Im Schulungsraum in Herisau ist es laut wie in einem Zugabteil, in dem sich eine Gruppe Wandervögel eingenistet hat. Mit dem grossen Unterschied, dass weniger gescherzt wird. Eigentlich gar nicht. Die Stimmung schwankt zwischen Euphorie und Panik.
Es ist neun Uhr morgens. Elf Seniorinnen und zwei Senioren haben sich für einen zweistündigen SBB-App-Kurs zusammengefunden, den die Schweizerischen Bundesbahnen in Zusammenarbeit mit Pro Senectute organisieren. Es ist eines von Aberhunderten Angeboten für eine Altersgruppe, die alles dafür tut, um den Anschluss an die Digitalisierung nicht zu verpassen. Auch wenn es manchmal nicht so richtig will.
Fast alle Kursteilnehmer stammen aus dem ländlichen Appenzell und sind erst spät im Leben mit Computer, Internet und Co. in Kontakt gekommen. Die jüngsten Anwesenden sind rund 60, der älteste 86 Jahre alt. Sie wollen up to date sein. Wobei wollen ... sie müssen! Nur am Smartphone können sie von den Sparpreisen für die Billette profitieren. Bahnschalter gibt es immer weniger, und wie lange noch Ticketautomaten neben den Gleisen stehen werden, ist ungewiss.
Die Vorteile des Tötsch-Fahrplans
Die beiden Kursleiter, Hanspeter Rüegg (66) und Walter Schwendener (75) – beides ehemalige SBB-Mitarbeiter – erklären heute, wie man auf dem Smartphone oder dem Tablet Verbindungen heraussucht und Tickets kauft. Die Teilnehmer haben ihre Geräte mitgebracht. Rüegg führt die einzelnen Schritte an seinem Smartphone vor, ein Beamer projiziert den kleinen Bildschirm gross an die Wand.
Er macht auf die Vorteile des Touch- respektive «Tötsch»-Fahrplans aufmerksam. Dann zeigt er, wie ein Zugpassagier am schnellsten von Herisau nach Domodossola gelangt. Via St. Gallen nämlich. Rüegg: «Achtung! Die Schreibweise ‹Sankt Gallen› funktioniert nicht, man muss St. Gallen ‹inedöggele›!»
«Ich habe das ‹via› nicht», ruft eine besorgte Frau von hinten. Ihre Tischnachbarin ist begeistert davon, dass ein Druck auf ein geschlängeltes Pfeilsymbol genügt, um Start und Zielort miteinander zu vertauschen. «Das ist ja gäbig!», sagt sie. Einmal klingelt ein Telefon einer Teilnehmerin in voller Lautstärke, worauf alle blitzartig verstummen. «Uiuiui», sagt jemand vorwurfsvoll.
Wenn die Gesichtserkennung das Smartphone blockiert
Nach zwei Stunden sitzen die beiden Instruktoren geschafft hinter einer Stange Bier in einer Herisauer Beiz. Die meisten Kursteilnehmer hätten noch einiges an Arbeit vor sich, bis sie die App beherrschen würden, sagt Hanspeter Rüegg. «Üben, üben, üben ist das Wichtigste!» Walter Schwendener erzählt, dass schon Leute mit Klapp-Handys zum Kurs gekommen seien oder mit Smartphones, die sie erst zwei Stunden vorher gekauft hätten.
Das häufigste Problem sei jedoch, dass viele Senioren das Passwort nicht kennen würden, um die SBB-App auf den neusten Stand zu bringen oder überhaupt erst herunterzuladen. Viele iPhone-Besitzer hätten noch nie etwas von einer Apple-ID gehört, sagt Schwendener. «Heute hatte eine Frau die Gesichtserkennung aktiviert ohne es zu wissen. Ihr Gerät liess sich aber nicht entsperren. Sie konnte dem Kurs nur zuhören.»
Es sei ärgerlich, sagt Rüegg, dass die Söhne und Töchter ihren betagten Eltern die Geräte einrichten und sie danach damit alleine lassen. «Das hat mir der Junior gemacht», heisst es dann oft.
Schuld ist eine höhere Macht
Laut einer aktuellen Studie der russischen Softwarefirma Kaspersky haben 48 Prozent der über 55-jährigen Schweizer ohne den Support ihrer Kinder mit den technologischen Herausforderungen des Alltags zu kämpfen. Befragt wurden 11'000 Menschen aus 13 Ländern. 500 davon in der Schweiz.
Jüngere Generationen kennen diese verstörenden Fragen: «Wie komme ich ins W-Land?» Oder: «Ich habe das Internet gelöscht. Kannst du es mir wieder herstellen?» Schuld ist in solchen Situationen oft eine höhere Macht. «Alles ist weg, ich hab nichts gemacht!» Angst kriegen Töchter und Söhne, wenn ihre Mütter wissen wollen, wie sie Geld an einen nigerianischen Prinzen überweisen können, damit der Herr wieder auf sein Vermögen zugreifen kann.
Zum Glück gibt es auch die positive Seite der Kaspersky-Studie: Mehr als die Hälfte der Schweizer Senioren kommt in Sachen Technik gut ohne ihren Nachwuchs klar.
Die Millennials geben kein gutes Bild ab
Bittersüss sind die Zahlen der Studie in Hinblick auf diejenigen, die am häufigsten um Unterstützung bei Computer- und Internet-Angelegenheiten gebeten werden: die sogenannten Millennials. Sie sind zwischen 25 und 34 Jahre alt – je nach Definition. Unstatistisch formuliert: Ein nicht unbeachtlicher Teil von ihnen ist offenbar ziemlich frustriert ab den «Kannst du mal schnell ...»-Fragen ihrer Eltern.
31 Prozent der befragten Schweizer Millennials gaben sogar an, Familienmitglieder zu meiden, die ihrer Auffassung nach um technische Hilfe bitten könnten. Bei der Altersgruppe über den Millennials, den 35- bis 44-Jährigen, ist es rund ein Viertel, der lieber auf Kontakt verzichtet, als wieder einmal ein Modem neu aufzusetzen.
Kein Wunder haben 7 Prozent der Schweizer, die bei der Umfrage mitgemacht haben und die über 55 Jahre alt sind, ihren Nachwuchs schon mit Kinderhüten oder anderen Dingen bestochen, damit er sich endlich ihrer digitalen Probleme annimmt.
Sie sei fast jede Woche bei ihren Eltern und erkläre ihnen vom Gebrauch des Druckers bis hin zum Abspeichern von Fotos in der Cloud fast alles, was im Haushalt technisch sei, schreibt eine HR-Managerin aus Basel. Sie ist einem Onlineaufruf von SonntagsBlick zum Thema «Computer-Support in der Familie» gefolgt. «Es hat auch Positives. Während meinen Stunden an den Geräten gibt es à discrétion Cocktails, Wein und Snacks – und alles kommt ungefragt und in grossen Mengen an meinen Tisch.»
Mehr als anonym darüber Auskunft geben, will sie nicht. Das Thema ist hypersensibel. Wer möchte schon, dass seine Eltern mitkriegen, wie man sich über sie beschwert.
Zum Glück gibt es die Grosskinder!
So genervt die Erwachsenen von ihren betagten Eltern sind, so geduldig sind die Enkel. Angebote, bei denen Teenager Senioren an die Hand nehmen und durch «die Computerwelt» führen, boomen.
Eines von ihnen hat das Berner Generationenhaus im Programm. Einmal monatlich können sich Menschen, die mit ihren Apps und Einstellungen kämpfen, in einem stattlichen Gebäude gleich neben dem Bahnhofplatz von Schülern helfen lassen. Mit dem Geld, das in der Kollekte landet, bessert der 13-Jährige, der sich von uns über die Schulter blicken lässt, sein Sackgeld auf.
Er ist wahnsinnig schüchtern, möchte seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Es mache ihm Spass zu helfen, so viel ist aus Andi, wie wir ihn hier nennen, herauszukriegen. Nur mit Voicemail-Einstellungen kenne er sich nicht aus. Jemandem etwas «aufs Band» zu reden – etwas Altmodischeres können sich Angehörige seiner Altersgruppe nicht vorstellen.
Eine jugendlich wirkende 72-Jährige nimmt heute seine Expertise in Anspruch: Marianne Stauffer. Laut der repräsentativen Schweizer Age-Wohnerhebung von 2019 gehört sie zu einer Altersgruppe, von der 64 Prozent das Internet regelmässig nutzen. «Ich gehe nur an den Laptop, wenn ich wirklich etwas zu tun habe», sagt sie. «Sonst ist mir die Zeit dafür zu schade.»
Dumme Fragen gibt es für Andi nicht
In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Internetnutzung in allen Altersgruppen massiv erhöht, sinkt aber mit den Lebensjahren. Erwartungsgemäss ist sie bei Schweizern, die erst spät mit der Digitalisierung in Kontakt kamen, am niedrigsten. Nur rund ein Viertel der über 80-Jährigen gehen noch online.
Marianne Stauffer fährt regelmässig nach Malta in die Ferien – alleine. Da will sie ein Reserve-Smartphone dabei haben, das es heute einzurichten gilt. Dafür bräuchte sie ihren Laptop, den sie nicht dabei hat.
«Kein Problem», sagt Andi, und schreibt aus dem Gedächtnis Schritt für Schritt auf, wie seine Klientin zu Hause vorgehen muss. «Links oben erscheint dann ein kleines Zeichen in Form eines Telefons, auf das Sie klicken müssen», sagt er zu einem der Schritte und zeichnet das Symbol auf den Block, der vor ihm liegt. «Bitte schreiben Sie noch hin, dass ich das anklicken muss», sagt Stauffer.
Dumme Fragen scheint es für eine Generation, für die sich das Vergeben von Likes so normal anfühlt wie das Binden von Sneakers, nicht zu geben. Für diese sogenannten Social-Media-Natives sind soziale Medien wie ein unendlicher Spielplatz, durch den sie sich intuitiv bewegen. Logisch fühlen sich Senioren, die oft genauso darüber staunen, was in dieser Welt alles möglich ist, von Teenagern abgeholt.
Den Teenagern wird Lohndumping vorgeworfen
Viele Schulen haben das erkannt und vermitteln im Rahmen von Sozialkompetenzprojekten hilfsbereite Jugendliche an hilfsbedürftige Senioren. Anlässlich eines Zeitungsberichts über das Gymnasium Münchenstein, das eines dieser Projekte realisierte, meldeten sich laut Rektorat nicht nur unzählige Baselbieter, die profitieren wollten, sondern auch Vertreter von Firmen für Computer-Support.
Sie beschwerten sich, dass die Schüler mit ihrem Stundensatz von 20 Franken den Marktwettbewerb verzerren würden, worauf die Schule das Projekt bei den Behörden schriftlich rechtfertigen musste. Es gehe, sagt man beim Rektorat, um sehr einfache Probleme, die am Computer gelöst werden müssten, der Lohn sei vergleichbar mit einem Sackgeld fürs Rasenmähen. Arbeit werde damit niemandem weggenommen. «Für welchen Informatiker lohnt es sich schon, auf Hausbesuch zu kommen, weil bei jemandem ein Icon vom Desktop verschwunden ist?»
Marianne Stauffer, die sich von Andi beraten liess, kam mit 55 zum ersten Mal in Kontakt mit einem Computer. Bei der Stadt Bern musste sie damals damit die Sitzungszimmer fürs Kantonsparlament koordinieren. «Da kommt man an seine Grenzen.» Erwachsene würden immer alles viel zu schnell erklären, sagt sie, und seien schnell genervt. Andi sei so herzig. «Alles, was ich fragen wollte, habe ich mich zu fragen getraut.»
François Höpflinger (71) ist emeritierter Soziologieprofessor an der Universität Zürich und forscht seit Jahrzehnten zu den Themen Alter und Generationen.
Herr Höpflinger, wie gross ist der Graben zwischen Jung und Alt, wenn es um den Umgang mit der Digitalisierung geht?
Der sogenannte Digital Divide nimmt ab. Die meisten Schweizer Senioren bis 80 Jahre haben heute Internetzugang über den Computer oder das Smartphone. Wie oft sie ihn brauchen, hängt stark von familiären Beziehungen ab.
Was heisst das?
Senioren, die Kinder haben, benutzen zum Beispiel Whatsapp oder Skype öfters als andere. Vor allem, um mit den Kindern ihrer Kinder in Kontakt zu bleiben.
Ist das bei Ihnen auch so?
Tatsächlich haben mir meine Enkelkinder Whatsapp installiert.
Digitale Kommunikationskanäle bringen Grosseltern und Enkel zusammen. Warum ist das bei Eltern und ihren Kindern anders?
Senioren erwarten von ihren erwachsenen Kindern oft, dass sie Beziehungen persönlich pflegen. Zum Beispiel, indem sie auf Besuch kommen oder zumindest anrufen. Bei den Enkelkindern, die in der Schule oft sehr eingebunden sind, sind sie kulanter.
Als Generationenforscher brauchen Sie den Begriff des gestrandeten Zeitreisenden. Wen meinen Sie damit?
Menschen, die sich nicht an neue Entwicklungen anpassen können oder wollen und sich plötzlich in einer Welt wiederfinden, die sie nicht mehr verstehen.
Muss man die Welt immer verstehen?
Wenn der Postschalter im Dorf schliesst oder im Wohnblock, in dem jemand seit Jahrzehnten wohnt, Familien mit Migrationshintergrund einziehen, ist es von Vorteil, wenn man damit umgehen kann. In einer Gesellschaft, die sich rasch wandelt, verbessert das die eigene Situation.
Wie oft kommen Sie bei Ihrer Forschung in Kontakt mit Menschen, die daran scheitern?
Immer seltener. Von den Schweizern, die jetzt ins Rentenalter kommen, hatten die meisten beruflich mit Computern und Mobiltelefonen zu tun. Kürzlich sprach ich mit einer 90-jährigen Frau aus Ilanz. Sie sagte: «Ich gehe nur ins Pflegeheim, wenn es dort WLAN hat.»
François Höpflinger (71) ist emeritierter Soziologieprofessor an der Universität Zürich und forscht seit Jahrzehnten zu den Themen Alter und Generationen.
Herr Höpflinger, wie gross ist der Graben zwischen Jung und Alt, wenn es um den Umgang mit der Digitalisierung geht?
Der sogenannte Digital Divide nimmt ab. Die meisten Schweizer Senioren bis 80 Jahre haben heute Internetzugang über den Computer oder das Smartphone. Wie oft sie ihn brauchen, hängt stark von familiären Beziehungen ab.
Was heisst das?
Senioren, die Kinder haben, benutzen zum Beispiel Whatsapp oder Skype öfters als andere. Vor allem, um mit den Kindern ihrer Kinder in Kontakt zu bleiben.
Ist das bei Ihnen auch so?
Tatsächlich haben mir meine Enkelkinder Whatsapp installiert.
Digitale Kommunikationskanäle bringen Grosseltern und Enkel zusammen. Warum ist das bei Eltern und ihren Kindern anders?
Senioren erwarten von ihren erwachsenen Kindern oft, dass sie Beziehungen persönlich pflegen. Zum Beispiel, indem sie auf Besuch kommen oder zumindest anrufen. Bei den Enkelkindern, die in der Schule oft sehr eingebunden sind, sind sie kulanter.
Als Generationenforscher brauchen Sie den Begriff des gestrandeten Zeitreisenden. Wen meinen Sie damit?
Menschen, die sich nicht an neue Entwicklungen anpassen können oder wollen und sich plötzlich in einer Welt wiederfinden, die sie nicht mehr verstehen.
Muss man die Welt immer verstehen?
Wenn der Postschalter im Dorf schliesst oder im Wohnblock, in dem jemand seit Jahrzehnten wohnt, Familien mit Migrationshintergrund einziehen, ist es von Vorteil, wenn man damit umgehen kann. In einer Gesellschaft, die sich rasch wandelt, verbessert das die eigene Situation.
Wie oft kommen Sie bei Ihrer Forschung in Kontakt mit Menschen, die daran scheitern?
Immer seltener. Von den Schweizern, die jetzt ins Rentenalter kommen, hatten die meisten beruflich mit Computern und Mobiltelefonen zu tun. Kürzlich sprach ich mit einer 90-jährigen Frau aus Ilanz. Sie sagte: «Ich gehe nur ins Pflegeheim, wenn es dort WLAN hat.»