In einer relativ ruhigen Seitenstrasse im Kanton Basel-Stadt lebt Markus Christen (65) seit 2007. Zusammen mit seiner Ehefrau wohnt er dort in einer Viereinhalb-Zimmer-Wohnung mit Gartensitzplatz für rund 1400 Franken monatlich. Der inzwischen erwachsene Sohn seiner Ehefrau ist vor einiger Zeit ausgezogen. Die beiden Katzen Zorro und Filis leben mit dem Ehepaar in der Parterre-Wohnung eines Mehrfamilienhauses mit zwölf Wohnparteien in der Nähe des Burgfelderplatzes.
Die Einrichtung ist einfach, und einige der in die Jahre gekommenen Möbel, die vorwiegend aus günstigen Möbelhäusern stammen, sollten ersetzt werden. «Das Schlafsofa im Wohnzimmer ist durchgesessen und lottert – ausziehen lässt es sich schon lange nicht mehr. Aber das muss noch eine Weile halten und reicht für uns», sagt Christen im Gespräch mit BLICK. Auch die Billig-Matratzen des Ehebetts im Schlafzimmer haben ihren Zenit überschritten und müssten durch neue ersetzt werden. Aber auch das muss warten. Für das Ehepaar Christen haben andere Dinge Priorität.
«Das Wichtigste haben wir bei Engpässen immer bezahlt»
Das Paar gehört zu den rund 675'000 Personen in der Schweiz, die gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) von Armut betroffen sind. «Das Wichtigste wie Miete und Krankenkasse haben wir bei allen finanziellen Engpässen immer bezahlt», so Christen.
Finanzielle Engpässe, wie Christen das nennt, gab es in seinem Leben immer wieder: «Mehr als ein Mal kam es vor, dass wir nur mit dem Gehalt meiner Frau von 2700 Franken im Monat durchkommen mussten.» Wer hierzulande mit so wenig Geld über die Runden kommt, muss schon fast ein Lebenskünstler sein – und weniger dringende Rechnungen notgedrungen aufschieben. Da sind durchgelegene Matratzen noch das kleinste Problem.
Kindheit in Heim und Pflegefamilien
Doch wie konnte es so weit kommen? Das Leben von Christen war schon früh mit Brüchen und Lücken durchzogen. Im Alter von einem Jahr kam er aus seiner Familie mit Mangelerscheinungen in ein Kinderheim. Bis 17 lebte er dort. Bei der Schliessung des Kinderheims kam der Jugendliche in eine Pflegefamilie mit vier eigenen Kindern. Christen sagt: «Ich war in der Familie akzeptiert, und sie haben soweit gut zu mir geschaut.»
Christen absolvierte eine Lehre als Schriftsetzer, merkte aber bald, dass der Beruf ihm nicht wirklich entsprach. So machte er die Fahrprüfung, später die Prüfung für Personen- und gewerbliche Transporte und jobbte als Chauffeur. Christen nennt die Phase seiner Gelegenheitsjobs vom Taxifahrer bis zum Lagerististen – mit einigen Lücken dazwischen – seine «jungen Wanderjahre». Seine Wanderjahre in unregelmässigen Tieflohnjobs dauerten mehrere Jahre, und die Lücken in Christens Lebenslauf machten ihn mit zunehmendem Alter nicht zu einem begehrten Stellenbewerber in der Leistungsgesellschaft. Sprich: Unbezahlte Rechnungen stapelten sich und wurden irgendwann zu Schulden. Der soziale Abstieg nahm seinen Lauf.
Ohne Geld wenig Freunde
«Einen vernünftigen Umgang mit Geld hat mir in jungen Jahren niemand beigebracht. Mit 20 war ich auf mich selbst gestellt.» Nach dem Tod seiner leiblichen Eltern erbte er 3000 Franken. «Davon habe ich mir einen Ledermantel gekauft und meinen Freunden etwas ausgegeben», erinnert sich Christen. Schnell war das Geld wieder weg, und damit auch die Freunde. «Wenn man kein Geld hat, zeigt sich, wer deine Freunde sind. Je schlechter es mir ging, desto weniger Freunde hatte ich», sagt Christen.
Glück in der Liebe – Pech im Job
Das grosse Glück des FC-Basel-Fans war, dass er seine Frau durch die gemeinsame Fussballleidenschaft kennen und lieben lernte. 2003 heiratete das Paar: «Ohne meine Frau wäre ich, wie viele andere, auf der Gasse gelandet. Ihr verdanke ich unglaublich viel.»
Die Ehefrau kümmert sich auch um die Finanzen. Christens letzte Stelle als Chauffeur hat er nach einem Unfall 2009 verloren. Bei den Unfallabklärungen stellte man in der Klinik bei Christen Schlafapnoe fest. «Mit dieser Diagnose ist es verantwortungslos, als Fahrer hinter dem Steuer zu sitzen.»
Trotz aller Bemühungen fand Christen keine Arbeit mehr, wurde nach zwei Jahren beim RAV ausgesteuert und landete bei der Sozialhilfe. «Es ist sehr demütigend, wenn man über jeden Franken Rechenschaft ablegen muss.» Es wurde damals der Familie auch nahegelegt, eine billigere und kleinere Wohnung zu suchen. Weil der Sohn noch zu Hause lebte, die Ehefrau immer berufstätig war und auch in Basel günstige Wohnungen rar sind, konnte der Wohnungswechsel verhindert werden. «Unser Zuhause ist uns sehr wichtig. Meiner Frau gelingt es auch immer, mit wenig eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen.»
Reisen können sich Christens nicht leisten. Sie machen zu Hause Ferien. Besonders gern ist Markus Christen dann mit seiner Frau und den Katzen im Garten. Hier kommt er zur Ruhe und fühlt sich geborgen. Auch dank der angenehmen Nachbarschaft.
Selbstvertrauen und neues Beziehungsnetz durch soziale Arbeit
Dass Christens nicht auf Rosen gebettet sind, daraus macht Markus Christen kein Geheimnis. Vor kurzem war er in einer Sendung des Schweizer Fernsehens über Armutsbetroffene zu sehen: «Es bringt nur noch mehr Stress, wenn man versucht, anderen etwas vorzuspielen.»
Seit 2013 ist Christen als sozialer Stadtführer in Basel unterwegs. Durch diesen Nebenverdienst haben die Christens auch den Absprung vom Sozialamt geschafft. Auf seinen Stadt-Touren zeigt Christen eine andere Sicht auf Basel, dort wo Armutsbetroffene und Obdachlose unterwegs sind. «Ich bin der dienstälteste Stadtführer, und dank dieser Arbeit habe ich wieder mehr Selbstvertrauen, verstecke mich nicht mehr und habe mir wieder ein eigenes Beziehungsnetz aufgebaut.»
Neben seiner Arbeit engagiert sich Christen auch politisch für Armutsbetroffene. «Ich kenne viele tragische Lebensgeschichten dieser Menschen und weiss, ich bin privilegiert.» Vor allem dank seines sozialen Umfelds, mit seiner Frau, ihrem grossen Freundeskreis und der Familie seiner Ehefrau. Bei ihnen zählt der Mensch Markus Christen, auch ohne Geld. Er muss sich nicht minderwertig fühlen. «Natürlich schauen wir beim Einkaufen, was gerade Aktion ist, und wenn wir Freunde zu uns einladen, bringen alle etwas mit. Daran stört sich aber niemand.»
Stabilität dank AHV
Seit wenigen Monaten bekommt Christen seine AHV, was etwas mehr finanzielle Stabilität mit sich bringt, vor allem, weil seine Einkünfte als Stadtführer nur unregelmässig sind. Knapp ist das Geld aber noch immer: «Solange alles normal läuft, meine Frau und ich Arbeit haben und gesund bleiben, kommen wir irgendwie über die Runden. Wir haben alles, was wir brauchen.» Die Lebensfreude und den Optimismus hat Christen trotz seines Lebens in Armut nicht verloren.