Ich tausche mich nicht nur online mit Ihnen aus, ich kann generell nicht mehr offline. Ich arbeite, lädele, banke digital. Ich bestelle von der Erdbeere bis zum Edelschuh, alles über den Smartphone-Bildschirm. Klingel-Pieps-Vibration: Benachrichtigungen bis der Nacken steift, der Daumen brennt. Mal ehrlich: ist ein Mensch ohne Handy überhaupt noch ein Mensch heutzutage? Ich steh zu meiner rastlosen Nichtsverpasser-Mentalität und will herausfinden, warum sich die grossen Tech-Konzerne plötzlich um mein digitales Wohlbefinden sorgen und mich dazu bringen wollen, mein Handy weniger zu nutzen.
Google will uns digital heilen
Jetzt kommen nämlich die digitalen Wellness-Apps. Google hat das diesen Monat gross angekündigt. Sie wollen uns digital heilen, Mach-mal-Pause-Benachrichtigungen schicken und zeigen, wie viel Zeit wir eigentlich online vertrödeln. Jeder erhält dann täglich auf die Minute genau eine Übersichtsseite. Sie zeigt, wie und wo und wie lange wir überhaupt am Smartphone rumstreicheln. Eben wie ein Fitnesstracker, quasi zur Daumen-Fitness am Phone. Das hilft uns (und Google) natürlich, zu verstehen, wie wir unsere Fernbedienung zum Leben eigentlich genau nutzen. Und Google gehört das weltweit mit Abstand am meisten genutzte Handy-Betriebssystem Android.
Google handelt damit also wie ein Tabakkonzern, der mir den massvollen Umgang mit Zigaretten beibringen will. Hm. An Nächstenliebe glaube ich bei börsenkotierten Konzernen eher begrenzt. Vielleicht macht Google dies vielmehr, weil andere Anbieter wie Moment oder QualityTime das alles schon messen und damit Geld verdienen. Haben Sie sich damit schon mal selber getracked? Nein? Angst vor der Wahrheit? Ja, ich schon.
Die Suchmaschine weiss immer als erstes, was Menschen wünschen
Deswegen musste ich mich zwingen, mich selber zu überwachen. Wer will sich schon so genau mit sich selber auseinandersetzen. Mein Resultat war vernichtend. Ich verrate mal so viel: an meinem offline-Samstag, an dem ich mein Smartphone jeweils gefühlt weniger nutze, war ich zweieinhalb Stunden online und habe mich 42 Mal eingeloggt. Dieses Tracking will Google also künftig übernehmen. Das Datenimperium weiss immer als erstes, was Menschen suchen und wünschen. Auf Google Trends können wir alle nachschauen, nach was die Menschen auf Suchmaschinen so stöbern. Seit drei Jahren tippen immer mehr «Digital Detox» in die Maske. Die Menschen wollen digitale Entgiftung. 70 Prozent der Menschen wünschen sich eine bessere Tech-Life-Balance. Und zu wissen, was Konsumenten wollen, ist grundsätzlich die beste Ausgangslage für geschäftlichen Erfolg.
Immer online, nie wirklich «da»? Man kann sich fragen: Wie erreichbar muss man wirklich sein? Oder: Macht man sich unnötigen Druck bei der sozialen Selbstdarstellung? Der «Digital Detox»-Trend setzt auf die temporäre Handy-Nulldiät – und dies vor allem für die Gesundheit!
Immer online, nie wirklich «da»? Man kann sich fragen: Wie erreichbar muss man wirklich sein? Oder: Macht man sich unnötigen Druck bei der sozialen Selbstdarstellung? Der «Digital Detox»-Trend setzt auf die temporäre Handy-Nulldiät – und dies vor allem für die Gesundheit!
Kann Google-App-Timer helfen?
Und was, wenn man mit den Wellness-Funktionen gar noch der Konkurrenz schaden kann? Genau das tut der neue Google-App-Timer. Damit legen wir selber eine maximale Zeit für jede App fest. Wenn wir diese überschreiten, lässt sich youtube nicht mehr öffnen. Das wär natürlich blöd für Googles eigene Plattform. Wenn die Leute weniger dort sind, sehen sie weniger Werbung. Der Tech-Gigant würde weniger verdienen. Aber ganz besonders blöd wäre es für Googles grössten Konkurrenten im Werbemarkt, für Facebook. Denn dieser verkauft Werbung vor allem über seine Apps Facebook und Instagram. Google hingegen bringt seine Suchseite am meisten Werbegeld. Die wird natürlich nicht blockiert.
Ausserdem hält es uns nicht davon ab, Android zu nutzen, wenn wir weniger Apps anschauen. Ich glaube zu ahnen, wessen Wohlbefinden da gesteigert wird. Nicht zuletzt lenkt dieses digitale Wohlbefinden von wirklich wichtigen Diskussionen um Privatsphäre und Datenschutz ab. Insgesamt könnte dies das finanzielle Wohlbefinden der Tech-Konzerne bestimmt beträchtlich steigern.
Die Ökonomin Patrizia Laeri (40) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von SRF-Börse und ECO sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt alle zwei Wochen für BLICK.