Armutsbetroffe in der Schweiz
Grosse Hilfsaktion für Familie mit kleinem Budget

J.B. (35), ihr Partner und die drei gemeinsamen Kinder leben von der Sozialhilfe. Neben Geldsorgen leidet die Mutter unter gesundheitlichen Problemen und hat wieder eine Operation vor sich. In ihrer Not fand sie über Facebook Hilfe.
Publiziert: 18.02.2020 um 08:48 Uhr
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Aktualisiert: 25.11.2020 um 12:18 Uhr
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Die Helferinnen und Helfer sind mit voll beladenen Autos mit Möbeln, Haushaltartikeln, Esswaren und vielem mehr vor dem Mehrfamilienhaus im Kanton Bern eingetroffen.
Foto: zVg
Corine Turrini Flury

Ausladen, tragen, schrauben, putzen, sortieren, entsorgen, einräumen. Über zwei Tage haben Freiwillige am Wochenende in einer Gemeinde im Kanton Bern einen aufwendigen Hilfseinsatz im Zuhause einer armutsbetroffenen Familie mit drei Kindern geleistet.

Ende Januar hat J. B.* über eine Facebook-Gruppe Alessandro Menna vom Verein Siidefade - Gemeinsam statt einsam kontaktiert. Die Non-Profit Organisation bietet Unterstützung und sensibilisiert für das Thema Armut in der Schweiz. Aufgrund einer bevorstehenden Knieoperation, wurden bei J.B. die Lebensmittel für die Familie knapp. Die Mutter leidet an einem Geburtsgebrechen und kann krankheitsbedingt keine Besorgungen machen. «Da der Fall dringend war, entschied ich mich Cristina Berenguer einzuschalten. Sie ist verantwortlich für den Bereich «Nothilfe» im Verein», erzählt Alessandro Menna im Gespräch mit BLICK.

Chaotische Zustände

Silvia Kaufmann, eine weitere freiwillige Helferin, die zufällig in der Nähe der Familie wohnt, ging kurz darauf vorbei und brachte dem Paar mit den drei Kindern Lebensmittel. Nach dem Besuch bei der Familie informierte die Helferin Menna. Hier sei mehr nötig als «nur» Lebensmittel vorbeizubringen.

«Die Wohnung der Familie liegt im dritten Stockwerk, ohne Lift und die Frau kann wegen ihrer Krankheit ganz schlecht laufen. In der Wohnung sah es entsprechend chaotisch aus. Wäscheberge türmten sich, Geschirr und Stühle fehlten, die Eltern schliefen auf einer Matratze am Boden. Mir war klar, dass hier mehr Hilfe, nötig ist, damit die Familie ihr schwieriges Leben wieder in den Griff bekommt», so Kaufmann.

Gesundheitliche Probleme und Arbeitslosigkeit

Die 35-jährige Mutter hat aufgrund ihres Gendefekts schon einige Operationen hinter sich und konnte keine Ausbildung absolvieren. Sie hatte daher immer nur schlecht bezahlte Jobs, bis sie mit 25 Jahren überraschend schwanger wurde. «Eigentlich hiess es bei mir, dass ich keine Kinder bekommen kann. Trotzdem wurde ich dreimal schwanger» erzählt die Mutter. Aus gesundheitlichen Gründen arbeitet J. B.* seit 2011 gar nicht mehr. «Ich würde gern Teilzeit arbeiten, aber mein ältester Sohn ist Autist. Er hat leider meine Krankheit geerbt und auch der Zweitgeborene ist in einer Spezialschule und braucht viel Aufmerksamkeit und Betreuung. Darum ist es mir in den nächsten Jahren nicht möglich Geld zu verdienen.»

Von der IV wurde die Mutter abgewiesen. Sie lebt nun von Sozialhilfe. Ihr Lebenspartner und Vater ihrer Kinder wurde arbeitslos und schliesslich vom RAV im Sommer 2019 ausgesteuert und zum Sozialhilfebezüger. Aktuell ist er temporär angestellt und hofft auf eine Festanstellung, damit es mit der Familie wieder aufwärts geht. Mit rund 4000 Franken im Monat kommt die fünfköpfige Familie aber kaum über die Runden, zumal sich Schulden angesammelt haben, die das Paar abbezahlen muss.

Rund 1600 Franken inklusive Nebenkosten bezahlt die Familie für die Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung. Das Paar war nicht nur mit der finanziellen Situation überfordert. Die bevorstehende Operation stellte die Familie vor weitere Probleme in Bezug auf die Kinderbetreuung und Hilfe im Haushalt.

Neue Möbel für die Familienwohnung

«Weil es so dringend war, konnten wir ein Team aus acht Helfern und fünf Freiwilligen des Siidefade zusammenstellen, um der Familie zu helfen und der Spitex den Weg zu ebnen», erklärt Menna. Cristina Berenguer konnte im Vorfeld fast alle notwendigen Dinge wie Ehebett und Matratze, einen Schrank, Aufbewahrungsboxen und Regale für die Kinder, Geschirr, Stühle, Haushaltsartikel, Esswaren und vieles mehr organisieren. Zusätzlich beteiligen sich noch Helfer an den Möbelkosten. «Um unsere Unterstützung für die Familie nachhaltig zu gewährleisten, werden wir wöchentliche Besuche von Team-Mitgliedern und Helfern organisieren und auf das Angebot eines Familiencoaches, der seine Dienstleistung für Hilfesuchende vom Siidefade anbietet, zurückgreifen», sagt Menna.

Ausserdem wird die Familie beim Antrag an die IV unterstützt, sowie bei der Ordnung aller Dokumente und es wurde bereits ein Budgetplan erstellt. Dafür haben J. B. und ihr Partner im Vorfeld alle nötigen Unterlagen im Vorfeld mit Menna offengelegt. «Wir müssen uns schon vergewissern, dass alle Angaben der Hilfesuchenden stimmen und jemand gewillt ist, seinen Teil beizutragen, damit unsere Hilfe nicht sinnlos verpufft», erklärt Menna.

Mehr Energie und Optimismus

«Ich bin total glücklich und dankbar für die Unterstützung und konnte zuerst gar nicht glauben, dass es noch so hilfsbereite Menschen gibt», sagt J. B. überwältigt. Schon nach den ersten Gesprächen mit Menna und Berenguer habe sie wieder mehr Energie verspürt und habe schon einige Vorarbeiten mit ihrem Partner geleistet. Auch das Paar und die Kinder haben bei der Hilfsaktion so gut wie möglich mitgeholfen. Sie fühlen sich wieder wohl in ihrem Zuhause und haben für die nächsten Wochen alles was nötig ist. Es herrscht wieder Ordnung, es ist sauber und der Kühlschrank ist gefüllt. Einige Kleinigkeiten wird das Paar mit freiwilligen Helfern in den nächsten Tagen noch fertigstellen. Hilfreich ist für die Eltern auch, dass sie in nächster Zeit noch von den Freiwilligen begleitet und unterstützt werden. J. B.: «Wir sind happy und motiviert und sehen wieder optimistischer in die Zukunft.»

J. B. und ihre Familie sind kein Einzelfall. Gemäss dem Bundesamt für Statistik waren in der Schweiz im Jahr 2018, rund 660’000 Personen der ständigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten von Einkommensarmut betroffen. Im Jahr 2018 betrug die Armutsgrenze in der Schweiz durchschnittlich 2293 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3968 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren.

Die Facebook-Gruppe «Leben am Existenzminimum Schweiz» wurde 2015 gegründet um eine Plattform zu bieten für Themen rund um das Existenzminimum austauschen kann. Im Laufe der Zeit entstand das Bedürfnis nach weiteren Aktivitäten um beispielsweise Lebensmittel oder Sachgegenstände auszutauschen. So entstanden inzwischen sechs Untergruppen wie «Fresspäckli» und «Zu verschenken». Daraus resultierte im Januar 2018 die Gründung des Vereins Siidefade. Der Verein wird ehrenamtlich geführt und verfügt über ein Spendenkonto.

* Name der Redaktion bekannt

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