«Ich hatte Respekt davor, allein nach New York auszuwandern», gibt Tatjana Haenni unumwunden zu. Ihre kleine Wohnung in Zürich, wo die Bernerin schon 20 Jahre lebte, hat sie darum zuerst noch untervermietet. «Ich wusste nicht, was mich hier erwartet und wie ich mich eingewöhne», sagt die ehemalige Fussballerin und Ex-Direktorin im Schweizer Frauenfussball.
Als langjährige Funktionärin der Fifa und Uefa ist sie sich andere Kulturen und wochenlange Aufenthalte irgendwo in der Welt gewohnt. «Ich war aber nie allein und wusste nicht, wie ich damit zurechtkomme. Ich bin ein geselliger Mensch und habe meine Familie und Freunde gern um mich», sagt sie im Gespräch mit Blick, das sie in einem der vielen Strassencafés in Jersey führt. Nicht weit von ihrem Dreieinhalbzimmer-Appartement, wo sie seit Januar allein lebt.
Wohnen und arbeiten in zwei Welten in einer Weltstadt
«Meine Wohnung war ein Glücksfall. Von einem Bekannten, der auch im Fussballbusiness tätig ist und der zurück nach Europa reiste, konnte ich die Wohnung möbliert übernehmen.» Schon bei der Besichtigung im Dezember, als Haenni erstmals ihren neuen Arbeits- und Wohnort begutachten konnte, fühlte sie sich auf Anhieb wohl. Besonders wichtig war ihr, dass sie ein Gästezimmer für Freunde und Verwandte zur Verfügung hat. «Ich freue mich immer sehr, wenn ich Besuch aus der Schweiz habe», sagt Haenni. Auch wenn ihr noch die persönliche Note in der Wohnung fehlt, weil dafür bisher keine Zeit war, fühlt sie sich wohl und hat alles, was sie braucht.
Dazu gehört ein kleiner italienischer Kaffeekocher. «Der musste mit. Filterkaffee schmeckt mir nicht. So kann ich mir selber guten Kaffee zubereiten.» Der Balkon mit Sicht auf den Yachthafen ist ein zusätzlicher Pluspunkt. Hier sitzt sie nach der Arbeit im hektischen und lauten Manhattan gern und geniesst die Ruhe. «Manhattan und Jersey sind wie zwei Welten.»
Im geschäftigen Manhattan, mit dem Zug oder Boot in 15 Minuten erreichbar, arbeitet die Schweizerin seit Januar 2023 als sportliche Direktorin bei der amerikanischen Frauenfussball-Profi-Liga. «Fussball ist mein Leben und meine Leidenschaft», sagt Haenni, die schon als Mädchen mit den Jungs kickte und später für die Schweizer Nationalmannschaft im Einsatz war. Ihre Liebe zum Fussball war auch der Grund, ihres Wegzugs aus der Schweiz.
Erstgespräch vor dem Finalspiel
Vor dem Finale an der Uefa Women's Euro 2022 in England traf sich die Schweizerin erstmals mit Jessica Berman, NWSL-Chefin der US-Profiliga, die heute ihre Vorgesetzte ist, zu einem unverbindlichen Gespräch. Die Bernerin ist eine ehrliche Haut und informierte ihren damaligen Arbeitgeber, den Schweizerischen Fussballverband frühzeitig, dass sie eine Jobanfrage aus den USA erhalten habe. «Das wurde ohne weiteres zur Kenntnis genommen. Damit war für mich noch klarer, dass meine Zukunft im Frauenfussball alternativlos in den USA liegt», sagt Haenni.
Man habe sich im Guten getrennt und sie verstehe sich auch nach wie vor mit allen. Viel hat Haenni in der Schweiz in ihrer vierjährigen Zeit als erste Direktorin für den Frauenfussball erreicht. Darauf sei sie stolz. «Es gibt aber für meine Nachfolgerin noch viel zu tun. Die Schweiz liegt in der Entwicklung des Frauenfussballs um Jahre zurück», weiss sie.
Und dann sprudelt es nur so aus ihr. Sie schwärmt von ihrem neuen Arbeitgeber, dem top motivierten Team in New York, das stetig wächst und Projekte mit ihr vorantreibt, erzählt von einem US-Klub, der weltweit erstmals ein eigenes Stadion nur für das Frauenfussballteam baut, vom Austausch mit anderen Verbänden und ist in ihren Ausführungen rund um den Frauenfussball und dessen Potenzial kaum zu bremsen. «Hey, das ist die USA mit dem erfolgreichsten Nationalteam. Die einzige Profi-Liga, wo sich der Frauenfussball selber finanziert und die Popularität stetig steigt. Wie hätte ich ein solches Jobangebot ablehnen sollen? Das war eine Riesenchance und ich kann hier mehr bewirken», sagt die temperamentvolle Bernerin zu ihrem Karriereschritt.
Enttäuschungen und Chancen
Haennis Karriere verlief aber nicht stets nur nach oben. Mit Enttäuschungen und Niederlagen umzugehen, hat sie als Fussballerin gelernt, aber auch bei ihrem Rausschmiss unter Infantino bei der Fifa als Funktionärin. «Ich dachte damals, die Welt geht unter. Heute bin ich dankbar dafür. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin», so die ehrgeizige Schweizerin.
Ruhiger wird Haenni, wenn sie von ihrem Privatleben und ihrer achtjährigen Beziehung erzählt. Ihre Ehefrau hat sich von ihr getrennt, noch bevor Haenni ihre neue Herausforderung in den USA annahm. «Der Job war nicht der Trennungsgrund. Ich hätte mir gewünscht, dass wir irgendwann zusammen in New York leben», sagt sie. Die Distanz, die neuen Aufgaben und das neue Umfeld, hätten ihr den Trennungsprozess aber erleichtert. Das Alleinsein ohne Familie und Freunde musste Haenni erst einmal lernen. «Anfangs war ich abends allein zu Hause etwas melancholisch. Inzwischen bin ich aber auch gern für mich und koche sogar für mich allein. Kochen war vorher nie mein Ding.»
Kurzbesuche bei den Liebsten
Überhaupt habe sie ihr neues Leben verändert und sie in ihrer persönlichen Entwicklung weitergebracht, findet sie. So besucht sie beispielsweise allein Museen, erkundet die Stadt mit dem Fahrrad oder zu Fuss und ist im Yachtclub vor ihrer Haustüre Mitglied. Neben Segeln hat sie Yoga neu für sich entdeckt und so auch neue Bekanntschaften ausserhalb des Fussballs geschlossen. Tatjana Haenni: «Ich will mich hier integrieren. Beruf und Privatleben trenne ich aber weitgehend.»
Beruflich ist Haenni immer noch oft unterwegs und ihr Terminkalender ist voll. Dennoch sagt sie: «Ich hatte noch nie so viel Zeit für mich. Hier habe ich einen Traumjob und bin glücklich.» In den USA hat sie Termine mit Verbänden oder Sponsoren, baut ihr Netzwerk weiter aus und besucht Liga-Spiele. Aber auch in Europa stehen Spiele auf ihrem Programm, wie das Champions League Finale zwischen Barcelona und Wolfsburg im Juni. Einen kurzen Abstecher in die Schweiz zu Familie und Freunden lässt sie sich dann nicht entgehen.
Zwei Herzen in der Brust
Jetzt ist Haenni mit dem US-Team in Neuseeland, wo am 20. Juli die Frauenfussballweltmeisterschaft startet und wird dort die Gruppenspiele der WM-Titelverteidigerinnen USA verfolgen, bevor sie nach Australien reist, wo am 20. August in Sydney das Finale ausgetragen wird.
«Klar möchte ich mir auch die Gruppenspiele der Schweizerinnen anschauen und verfolge den Schweizer Fussball auch in meiner neuen Heimat weiterhin. Im Herzen bin ich Schweizerin und ich drücke auch der Schweiz die Daumen an der WM.»
Ihre Verbundenheit mit der Schweiz und dem Frauenfussball wird noch deutlicher, als sie abschliessend anfügt: «Falls ich dem Schweizer Frauenfussball, dem SFV oder im Zusammenhang mit der Euro 2025 helfen kann, mache ich das gern und stehe aus der Distanz zur Verfügung.»