Tränenforscher Ad Vingerhoets
«Wenn wir weinen, signalisieren wir: ‹Ich bin ein guter Mensch›»

Tränen sind die einzige Körperflüssigkeit eines Fremden, die keinen Ekel auslöst. Sie seien nicht nur ein Symptom der Traurigkeit, sondern der soziale Klebstoff, der uns zusammenhalte, sagt der Psychologe Ad Vingerhoets.
Publiziert: 18.12.2019 um 11:36 Uhr
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«Tränen sind mehr als ein Symptom – sie sind sozialer Klebstoff», meint Psychologe Ad Vingerhoets.
Foto: Unsplash
Cornelia Eisenach @higgsmag

Eine Stierkampf-Szene sorgte letzten Sommer in Spanien für Aufruhr: Der Matador hatte einem Stier eine Träne abgewischt, kurz bevor er ihm den Todesstoss versetzte. Hat dieser Stier tatsächlich geweint?
Solche Anekdoten höre ich immer wieder. Es gibt auch Videos von weinenden Elefanten. Und mehr als einmal habe ich gehört, dass Schafe Tränen vergiessen, wenn sie geschlachtet werden. Aber das sind alles Beispiele, bei denen man nicht ausschliessen kann, dass die Tiere eine Augeninfektion oder einen anderen Grund zum Weinen haben. Menschen, die beruflich mit Tieren arbeiten, wurden dazu befragt. Keiner von ihnen hat jemals emotionale Tränen bei den Tieren gesehen. Wir gehen davon aus, dass nur Menschen emotionale Tränen vergiessen.

Was meinen Sie mit emotionalen Tränen?
Das sind Tränen, die nicht durch einen Reflex, etwa beim Schälen einer Zwiebel oder durch einen Staubpartikel ausgelöst werden, sondern eben durch Emotionen.

Worüber weint denn der Mensch?
Anfangs weinen wir aus Frustration, wegen einer Trennung oder bei körperlichen Schmerzen. Das Weinen wegen Schmerzen nimmt bei Erwachsenen im Laufe des Lebens stark ab. Gleichzeitig werden andere Gründe wichtiger: Wir weinen aus Empathie, Sympathie und aus Rührung.

Wozu sind solche Tränen denn gut?
Tränen werden oft nur als ein Symptom der Traurigkeit betrachtet. So wie schweissnasse Hände und zitternde Knie ein Symptom von Angst sind. Aber ich bin der Auffassung, dass Tränen mehr sind als ein Symptom. Sie sind ein Sozialverhalten an sich und dienen als sozialer Klebstoff. Früher kamen die Menschen im Katastrophenfall zusammen, beteten, sangen – oder weinten zusammen. Auch heute machen wir das, etwa nach einem Terroranschlag. Emotionale Tränen können wir zwar nicht steuern, aber sie signalisieren dem anderen unbewusst ‹ich brauche dich›, und sie helfen somit, Menschen miteinander zu verbinden. Ohne emotionale Tränen wären wir nicht die sozialen und empathischen Wesen, die wir sind.

Weshalb haben sich emotionale Tränen bei der menschlichen Evolution durchgesetzt?
Meine Hypothese ist, dass emotionale Tränen entstanden, weil der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Tieren eine sehr lange Kindheit hat. Anfangs zeigen Säuglinge ein tränenloses Stimmgeschrei, wenn sie den Kontakt zur Mutter verlieren. Das ist zwar effizient, um auch bei dichter Vegetation und in der Dunkelheit die Mutter zurückzubringen. Aber das Problem ist: Die Mutter ist nicht die einzige, die dieses Weinen hört. Es kann auch andere Menschen mit bösen Absichten oder Raubtiere alarmieren. Ab dem Moment, wo das Kind mobil ist, braucht es kein akustisches Signal mehr. Es ist daher gut, ein rein visuelles Tränensignal zu haben, das gezielt auf eine bestimmte Person ausgerichtet werden kann, ohne die gesamte Umgebung zu alarmieren. Ein Kind kann so sein Bedürfnis nach Liebe und Schutz mit stillen Tränen mitteilen.

Aber diese ‹Ich brauche dich›-Theorie erklärt nicht, wieso wir weinen, wenn wir beispielsweise einen rührseligen Hollywood-Film schauen.
Bei diesen positiven Tränen ist es nicht so offensichtlich, aber auch sie haben eine Funktion. In solchen Filmen oder auch in schnulziger Musik geht es häufig um ganz bestimmte Themen: etwa Aufopferung, Wiedervereinigung, Kameradschaft. Es handelt sich meist um tugendhafte, gesellschaftlich wichtige Situationen. Ich nenne Tränen, die man in solchen Momenten vergiesst, moralische Tränen. Wenn wir in solchen Situationen weinen, signalisieren wir anderen: ‹Ich bin ein guter Mensch. Ich messe diesen Themen einen hohen Wert bei. Mit mir kann man zusammenarbeiten, ich bin ein vertrauensvoll und ehrlich›.

Trotzdem gibt es auch ehrliche und vertrauensvolle Menschen, die nicht bei Filmen weinen. Warum reagieren wir so unterschiedlich?
Menschen haben eine unterschiedlich hohe Weinschwelle. Die ist weitgehend genetisch bedingt. Das haben wir bei Studien mit Zwillingspaaren herausgefunden. Eineiige Zwillinge, die exakt dieselben Erbanlagen tragen, hatten eine ähnliche hohe Weinschwelle. Zweieiige Zwillinge, die unterschiedliches Erbgut tragen, unterschieden sich auch stärker in ihrer Neigung zum Weinen.

Ist diese Neigung bei Männern und Frauen auch unterschiedlich ausgeprägt?
Es gibt Beweise, dass die Weinschwelle durch das männliche Geschlechtshormon Testosteron erhöht wird. Dass Frauen generell mehr weinen als Männer, haben alle Studien zum Thema gezeigt. Dabei ist der Unterschied zwischen Mann und Frau gering, wenn es um Verlust, Trennung oder Heimweh geht. Aber Frauen weinen deutlich mehr als Männer, wenn sie eine machtlose Wut erleben oder generell in Konfliktsituationen. Das soziale Lernen beeinflusst das Weinen natürlich auch.

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Welche Rolle spielt die Kultur?
Wir haben das Weinen in unterschiedlichen Ländern untersucht. Unsere Erwartung war, dass in den südlichen Ländern die Menschen häufiger weinen würden als in den nördlichen Ländern. Aber wir fanden genau das Gegenteil. Es gab einen stark negativen Zusammenhang zwischen Weinen und Umgebungstemperatur: In den skandinavischen Ländern weinen die Menschen mehr.

Haben Sie eine Vermutung, woran das liegt?
Unsere Lieblingszeit zum Weinen ist zwischen 18 und 23 Uhr. In skandinavischen Ländern ist man um diese Zeit meist zu Hause, mit Familie oder Partnern. Vor diesen Menschen traut man sich eher zu weinen. In wärmeren Ländern hingegen leben die Menschen bis spät nachts auf der Strasse, essen sehr spät und interagieren mit anderen, vor denen sie nicht weinen wollen. So ist es weniger wahrscheinlich ist, dass die Menschen weinen.

Gibt es auch Menschen, die gar nicht weinen?
Ja, solche, die an einer schweren Depression leiden oder eine traumatische Erfahrung gemacht haben. Ich wurde einmal von einer Frau kontaktiert, die sagte, dass sie in den letzten 22 Jahren nie geweint habe. Damals hatte sie eine Stillgeburt erlebt. Sie hatte ein emotionales Trauma.

Haben Tränen tatsächlich eine heilende oder kathartische Wirkung?
Ob man sich nach dem Weinen besser fühlt, hängt von drei Faktoren ab. Menschen, die depressiv sind oder ein Burnout haben, fühlen sich nach dem Weinen nicht besser. Und es hängt davon ab, ob wir die Situation kontrollieren können: Weinen beim Film, bringt mehr Besserung als beim Tod eines geliebten Menschen – einer Situation, die wir nicht kontrollieren können. Einer der wichtigsten Faktoren ist jedoch die Reaktion anderer: Wenn sie mit Verständnis und Komfort reagieren, dann geht es uns nach dem Weinen besser.

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