vorrat gebaut. Einer der Gründe des Leerwohnungsstands auf dem Land.

Wo sehen Sie die grössten Probleme der Zersiedelung?
In Städten existieren Konzepte zur sinnvollen Verdichtung. Das Problem ist der suburbane Raum, also die äussere Agglomeration. Dort fehlen überregionale Verdichtungskonzepte, und die Zersiedelung fährt fort. Wenn die 15 Jahre des Umzonungsstopps vorbei sind, können diese Gemeinden theoretisch neu Bauland einzonen.

Wie könnte weitere Zersiedelung gestoppt werden?
Wir müssten nach funktionellen Räumen verdichten, über Kantonsgrenzen hinweg. So könnte man beispielsweise überregional gesehen wenige Gewerbezonen planen, wo sie benötigt sind, und nicht gemeindeweise hunderte verstückelte. Genf ist dafür ein gutes Beispiel.

Was macht Genf anders?
Raumplanung ist dort Sache des Kantons. Seit 1980 hat die Zersiedelung in Genf abgenommen. Allerdings verlagerte dies die Probleme – weil die Baulandpreise in Genf der Verdichtung wegen stiegen, hat die Zersiedelung in den umliegenden Kantonen zugenommen. Das zeigt erneut, dass es überregionale Konzepte braucht.

Nehmen Sie persönlich die Initiative an?
Ich lehne sie eher ab: Abgelegene Gemeinden werden aus Angst vor Rückzonungen bei einer Annahme die noch offenen Gebiete schnell verbauen. Sie ist also mittelfristig kontraproduktiv.

Was wäre denn Ihrer Ansicht nach die bessere Lösung?
Eine Lösung wäre es, jedem Schweizer Bürger Siedlungspunkte zuzuweisen, die für eine gewisse Raumnutzung stehen. Wer mehr Raum will, kauft dazu, wer weniger benötigt, verkauft die Siedlungspunkte gewinnbringend. Dies gäbe einen marktwirtschaftlichen Anreiz
zur Verdichtung.

Klingt radikal. Gibt es Vorstösse in solche Richtungen?
Ach, das diskutieren Fachkreise seit 15 Jahren. Aber wie immer hinkt die Politik der Wissenschaft um Jahrzehnte hinterher.

Christian Schwick ist Geograph und Co-Autor der -Erhebung «Zersiedelung messen und begrenzen», die u.a. in -Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungs-anstalt für Wald, Schnee und Landschaft 2018 im Haupt Verlag erschienen ist.

Was ist seit der Revision des  Raumplanungsgesetzes von 2012 geschehen?
Christian Schwick: Die Revision ist noch nicht umgesetzt, die Kantone revidieren aktuell ihre Richtpläne. Gemeinden und Investoren mit vielen leer stehenden Baulandparzellen, meistens sind diese eher abgelegen, haben deshalb seit 2012 teilweise auf Vorrat gebaut. Einer der Gründe des Leerwohnungsstands auf dem Land.

Wo sehen Sie die grössten Probleme der Zersiedelung?
In Städten existieren Konzepte zur sinnvollen Verdichtung. Das Problem ist der suburbane Raum, also die äussere Agglomeration. Dort fehlen überregionale Verdichtungskonzepte, und die Zersiedelung fährt fort. Wenn die 15 Jahre des Umzonungsstopps vorbei sind, können diese Gemeinden theoretisch neu Bauland einzonen.

Wie könnte weitere Zersiedelung gestoppt werden?
Wir müssten nach funktionellen Räumen verdichten, über Kantonsgrenzen hinweg. So könnte man beispielsweise überregional gesehen wenige Gewerbezonen planen, wo sie benötigt sind, und nicht gemeindeweise hunderte verstückelte. Genf ist dafür ein gutes Beispiel.

Was macht Genf anders?
Raumplanung ist dort Sache des Kantons. Seit 1980 hat die Zersiedelung in Genf abgenommen. Allerdings verlagerte dies die Probleme – weil die Baulandpreise in Genf der Verdichtung wegen stiegen, hat die Zersiedelung in den umliegenden Kantonen zugenommen. Das zeigt erneut, dass es überregionale Konzepte braucht.

Nehmen Sie persönlich die Initiative an?
Ich lehne sie eher ab: Abgelegene Gemeinden werden aus Angst vor Rückzonungen bei einer Annahme die noch offenen Gebiete schnell verbauen. Sie ist also mittelfristig kontraproduktiv.

Was wäre denn Ihrer Ansicht nach die bessere Lösung?
Eine Lösung wäre es, jedem Schweizer Bürger Siedlungspunkte zuzuweisen, die für eine gewisse Raumnutzung stehen. Wer mehr Raum will, kauft dazu, wer weniger benötigt, verkauft die Siedlungspunkte gewinnbringend. Dies gäbe einen marktwirtschaftlichen Anreiz
zur Verdichtung.

Klingt radikal. Gibt es Vorstösse in solche Richtungen?
Ach, das diskutieren Fachkreise seit 15 Jahren. Aber wie immer hinkt die Politik der Wissenschaft um Jahrzehnte hinterher.

Christian Schwick ist Geograph und Co-Autor der -Erhebung «Zersiedelung messen und begrenzen», die u.a. in -Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungs-anstalt für Wald, Schnee und Landschaft 2018 im Haupt Verlag erschienen ist.

Alle Abstimmungen auf einen Blick

Die Schweiz stimmt wieder ab: Erklärungen zu allen Initiativen, aktuelle News und prominente Stimmen zum Thema finden Sie hier.

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