Sag mir, was du siehst
Was der Blick zum Mond über uns selbst verrät

Seit Jahrtausenden starren wir zum Himmel hoch. Und sehen Dinge im Mond. Was wir sehen, sagt viel über unsere Kultur aus – und darüber, wie unser Hirn funktioniert.
Publiziert: 16.07.2018 um 14:08 Uhr
|
Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:53 Uhr
1/4
Er wendet uns eine Seite zu: Der Mond rotiert in der immer gleichen Geschwindigkeit um die Erde. Jede Kultur sieht im gleichen Mond die unterschiedlichsten Dinge.
Foto: Getty Images/EyeEm
Marina Koren

Der Mensch blickt seit jeher auf die eine Seite des Mondes. Der graue Begleiter unseres Planeten dreht sich mit der gleichen Geschwindigkeit um seine Achse, mit der er die Erde umkreist. Eine kosmische Anordnung, die dafür sorgt, dass uns bis in alle Ewigkeiten dieselbe Seite zugewandt bleibt.

Die Mond-Landschaft ist seit Hunderten Millionen von Jahren weitgehend unverändert geblieben. Wir Menschen jedoch schafften es, uns alle Arten von Mustern in den Kratern vorzustellen, durch die einst geschmolzene Lava floss. Wir machten aus dem Mond eine Leinwand, warfen ­Fabeln und Fantasiebilder auf seine Oberfläche, in dem Versuch, in seiner Mystik irgend­einen ­irdischen Sinn zu erkennen.

Bilder wahrnehmen, an Orten, die es nicht gibt

Während der Menschheitsgeschichte kam so eine Fülle an Interpretationen zusammen. Für einige bildeten die Mondformen die Silhouette eines Hasen. Für andere die Augen und den Mund eines menschlichen Antlitzes. Oder eine Frau und ihr Kind. Oder einen alten Mann mit Feuerholz im Schlepptau, vielleicht mit einem kleinen, kriechenden Hund hinter sich. Die Deutungen stammten aus, grundverschiedenen Gemeinschaften, doch teilen sie alle denselben Ursprung: ­unseren Geist.

Das menschliche Gehirn ist dazu ausgelegt, vertraute Bilder und Muster an Orten wahrzunehmen, wo diese nicht existieren. Dieses psychologische Phänomen ist unter dem Namen Pareidolie bekannt. «Dies geschieht, weil das Gehirn das tut, was es tun soll, nämlich Schlüsse ziehen über Dinge in der Welt, basierend auf sehr begrenzten Informationen», sagt Pawan Sinha, Professor für Computer-Neurowissenschaften am Massachusetts Institute of Technology. «Wenn ich Sie mit einem Abstand von 30 Metern sehen würde, wäre das Abbild Ihres Gesichts auf meiner Netzhaut sehr klein. Aber selbst mit Hilfe dieser wenigen Pixel muss das Gehirn schlussfolgern, wer diese Person sein könnte.»

Ohne diesen Verarbeitungs­mechanismus hätten Menschen grosse Probleme, sich in der Welt zurechtzufinden. Und normalerweise haben wir damit recht, was wir sehen, sagt Sinha. Manchmal jedoch, wenn wir etwa den Mond anschauen – Wolken, Sternbilder oder ein Stück Toast –, erzeugt diese Strategie Trugbilder. «Es ist nur ein Beispiel, in dem wir eine Illusion er­leben und die aus einem Mechanismus entsteht, die uns meistens von grossem Nutzen ist», sagt Pawan Sinha.Zudem verwendet das Gehirn oft automatisch Erlebnisse aus der Vergangenheit, wenn ein neues gedeutet werden soll.

Diesen Effekt nennt man Priming. «Zeigen Sie mir erst das Bild eines Hasen und kurz darauf den Mond, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass meine Sinneswahrnehmung die etwas zweideutige Information vom Mond so interpretiert, dass ich einen Hasen sehe», sagt Pawan Sinha. Wäre einem ein Gesicht vorgesetzt worden, hätte man möglicherweise ein Gesicht gesehen. «Es ist möglich, dass die kulturellen ­Bedingungen, in denen man auf­gewachsen ist, die Rolle des Primings übernehmen.»

Augen, Nase, Mund. Oder doch eine Frau mit Kind?

Wenn wir als Kinder Erzählungen über ein Gesicht, einen Hasen oder einen Pilz auf dem Mond hören, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wir diese Geschichten verinnerlichen und diese Dinge dann sehen, sobald wir in den nächtlichen Himmel schauen.

Obwohl wir alle dasselbe Gesicht auf dem Mond sehen, ändert sich die Perspektive in verschiedenen Teilen der Welt. Der Mond umkreist die Erde nahe dem Äquator, wenn Sie ihn also für gewöhnlich von der nördlichen Halbkugel aus betrachten, dann erscheint Ihnen das Gesicht auf der südlichen Halbkugel verkehrt herum.

In der westlichen Erdhälfte ist die verbreitetste Interpretation ein einfaches, menschliches Gesicht: Augen, Nase, Mund. Im europä­ischen Volkstum ist es teilweise ­sogar eine vollständige Person. Eine deutsche Geschichte etwa erzählt von einem alten Mann, der an einem Sonntag loszog, um Feuerholz zu sammeln. In den Wäldern wurde er von einem ernst blickenden Fremden gegrüsst, welcher überrascht war, den Mann an einem Sonntag, dem Tag der Ruhe, arbeiten zu sehen. Der Fremde beschloss, an dem Mann ein ­Exempel zu statuieren, und schickte ihn auf den Mond, wo seine Silhouette als Mahnmal dienen sollte, die Heiligkeit des Sonntags nie zu vergessen.

In einer samoanischen Erzählung ist die Figur eine Frau mit dem Namen Sina. Sie und ihr Kind litten an einer Hungersnot. Als sie den Mond über den Obstbäumen aufgehen sah, entschied sie sich, den Himmelskörper zu fragen, ob er ­ihnen ein paar Früchte geben würde. Der Mond, so die Geschichte, wurde wütend und fegte die Frau, und ihr Kind auf seine Oberfläche.

In vielen Kulturen, vor allem in Asien, weist die Mondoberfläche die Form eines Hasen auf. Nach chinesischen Überlieferungen trank Chang’e, die Göttin des Mondes, ein für sie und ihren Mann bestimmtes Elixier. Der Zaubertrank beförderte sie zusammen mit ihrem Hasen Yutu für immer auf den Mond, während ihr Gatte zurückblieb. Die Legende lebt als Namensvetterin des chinesischen Raumfahrtprogramms zur Erforschung des Mondes weiter. Im Jahr 2013 schoss das Land ein Mondlandefahrzeug namens Chang’e 3 mit ­einem Fahrzeug namens Yutu an Bord auf den Mond.

Wir können im Mond sehen, was wir uns zu sehen wünschen

In Japan entstammt der Hase einer anderen Erzählung: Ein alter Mann auf der Suche nach Essen näherte sich einem Affen, einem Fuchs und einem Hasen in einem Wald. Der Affe brachte ihm etwas Obst, und der Fuchs fing ihm einen Fisch. Der Hase, der ausser Gras nichts herbeizubringen imstande war, beschloss, sich selbst zu opfern, und wollte gerade ins Feuer springen.

Der Mann hielt ihn auf und gewährte dem Hasen für dessen Güte ­Unsterblichkeit auf der Oberfläche des Mondes. In einer Geschichte des Stammes der Cree, einer der grössten Gruppen indianischer ­Ureinwohner in Nordamerika, flog ein Hase auf dem Rücken eines ­Kranichs auf den Mond.

Diese Sammlung ist keineswegs vollständig, die menschliche Vorstellungskraft lässt den Mond auch als Pilz, Handabdrücke oder eine Grossmutter in einem Schaukelstuhl erscheinen. Die Liste geht weiter.

Ganz egal, was wir auf dem Mond sehen, vielleicht sollten wir uns einen Augenblick Zeit nehmen, um die Tatsache auszukosten, dass wir ihn mit dem blossen Auge sehen können. Der Mond ist eine andere Welt – mit seinen eigenen Bergen und Flussbecken, seinen kleinen Gebieten mit gefrorenem Wasser oder auch nur dem winzigsten Teil einer Atmosphäre – und wir können ihn Nacht für Nacht anschauen, ohne dafür ein leistungsstarkes Teleskop zu benötigen. Wir können die traumhafte Aussicht ­geniessen und in ihm sehen, was wir uns zu sehen wünschen. 

© 2018 The Atlantic Media Co., Erstveröffentlichung im Magazin «The Atlantic»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?