Es ist eine öde, eine regelrecht missratene Vorstellung. Dabei präsentiert Elon Musk (51) am 22. September 2020 nicht mehr und nicht weniger als einen Quantensprung bei der Batterieherstellung: Batterien sollen künftig mehr Energie auf weniger Raum speichern – und das auch noch deutlich günstiger. Das Ganze findet im Freien auf einer kleinen Bühne statt und wirkt noch trostloser als der «ZDF-Fernsehgarten». Bevor Musk im kalifornischen Palo Alto die Bühne betritt, hat Tesla-Chefjurist Al Prescott, ein ebenso unbegabter Redner wie sein Chef, durch die jährliche Hauptversammlung des Elektroautoherstellers geführt: ein tristes Aktionärstreffen, bei dem lustlos die Tagesordnung abgearbeitet wird und Anträge per Telefon vorgetragen werden. Das Publikum sitzt in Model-3-Fahrzeugen, die aus Gründen des Schutzes vor Corona-Infektionen zur Verfügung gestellt werden, und applaudiert mit Hupkonzerten. Ein peinliches Trauerspiel – und das vor einer der wichtigsten Präsentationen von Tesla.
Dann, als die Stimmung so richtig im Keller ist, kommt der Auftritt von Elon Musk. Ganz in Schwarz gekleidet, erklärt er den skurrilen Aufdruck seines T-Shirts: Es seien Nanodrähte, die auch in den neuen Batterien verwendet werden. Die Grafik sieht aus, als hätte ein Praktikant sie mit Microsoft Paint herbeidilettiert, sie wölbt sich etwas zu hoch über Musks breiter Brust. Und es wird nicht besser. Er nuschelt, stottert und verhaspelt sich während der ganzen Präsentation. Typisch Musk: ungeschickt in allem. Doch seine grosse Schwäche ist auch seine grosse Stärke.
Schwierigkeiten als Autist
Elon Musks Stottern und unsicheres Verhalten sind die Folgen seines Asperger-Syndroms, einer Form von Autismus. Die Sprache bleibt dabei eigentlich unbeeinträchtigt, doch gibt es häufig Schwierigkeiten bei der Kommunikation. Sein Stottern variiert auch von Interview zu Interview und von Präsentation zu Präsentation. Er sei sehr unsicher, heisst es, und hätte es vor der Gründung seines ersten Unternehmens Zip2 nicht einmal geschafft, sich bei anderen Tech-Unternehmen zu bewerben – aus Angst. Manchmal ist er ohne bestimmte Substanzen gar nicht in der Lage, normal zu sprechen; laut Musk sind es etliche Dosen Red Bull. Vor der Präsentation des Model 3 war er praktisch nicht zu verstehen. Er kam in den Presseraum und nuschelte etwas Unverständliches in Richtung der Gäste. Ursache soll damals die Trennung von seiner Freundin, der Schauspielerin Amber Heard, am Vorabend gewesen sein. Musk litt unter starken seelischen Schmerzen, wie er dem Musikmagazin «Rolling Stone» später berichtete.
Bei dieser Gelegenheit zeigte sich auch wieder seine Unbeholfenheit als Autist. Ein Journalist wurde von Musk gefragt, ob dieser einen Tipp für ihn habe: Er sei auf der Suche nach einer festen Freundin, weil es für ihn die Hölle sei, morgens allein im Bett aufzuwachen. Offenbar war das keine Show, um irgendwie nahbar und sympathisch zu erscheinen. Denn das Asperger-Syndrom führt zu genau solchen Verhaltensmustern: Betroffene sind zwar sehr an sozialen Kontakten interessiert, wissen aber nicht, wie sie sie aufbauen können. Auch Musk lebt in seiner eigenen Welt und verfällt zuweilen minutenlang in eine Art Trance, während der niemand zu ihm vordringen kann. Seine Eltern vermuteten sogar einen organischen Schaden und liessen ihm die Polypen entfernen, weil dadurch angeblich das Gehör verbessert würde. Doch es half nichts.
In einer Reportage des Youtube-Kanals «Everyday Astronaut» ist eine solche Phase unmittelbar zu erleben: Nach einer sehr langen Frage von Moderator Tim Dodd «erwacht» Musk aus seiner Trance nach einer unangenehm langen Pause, die ihn für knapp 30 Sekunden hat wegtreten lassen. «Tschuldigung!», sagt Musk – er hat von Dodds Frage nicht das Geringste mitbekommen. Andererseits haben Menschen mit Asperger-Syndrom oft besonders ausgeprägte Spezialbegabungen in den Bereichen Technik und Naturwissenschaften. Und auch unkontrollierte Wutausbrüche gehören zum Erscheinungsbild. Musk hat vieles davon kanalisiert und setzt seine Schwächen als Stärken ein. Und er hat eine Mission.
Musks Mission
Diese Mission lässt sich wie folgt umreissen: Elon Musk will eine Katastrophe verhindern, indem er deren Voraussetzungen selbst massgeblich mitentwickelt. Und diese Katastrophe könnte deutlich schneller Realität werden, als viele befürchten und einige hoffen. Denn manche Veränderungen verlaufen exponentiell, Beschleunigung und Wachstum liegen in der Natur ihres Erfolgs. Bei der Entwicklung des Internets, der sozialen Medien oder in der Chipindustrie ist das der Fall – und bei den Unternehmungen von Elon Musk. Genau das ist auch der Grund dafür, warum sie so oft unterschätzt oder gar für verrückt erklärt wurden. Noch vor sieben Jahren wurde Tesla vom ehemaligen Daimler-Chef Edzard Reuter mit den Worten abgebügelt: «Das ist doch ein Witz!» Was damals und teilweise heute noch keine Einzelmeinung unter den deutschen Autobossen war.
Aber zurück zu Musks eigentlicher Besessenheit: In seiner Gedankenwelt dreht sich alles um den Moment, von dem an Computer, Quantencomputer und künstliche Intelligenz (KI) der menschlichen Spezies nicht nur überlegen sein werden, sondern ein Eigenleben entwickeln. Die künstliche Intelligenz wäre demnach die «letzte Erfindung der Menschheit». Wann und ob überhaupt jemals diese Dystopie Wirklichkeit wird, ist natürlich ungewiss. Musk jedenfalls hat dieses Szenario fest im Blick und lässt sich davon bedingungslos antreiben. Denn wenn es eintreten sollte, dann eher früher als später.
Schon heute zeigt sich die gefährliche Eigendynamik künstlicher Intelligenz. So hat KI etwa die Hautfarbe als entscheidendes Kriterium für «kriminelle Energie» identifiziert. In einem anderen Fall wurde auf Grundlage künstlicher Intelligenz Menschen mit dunkler Hautfarbe bei ansonsten gleichen Voraussetzungen wie bei Weissen eine angemessene medizinische Behandlung versagt. KI-Systeme hatten in einem Experiment untereinander eine eigene Sprache entwickelt und mussten abgeschaltet werden — niemand wusste mehr, was da gerade vor sich geht.
Das mag alles an bizarre Szenen aus dem Film «2001: Odyssee im Weltraum» erinnern, in denen ein Supercomputer menschliche Regungen entwickelt und schliesslich auch Kommandos erteilt. Elon Musk aber fürchtet sogar Schlimmeres: marodierende Roboter, die irgendwann unkontrolliert durch die Strassen ziehen und Menschen umbringen. Womit er übrigens nicht allein steht: Apple-Mitgründer Steve Wozniak und der verstorbene Astrophysiker Stephen Hawking haben schon im Jahr 2015 einen offenen Brief Elon Musks mit unterzeichnet, in dem das Verbot von militärischer KI und von autonomen Waffensystemen gefordert wurde.
Wie alles anfing
Die Weichen dafür wurden während seiner Kindheit in Südafrika gestellt. Schon im Alter von zehn Jahren tauchte er lieber in die Welt des Programmierens ab und entwickelte mit zwölf sein erstes Computerspiel «Blastar» – das er für 500 Dollar an die Zeitschrift «PC and Office Technology» verkaufte. Wegen seines autistischen Verhaltens wurde er an der Schule gemobbt und einmal sogar krankenhausreif geschlagen. Auch zu Hause sah es nicht besser aus: Während Elons Vater Errol Musk seine Frau Maye – laut ihrer eigenen Biografie – geschlagen hat, war die Gewalt gegenüber den Kindern psychischer Natur. «Er hat alle Verbrechen begangen, die man begehen kann», sagte Elon Musk über ihn.
Dennoch entschied er sich dafür, nach der Trennung seiner Eltern zu seinem Vater zu ziehen. Denn dort war das Leben komfortabler – und vor allem hatte er Zugriff auf einen Computer. Errol Musk war ein talentierter, vermögender Ingenieur, während Musks Mutter, eine ehemalige Schönheitskönigin, nach der Trennung über keine grossen finanziellen Mittel verfügte. Der Teenager Elon begibt sich also in die innere Emigration, vertieft sich ins Programmieren und in Science-Fiction-Literatur.
Besonders Douglas Adams’ Buch «Per Anhalter durch die Galaxis» hat es ihm angetan. In dem komödiantischen Science-Fiction-Zyklus geht es auch um einen von Menschen entwickelten Supercomputer, der die Frage «nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» beantworten soll. Nach 7,5 Millionen Jahren kommt die kryptische Antwort: «42». Als ein Tesla-Besitzer seinem «Model S» den Namen «42» gab (beim Update der Software wird danach gefragt, wie man sein Auto nennen will), erschien daraufhin im Display übrigens die Zeile «Life, the Universe and Everything». Ein Gag mit Hintersinn – und Hinweis auf Musks wahre Leidenschaft.
Tesla als Arbeitgeber — Hölle oder Traum?
Elon Musk ist besessen – und er ist ein Getriebener. Sinnlose Meetings sind ihm ein Graus, und wer nicht wirklich produktiv für den Erfolg seiner Unternehmen arbeitet, der steht schneller wieder auf der Strasse, als er «aber» sagen kann. Von Aufzugfahrten zusammen mit Musk wird abgeraten; während der Eröffnung der Tesla-Gigafactory in Grünheide bei Berlin wurde ein Mitarbeiter von einem Journalisten gebeten, eine Bitte an Musk heranzutragen. Die Reaktion war bemerkenswert: Der Mitarbeiter zuckte mit seinem ganzen Körper, als hätte man ihn nach dem Weg zur eigenen Hinrichtung gefragt. Auf Jobbewertungsportalen wiederum gehen die Meinungen diametral auseinander: Wo die eine Hälfte ihre Arbeit bei Tesla als Traumjob rühmt, fühlt die andere Hälfte sich ausgenutzt.
Noch während der Zeit, in der er sich der Lektüre von Science-Fiction-Romanen hingab, stellte Elon Musk folgende Maxime auf: «Das Einzige, was Sinn macht, ist, nach grösserer kollektiver Erleuchtung zu streben.» So schildert es sein Biograf Ashlee Vance, und diesem Ziel ordnet der heute 51-Jährige alles unter. Um dem Wehrdienst im südafrikanischen Apartheid-Staat zu entgehen, wandert er nach dem Schulabschluss nach Kanada aus, der Heimat seiner Mutter. Dort studiert er Physik und Volkswirtschaft bis zum Bachelor, entwickelt bereits an der Uni in Kingston Konzepte für Solarstrom. Sein Lieblingsthema damals: Superkondensatoren als Energiespeicher. Auch dass er sich zu dieser Zeit bereits für Elektroautos interessierte, erzählt Musk gern. Womöglich deshalb, weil er 2004 erst nach der Gründung von Tesla als Investor zu dem Unternehmen stiess. Vier Jahre später übernahm er dort den Posten als Chefentwickler — und stellte nach diversen Turbulenzen das Überleben der Firma sicher.
Bescheidenheit lässt sich lernen
Mittlerweile verfügt Elon Musk zwar über ein riesiges Vermögen – aber über so gut wie keinen privaten Besitz mehr. Seine Anwesen hat er verkauft, er lebt in einem Tiny House in der Nähe des Raketentestgeländes seiner Raumfahrtfirma SpaceX im texanischen Boca Chica und übernachtet ansonsten in seinen Fabriken oder bei Freunden. Im Vergleich zu anderen Superreichen hinterlässt er den wohl kleinsten (privaten) CO2-Fussabdruck. Und im Gegensatz zu Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Bill Gates zahlt er bereitwillig Steuern. Ende vorigen Jahres verkaufte er dafür sogar 10 Prozent seiner Tesla-Aktien – nicht ohne seine Follower auf Twitter vorher zu befragen. 57,9 Prozent stimmten für den Verkauf der Aktien. Das führte zur grössten Steuerzahlung einer Einzelperson in der amerikanischen Geschichte: Musk überwies nach eigenem Bekunden elf Milliarden Dollar an den Staat.
Dabei war diese Art von Bescheidenheit keineswegs schon immer Elon Musks hervorstechende Eigenschaft. Es existiert beispielsweise ein hochnotpeinliches Video, in dem der damals 27-Jährige einen «F1» von McLaren vor die Haustür geliefert bekommt. Den etwa eine Million Dollar teuren Rennwagen hatte er mit den Erlösen seines ersten erfolgreichen Start-ups Zip2 bezahlt. Und Musk machte auf dicke Hose: «50 Millionen Dollar Investment zu bekommen, ist eine Frage von ein paar Anrufen, und das Geld ist da!» Oder: «Ich könnte eine der Bahamas-Inseln kaufen und sie zu meinem Landgut machen.» Der Verkauf von Zip2 an den Computerhersteller Compaq war nicht nur finanziell ein Riesenerfolg, sondern brachte Musk auch eine kräftige Portion Selbstvertrauen.
Berufliche Rückschläge und seine Lehren
Tatsächlich war Zip2 seiner Zeit vor mehr als 20 Jahren weit voraus. Es handelte sich um ein Branchenverzeichnis mit integrierter Landkarte, im Prinzip eine Vorversion von Google Maps. 22 Millionen Dollar bekam Musk für seine Anteile, das Geld investierte er zum grössten Teil sofort wieder in X.com, den Vorläufer von Paypal. Sein Einstieg in dieses Start-up bescherte ihm dann eine weitere entscheidende Lehrstunde. Das Online-Bezahlsystem war um die Jahrtausendwende herum zwar ein unglaublicher Erfolg, aber die Server ächzten unter der Überlastung. Die Webseite brach ständig zusammen, immer mehr Mitarbeiter zweifelten an Musks Fähigkeiten. X.com war zuvor mit Peter Thiels (54) Paypal fusioniert worden, und eine Gruppe von Führungskräften bekniete den Aufsichtsrat, den Investor (und späteren Trump-Unterstützer) Thiel zum Chef zu machen.
Die Gelegenheit dazu bot sich Anfang des Jahres 2000, als Elon Musk sich mit seiner ersten Frau Justine gerade in die Flitterwochen verabschiedet hatte. Noch während der Frischvermählte im Flugzeug sass, setzten seine Kritiker sich durch: Als Musk gelandet war, war er nicht mehr CEO. Die wichtigste Lehre aus der ganzen Sache: In Zukunft müsse er für seine Unternehmen unentbehrlich sein. So wie heute bei Tesla, bei SpaceX – und demnächst womöglich bei Twitter. Elon Musk war jetzt reif für die Weltbühne.
Die Zukunft aus Musks Augen
Nach der Paypal-Erfahrung hat Musk sich immer mehr Gedanken über zivilisatorische Fragen gemacht, über die Zukunft der Menschheit. Sein erstes Ziel: der Mars. Auch das dürfte eine zumindest mittelbare Folge seiner Asperger-Störung gewesen sein, die im Englischen auch als «Wrong Planet»-Syndrom bezeichnet wird: Man fühlt sich im Alltag wie auf einem falschen Planeten. Immer öfter bezeichnet Musk sich in Interviews als Ausserirdischen; seine aktuelle Freundin (oder Ex-Freundin, man weiss es nie so genau), die kanadische Sängerin und Musikerin Grimes (34), liess sich voriges Jahr Alien-Narben auf den Rücken tätowieren. Elon Musk, so die Symbolik, hat auf ihr seine Spuren hinterlassen.
Aber der Eskapismus hat auch einen ernsthaften Hintergrund. Sei es der Klimawandel, ein gigantischer Vulkanausbruch oder ein verheerender Asteroideneinschlag: Irgendetwas wird die Menschheit dahinraffen, und nur eine multiplanetare Spezies wird dauerhaft überleben können. Davon ist Musk überzeugt, und deshalb ist er auch besessen von der Idee, sich den Mars als Ausweichplaneten zu erschliessen. Noch ist keine von Musks Raketen dort gelandet, aber wichtige Etappenziele wurden tatsächlich erreicht. Ein Team arbeitet sogar schon an einer Verfassung für den Planeten. Das klingt verrückt, aber Science-Fiction-Romane waren für Musk nie reine Utopien, sondern immer auch Handlungsanleitungen.
Mit SpaceX hat er Raumfahrt denn auch wesentlich preiswerter gemacht, nicht zuletzt durch konsequentes Wiederverwenden von Boostern, Kapseln und Triebwerken. Musk entwickelt die gesamte Raumfahrtindustrie in entscheidenden Punkten weiter.
Teslas Erfolg
Stilbildend ist diese Methode auch für weniger hochfliegende Projekte. Bei Tesla etwa wird kein Automodell entwickelt, um dann jahrelang weitgehend unverändert gebaut zu werden. Sondern es wird ständig und gewissermassen bei laufendem Motor optimiert und verändert. Wobei Musk durchaus auch selbst Hand anlegt: Schon etliche Male wurde er liegend unter den Fahrzeugen gesehen. Und auf die Frage, warum das denn sein müsse, reagiert er mit Unverständnis: Genau das sei doch der Job des CEOs. Nur ein Beispiel: Noch wird der vordere Abschnitt des Unterbaus beim Model Y in der Tesla-Fabrik Grünheide aus zahlreichen Blechen zusammengeschweisst. Doch schon jetzt stehen dort einige der grössten Aludruckgusspressen weltweit bereit, um auch dieses Bauteil (wie schon das Heck) demnächst als ein einziges Stück aus Aluminium giessen zu können. Die Legierung dafür stammt aus einer Abteilung, die sowohl für Tesla wie auch für SpaceX neue Materialien entwickelt.
Um sämtliche Produkte ständig und möglichst schnell verbessern zu können, hat Musk einen Fünfklang entwickelt, der für alle seine Unternehmungen gilt: Senke die Anforderungen, verzichte auf ein Bauteil oder einen Prozessschritt, optimiere, beschleunige die Fertigung, automatisiere. Nur mit diesem Prinzip konnte er auch die «Produktionshölle» beim «Model 3» überstehen. Wochenlang hatte Musk damals in der ersten Gigafactory in Nevada Quartier bezogen und in der Fabrikhalle übernachtet, um die Produktion zum Laufen zu bringen. Als nichts mehr half, liess er neben der Fabrik Zelte aufstellen, um innerhalb von wenigen Wochen eine zweite Fertigungslinie aufzubauen. Vorher hatte Musk noch den deutschen Roboter- und Fertigungsspezialisten Grohmann Automation in Prüm in der Eifel gekauft. Sämtliche Aufträge für Konkurrenten wie Mercedes wurden gestoppt und Millionen Strafzahlungen in Kauf genommen. Grohmann hatte die nötige Kapazität, um das Problem zu lösen. Tesla stand damals kurz vor der Pleite, Elon Musk hat das Blatt gewendet.
Allen bahnbrechenden Erfolgen zum Trotz, bei einem Thema sieht er sich im Hintertreffen: Künstliche Intelligenz. Auf den ersten Blick scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein, immerhin hat Musk eine der ausgeklügeltsten KI-Anwendungen für autonomes Fahren entwickelt. Während die Konkurrenz hier weiterhin mit weniger geeigneten Verfahren arbeitet, läuft die Betaversion von Teslas «Full Self-Driving»-Software (FSD) bereits auf 100'000 Fahrzeugen.
Der Tesla-Autopilot ist zwar eine bemerkenswerte KI-Software, doch eher für eine Nische entwickelt worden. Um aber tatsächlich der Gefahr jener «marodierenden Roboter» entgegenwirken zu können, benötigt er den Zugang zu einer «grossen» KI, die nicht auf spezielle Bereiche ausgerichtet ist. In seinen bisherigen Firmen wird Elon Musk diese KI aber kaum entwickeln können – nicht zuletzt auch deshalb, weil es ihm dort am erforderlichen Zugriff auf wirklich grosse Datenvolumina mangelt.
In der grossen Liga der Tech-Giganten
Ganz anders sieht es hingegen bei einem sozialen Netzwerk aus. Dort gibt es Unmengen an Daten – ob über Konsum-, Freizeit- oder Kommunikationsverhalten, ob über soziale Interaktion bis hin zu politischen Präferenzen. Wer über ein soziales Netzwerk verfügt, bekommt alles, was für die KI-Entwicklung nötig ist. Und genau an dieser Stelle setzt auch sein beabsichtigter Kauf des Kurznachrichtendiensts Twitter an. Schon jetzt verfügt Elon Musk über einige der besten Fachleute auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, aber mit der Übernahme von Twitter stiege er zu einem der wichtigsten Player im Silicon Valley auf. Musk würde dann in einer Liga mit Grössen wie Mark Zuckerberg (38, Meta), Sundar Pichai (50, Google) oder Tim Cook (61, Apple) spielen. Die Programmierelite stünde künftig auch bei ihm Schlange – und noch dazu hätte er die Möglichkeit, Twitter zur Gelddruckmaschine umzubauen. Denn mit dem Potenzial, über das Musk bei SpaceX und Tesla verfügt, könnte er ein deutlich besser programmiertes Social-Media-Netzwerk bauen als alles, was es bisher gab.
Musk verfügt bei Tesla schon jetzt über eine eigene Abteilung zur Entwicklung von Supercomputern – und mit «Dojo» zudem noch über den leistungsfähigsten KI-Supercomputer der Welt. So könnte Twitter zum ersten Social-Media-Netzwerk mit selbst entwickelter, optimaler Serverarchitektur werden. Nicht zuletzt hat Twitter alle Grundfeatures, die auch Facebook, Instagram oder Whatsapp bieten: Newsfeed, Videos, Bilder und sogar einen Messenger. Bei Myspace wurde deutlich, wie schnell ein soziales Netzwerk implodieren kann, auch für Facebook ist das durchaus kein abwegiges Szenario mehr. Sollte es Elon Musk gelingen, Twitter in seine bestehende Firmenwelt zu integrieren und deutlich auszubauen, hätte er unternehmerisch eine völlig neue Dimension erreicht.
Der autistische Visionär
Doch was kommt dann? Elon Musk ist schon vor seinem Twitter-Vorstoss auf diesem Kanal als Rabauke aufgefallen: Den kanadischen Premierminister Justin Trudeau verglich er vorigen Februar mit Hitler, er verbreitete munter Verschwörungstheorien zu Corona und wütet auch sonst gegen jeden, der ihm nicht passt. Autisten neigen eben zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Genau das macht jetzt vielen Leuten Angst. Womöglich würde Musk auch als Twitter-CEO weiter twittern wie gewohnt. Allerdings spricht alles dafür, dass seine Handlungen aller Exzentrik zum Trotz auch künftig einer klaren Ratio folgen. Musks Ankündigung, auf Twitter wieder mehr freie Meinungsäusserungen zuzulassen, kann man feiern oder verdammen. Fakt ist: Schon jetzt ziehen seine Pläne unzählige neue Nutzer auf die Plattform. Er selbst hat allein in den 30 Tagen nach der Ankündigung zehn Millionen neue Follower hinter sich versammelt.
Und er hat einen weiteren bahnbrechenden Plan: Musk will den Twitter-Algorithmus veröffentlichen. Im Gegensatz zu Facebook, Youtube, Tiktok und anderen Kanälen ist dann öffentlich bekannt, warum bestimmte Inhalte hohe Reichweiten erzielen und warum andere Inhalte nicht angezeigt werden. Der autistische Visionär aus Pretoria würde damit eine seit Jahren wiederholte Forderung umsetzen: Transparenz.
Elon Musk scheint tatsächlich Gutes im Schilde zu führen: Er will Social Media besser machen, den Mars besiedeln, den Klimawandel aufhalten und nicht zuletzt die künstliche Intelligenz zähmen, damit sie am Ende nicht alle umbringt. Damit ihm das gelingt, geht er an Grenzen – und überschreitet sie auch, wenn es ihm erlaubt wird. Eine Herkulesaufgabe, der sich Musk jedoch gewachsen sieht. Aber was, wenn er sich irrt? Was, wenn das Experiment schiefläuft und dem Zauberlehrling alles entgleitet? Die Zukunft, so viel steht jedenfalls fest, wird immer weniger von Politikern gestaltet werden. Sondern von Leuten wie Elon Musk.
Dieser Text von Christoph Krachten erschien im Magazin «Cicero». Er ist Autor des 2021 erschienenen Buches «Tesla oder: Wie Elon Musk die Elektromobilität revolutioniert».