An der Universität Bern kletterte Tumarkin die Karriereleiter hoch, bis sie kurz vor ihrem 34. Geburtstag zur ausserordentlichen Professorin ernannt wurde. In Bern forschte und lehrte sie, betreute und prüfte Doktor- und Habilitationsarbeiten und entschied als Fakultätsmitglied über die Geschäfte der Universität mit.
Sie war damit die erste Frau weltweit, die an einer Universität, an der sowohl Männer als auch Frauen zugelassen waren, auf normalem Weg eine Professur mit vollen Rechten erhielt.
In die Geschichtsbücher schaffte sie es trotzdem nicht. Tumarkin sei lange Zeit kaum beachtet worden, sagte die Historikerin und Tumarkin-Expertin Franziska Rogger im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Auch unter Philosophinnen und Philosophen sei sie kaum bekannt. Man habe sie negiert oder vergessen, sagte Rogger.
Tumarkin wurde in Dubrowna, damals Teil des Russischen Kaiserreichs, geboren. Ihr Vater war ein wohlhabender orthodox-jüdischer Kaufmann, der seinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen konnte. Als Kind erhielt Tumarkin Privatunterricht, danach besuchte sie ein Mädchengymnasium. Nach dem Abschluss liess sie sich zur Lehrerin ausbilden.
Damit hatte die junge Frau die Bildungsmöglichkeiten im Zarenreich ausgeschöpft. Zum Studium an einer Universität waren Frauen nicht zugelassen. Mit nur 17 Jahren verliess Anna Tumarkin deshalb ihre Heimat, um in der Schweiz zu studieren.
Die Universitäten Zürich, Basel und Bern lassen Frauen schon seit den 1870-er Jahren zum Studium zu. Um sich so jung an der Universität Bern zum Studium einzuschreiben, musste sie dann trotzdem etwas tricksen, wie Rogger sagte. Eigentlich musste man 18 Jahre alt sein, um zum Studium zugelassen zu werden.
Ihr Professor war der bekannte Philosoph Ludwig Stein. Früh sah er das Potenzial der jungen Frau. Er ermunterte sie, zu doktorieren. Im Alter von zwanzig Jahren schaffte sie die Promotion mit der bestmöglichen Bewertung.
Später war es ebenfalls Stein, der sowohl bei Tumarkins Vater als auch bei der Universität dafür lobbyierte, dass Tumarkin in Bern habilitieren konnte und dass ihr der Professorentitel verliehen wurde. So wurde sie 1906 zur Titularprofessorin und 1909 zur ausserordentlichen Professorin.
Dass es gerade Tumarkin war, die zur ersten Professorin wurde, hatte laut Rogger wohl auch etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun. «Sie muss eine wahnsinnig liebenswürdige und bescheidene Frau gewesen sein», sagte Rogger. So habe sie es immer wieder geschafft, dass Leute sich ungefragt für sie einsetzten. Tumarkin sei aber auch ausserordentlich intelligent gewesen. Hervorgehoben worden sei dabei immer ihr «eigenständiges Denken». Sie habe beispielsweise bei Mathematikaufgaben oft einen anderen Lösungsweg gefunden als andere, erklärte Rogger.
Der letzte Schritt der akademischen Karriereleiter, jener zur ordentlichen Professorin mit einem Lehrstuhl, blieb ihr aber verwehrt. Die Berufungskommission hielt in einem im Jahr 1910 verfassten Dokument fest, dass «gegen die Besetzung einer so exponierten Stellung mit einer Dame, die nicht durch aussergewöhnliche Leistungen eine Autorität sich erworben hat, vor welcher Kritik und Opposition verstummen, gewisse Bedenken sich erheben.»
Begeistert war die Philosophin nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von der Schweiz. Mit 43 Jahen liess sie sich einbürgern. Sie habe in der «Freiheit und Weitherzigkeit» der Schweiz eine zweite Heimat gefunden, schrieb sie in ihrem Gesuch.
Ihre Familie wurde unterdessen fast komplett vernichtet, bedroht von zwei Weltkriegen, russischen und nationalsozialistischen Verfolgungen.
Während des Zweiten Weltkrieges stellte sie sich in den Dienst der geistigen Landesverteidigung und setzte sich intensiv mit der Schweizer Philosophie auseinander.
Tumarkin lebte über 30 Jahre lang zusammen mit ihrer Partnerin, der ersten Berner Schulärztin Ida Hoff, an der Hallwylstrasse 44 in Bern. Die zwei Frauen haben laut Rogger eine tiefe menschliche Beziehung zueinander geführt. Dies bis in den Tod - die zwei Frauen teilten sich ein Grab. Anna Tumarkin starb am 7. August 1951.