Auf allen Vieren kriecht Florian Hof in einen Spalt in der Felswand, dann ist er von der Erdoberfläche verschwunden. Der Höhlenforscher befindet sich an der Grenze zur Unterwelt. Als er die Lampe an seinem Helm anknipst, sehen wir den langen, natürlichen Gang, der ins Innere des Berges führt. Hier wollen Hof und seine Kollegen von der Schweizerischen Gesellschaft für Höhlenforschung heute das Innere des Hohgant-Massivs im Berner Oberland erkunden und untersuchen, ob es aus der Höhle einen weiteren Ausgang gibt.
Das Höhlensystem namens G3 haben die Forscher erst vor zwei Jahren entdeckt, mittlerweile sind Gänge in der Gesamtlänge von 939 Metern vermessen. Damit ist die Höhle die weitläufigste in diesem Berg. Doch immer noch gibt es hier Winkel, in die kein Mensch je einen Fuss gesetzt hat. «An der Oberfläche kennt man in der Schweiz jeden Stein», sagt Hof, «aber unter unseren Füssen ist vieles noch völlig unbekannt.» Rund 10'000 Höhlen haben Forschende in der Schweiz schon entdeckt – von kleinen Grotten bis zu riesigen Systemen mit Gängen, die hunderte Kilometer lang sind. Und es bleibt nach wie vor vieles zu erkunden: Jedes Jahr finden Hof und seine Kollegen in der Schweiz bis zu 100 neue Höhlen.
Die Erkundungen betreibt Hof als Hobby in seiner Freizeit, hauptberuflich ist der 35-Jährige Software-Entwickler. Ihn treibt der Entdeckergeist an: «Es ist faszinierend, den weiteren Höhlenverlauf als Erster zu finden, da er oft versteckt ist.» Doch Freizeit-Forscher wie Hof und seine Kollegen sind nicht einfach Adrenalin-Junkies auf der Suche nach Neuem. Sie haben einen hohen wissenschaftlichen Anspruch an ihr Hobby und arbeiten mit vollberuflichen Wissenschaftlern zusammen, etwa dem Paläoklimatologen Marc Lütscher vom Schweizerischen Institut für Speläologie und Karstforschung (SISKA). Er ist oft mit Hof gemeinsam unterwegs, der ihn auf den Expeditionen im Untergrund unterstützt. Zusammen veröffentlichen die beiden wissenschaftliche Publikationen und präsentieren die Ergebnisse auf Konferenzen, so etwa nächsten Sommer in Interlaken. «Ohne die Hilfe von Hof und anderen Höhlenentdeckern könnte ich meine Forschung nicht betreiben», sagt Lütscher. Er klettert im Schnitt alle zwei Wochen in den Untergrund. Dort installiert er Thermometer, sammelt Tropfwasser oder untersucht unterirdische Fliesswege, indem er dem Wasser Farbstoff beimischt. Lütschers Ziel ist es, das Klima längst vergangener Zeiten anhand von Ablagerungen in den Höhlen zu erforschen. Denn diese sind ein einzigartiges Archiv, das die Umweltbedingungen seit Hunderttausenden von Jahren speichert. So können Gletscher, die seit den Eiszeiten Täler vertieft und Ablagerungen abgeschabt haben, den Stollen tief im Erdinnern ebenso wenig anhaben wie reissende Flüsse.
Abgelagerte Zeit
Aus Proben von Stalagmiten kann Lütscher im Labor auf wenige Jahre genau Rückschlüsse auf das Klima im Zeitalter der Eiszeiten ziehen, zum Beispiel woher der Niederschlag kam oder wie warm es war. Auch uralte Pollenüberreste bleiben erhalten. Sie erzählen, welche Pflanzen einst auf der Oberfläche wuchsen. «In einem einzigen Stalagmiten sind so viele Informationen enthalten, dass er mich im Labor ein halbes Jahr beschäftigt», sagt Lütscher. So hat er beispielsweise herausgefunden, dass vor etwa 25'000 Jahren Stürme südlicher als heute über den Atlantik zogen und die Niederschläge aus dem Süden auf die Alpen trafen.
Die Rekonstruktion des früheren Klimas hilft, die aktuellen Klimamodelle für Zukunftsprognosen zu eichen. Denn Wissenschaftler lassen die Modelle auch rückwärts laufen und überprüfen dann, ob die Aussagen des Modells mit den tatsächlichen Messungen aus dem Höhlenarchiv übereinstimmen. «Wenn das Modell die Vergangenheit schlecht abbildet, dann sind vermutlich auch dessen Prognosen ungenau», sagt Lütscher.
Kein Platz für Platzangst
Viele der Höhlen sind so schmal, dass ein Mensch gerade noch hindurchrobben kann. Vor Jahrtausenden hat saures Wasser das Kalkgestein aufgelöst und die Hohlräume geschaffen. So auch den Gang, durch den Hof gerade kriecht. Plötzlich weitet sich der Gang, ein Schlund öffnet sich und der Blick geht in die dunkle Tiefe. An einem Seil, das die Forscher auf einer früheren Expedition installiert haben, seilen wir uns ab. Weiter geht es mal auf dem Bauch robbend, mal kriechend über den lehmigen Boden. Selten ist die Höhle so hoch, dass ein Mensch aufrecht stehen kann. Hofs gelber Overall ist schon nach kurzer Zeit mit Lehm besudelt, die zähe Masse verklebt Karabiner und Seilzeug.
Zwar ist es in der Höhle bloss etwa drei Grad warm, doch das Vorwärtskommen ist so anstrengend, dass die Kälte die Glieder nicht erreicht. Das Zeitgefühl geht in der Dunkelheit verloren. Erst der Blick auf die Uhr zeigt, dass zwei Stunden vergangen sind – und wir haben gerade mal 500 Meter zurückgelegt, als wir eine Grotte von der Grösse einer Kapelle erreichen. Hier ist Hofs Ziel, er schaut den Schacht hoch und meint: «Wenn wir Glück haben, sehen wir gleich das Sonnenlicht und der mühsame Weg zurück bleibt uns erspart.» Er hängt Bohrmaschine, Haken und Seil an seinen Klettergurt, steigt alleine den Schlot hoch und verschwindet in einem kleinen Seitengang – den vor ihm noch nie ein Mensch betreten hat.
Geheimnisse der Höhle
Nach rund einer Stunde taucht Hof wieder auf. «Hier geht es nicht weiter», ruft er. Den erhofften Ausgang hat er nicht gefunden. Er bohrt ein Loch in den Fels, um einen Haken für das Seil zu montieren und seilt sich ab. Für heute ist das Tagesprogramm abgeschlossen, wir kriechen zurück zum Ausgang. Als wir diesen nach weiteren zwei Stunden erreichen, ist es draussen schon ebenso dunkel wie im Höhlensystem. Für Hof nichts Spezielles: «Das ist meistens so, Expeditionen in den Untergrund dauern lange», sagt er.
Draussen treffen wir auf zwei Höhlenforscher, die einen benachbarten Teil der Höhle untersucht hatten. Aufgeregt erzählen sie von ihren Entdeckungen. Hinter einer kaum passierbaren Engstelle haben sie einen etwa 60 Meter tiefen, vertikalen Schacht aufgespürt. Dessen Boden erreichten sie heute aber nicht, weil sie zu wenig Seile dabei hatten. Bei der nächsten Exkursion werden die Forscher diesen Teil dann exakt vermessen. Dazu benutzen sie Kompasse, Neigungsmesser und Laser-Distanzmessgeräte und erstellen so dreidimensionale Landkarten des Untergrunds. So werden sie auch erkennen, wie weit der neu entdeckte Schacht tatsächlich unter die Oberfläche führt – und ob es dort eventuell weiter geht. Noch birgt die Höhle G3 also viele Geheimnisse.
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