Den Nazis genügte ein Zollstock. Sie massen den Abstand zwischen den Augen, notierten den Umfang des Schädels, die Krümmung der Nase. Wer die falschen Masse hatte, endete in der Gaskammer.
Heute übernehmen Computerprogramme die Vermessung des Gesichts. Künstliche Intelligenz analysiert die Daten. Aber das Ziel bleibt dasselbe: die Entschlüsselung des Innersten des Menschen über sein Antlitz. Im Windschatten der technologischen Revolution erlebt die Physiognomie ihre Auferstehung. So heisst die Theorie, die den Charakter des Menschen anhand seiner Gesichtszüge dekodieren will.
Nach dem Holocaust schien die Physiognomik endlich im Giftschrank der Geschichte weggesperrt. In den letzten Monaten jagten sich aber die Schlagzeilen: «Gesichtserkennungssysteme gegen den Terror» – «China: Neue Software soll Kriminelle an ihren Gesichtszügen erkennen» – «Computer erkennt homosexuelle Gesichter».
Das war erst der Anfang
Alexander Todorov hat das alles kommen sehen. Der bulgarische Professor für Psychologie arbeitet an der Elite-Universität Princeton im US-Bundesstaat New Jersey. Todorov weiss alles über die Wirkung des menschlichen Gesichts – was wir aus ihm lesen, wie wir Menschen einordnen. In den letzten Jahren erschienen Dutzende von Studien, die von Gesichtsfotografien auf fast alles schliessen wollten: politische Einstellung, sexuelle Orientierung, soziale Schicht. Todorov ist ein Wissenschaftler von Weltruf, der derzeit vor allem gegen die Geister der Vergangenheit kämpft. Er sagt: «Das war leider erst der Anfang.»
Die Grundlage für die Rückkehr der Gesichtsdeutung ist der technologische Fortschritt. Zwei Bereiche der Computerwissenschaften spielen in der Physiognomik des 21. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Einerseits Gesichtserkennungsprogramme, die mit nie da gewesener Präzision kartografieren. Andererseits Künstliche Intelligenz, welche Daten schneller und präziser analysiert, als dies ein menschliches Hirn je können wird.
Gesichtserkennung ist allgegenwärtig
Die Anwendungen dieser Technologien beginnen sich in unserem Alltag festzusetzen. Das neue iPhone X erkennt seinen Besitzer. Ein Blick in die Kamera genügt. Der Flughafen Zürich Kloten führt derzeit bei der automatischen Passkontrolle ein System ein, das unseren Kopf mit dem biometrischen Bild im Pass abgleicht. Ein Blick in die Kamera genügt.
Am Berliner Bahnhof Südkreuz registrieren Kameras in einem Pilotversuch die Gesichter der Reisenden, um sie in Echtzeit mit den Fahndungsdatenbanken der Sicherheitsbehörden abzugleichen. Dafür braucht es nicht einmal einen Blick in die Kamera.
Das alleine ist schon revolutionär. Doch die Verbindung dieser neuen Technologien mit der alten Theorie der Physiognomik macht Dinge vorstellbar, die unser Rechtssystem aushebeln. Im 18. Jahrhundert prophezeite der deutsche Universalgelehrte Georg Christoph Lichtenberg, wenn man die Physiognomik anwende, «dann werden wir Kinder hängen, bevor sie die Taten begangen haben, die den Galgen verdienen». Der Galgen steht schon.
Verurteilt vor der Tat
Ein israelisches Start-up-Unternehmen warb vor einem Jahr mit einer Software, die Terroristen enttarnen soll – bevor sie ihre Taten begehen. Alleine basierend auf der Analyse von Gesichtszügen. Das Unternehmen soll mit dem US-Ministerium für innere Sicherheit in Verbindung stehen. Und es warten weitere Anwendungsmöglichkeiten.
Michal Kosinski, ein Psychologe und Daten-Spezialist, hat eine gefunden. Er veröffentlichte vor drei Wochen eine Arbeit, in der er eine Software vorstellte, die anhand von Fotografien erkennen kann, ob eine Person homosexuell ist oder nicht. In 81 Prozent der Fälle soll der Algorithmus bei Männern richtig gelegen haben. Bei Frauen lag die Trefferquote bei 74 Prozent.
Nur weil die Physiognomie heute tabu sei, heisse das nicht, dass sie keinen Funken Wahrheit in sich trage, sagte der Forscher gegenüber dem US-Magazin «The Verge». Kosinski ist Assistenz-Professor an der Stanford-Universität, einer der besten Hochschulen der Welt. In der Wissenschaft geriet seine Studie schnell unter Beschuss weil sie methodisch grosse Mängel aufwies.
«Die Büchse der Pandora ist geöffnet»
Alexander Todorov gehört zu den schärfsten Kritikern. Er hält die Studie inhaltlich für «lausig». Doch über die Wirkung der Studie macht er sich keine Illusionen. «Die Büchse der Pandora ist geöffnet», sagt Todorov. Es gebe nun Forscher an renommierten Hochschulen, die glauben, im Gesicht von Menschen lasse sich dessen Sexualität lesen.
Physiognomie ist eine Waffe, die nicht funktionieren muss. Es genügt, an sie zu glauben. In 73 Ländern ist Homosexualität strafbar. In neun Ländern droht die Todesstrafe. Was, wenn Firmen Software verkaufen, die angeblich Homosexualität bestimmen kann? Gelangen solche Physiognomieprogramme auf den freien Markt, ist das Missbrauchspotenzial gewaltig.
Unter dem Deckmantel neutraler Forschung
Das Gefährliche an der Physiognomik des 21. Jahrhunderts sei, dass sie unter dem Deckmantel neutraler Forschung daherkomme, so Todorov. «Wir glauben, dass die künstliche Intelligenz keine Vorurteile hat.» Doch künstliche Intelligenz ist nicht wirklich künstlich. Denn die Computer werden von Menschen gefüttert. Also fliessen auch menschliche Vorurteile in die Computersysteme.
Todorov sagt: «Die Computer übernehmen unsere Vorurteile und verstärken sie sogar.» Dazu kommt: Die Algorithmen der künstlichen Intelligenz sind so komplex, dass selbst deren Entwickler nicht genau erklären können, wie die Resultate zustande kommen. Die Wissenschaft nennt das Black-Box-Phänomen.
Gefährlicher als Nordkorea?
Sogar Vertreter der Hightech-Welt warnen mittlerweile vor der Unberechenbarkeit der künstlichen Intelligenz. Tesla-Gründer Elon Musk hält sie für weitaus gefährlicher als Nordkorea und spricht sich für gesetzliche Schranken aus. Längst hat unter den Grossmächten der Wettlauf um die Vormachtstellung in dieser Wissenschaft begonnen. Der russische Präsident Wladimir Putin sagt offen: «Wer dieses Forschungsfeld anführt, wird der Herrscher der Welt.»
Der Glaube, im Gesicht liege das Geheimnis des Menschen, existiert seit über 2000 Jahren. Wir sind alles kleine Physiognomen. Das bestätigen die Forschungsarbeiten von Alexander Todorov. Ein Mensch braucht nur den Bruchteil einer Sekunde, um sein Gegenüber einzuschätzen. Und: Menschen stimmen in der Einschätzung von Gesichtern überein. Im US-Bundesstaat Florida wiesen Wissenschaftler nach, dass Täter vor Gericht härter bestraft wurden, deren Gesicht von Menschen als nicht vertrauenswürdig empfunden wurden.
«Was wir sehen, sind unsere eigenen Vorurteile»
Todorov sagt: «Die Physiognomen hatten mit einem recht: Gesichter prägen unseren Eindruck von unserem Gegenüber stark.» Aber Eindrücke sind Eindrücke, keine Fakten. «Was wir im Gesicht anderer sehen, sind unsere eigenen Vorurteile», sagt Todorov.
Schuld an der Popularität der Gesichtsdeuterei ist ein Schweizer. Johann Caspar Lavater, 1741 in Zürich geboren. Er galt als Superstar der Physiognomie. Ein von Zeitgenossen als charmant beschriebener Theologe und Pfarrer. In seinem vierbändigen Werk «Physiognomische Fragmente», das er zwischen 1775 und 1778 veröffentlichte, definierte er die Physiognomie als «das Talent, das Innere des Menschen anhand seines Äusseren zu entdecken». Von ihm stammt das Zitat: «Je moralisch besser, desto schöner. Je moralisch schlimmer, desto hässlicher.»
Die Stirn sah Lavater als «Spiegel der Intelligenz». In der Nase und in den Wangen sah er den «Sitz der Moral». Die reich illustrierten Bücher Lavaters wurden zu Bestsellern. Das «Gentleman’s Magazine» schrieb 1801, die Bücher Lavaters gehörten in jede Familie «wie die Bibel».
Schriftsteller wie Balzac und Charles Dickens wiederholten sie in ihrem Werk. Könige und Fürsten holten Lavater an den Hof. Das Gedankengut drang tief in die europäische Gesellschaft und Kultur ein.
Adolf Hitler im Hörsaal
Die geistigen Nachfolger Lavaters zogen die Konsequenzen aus der Physiognomik. Wenn das Gesicht der Spiegel des Menschen ist, dann kann man ihn anhand seiner Visage kategorisieren. Der britische Naturforscher Francis Galton entwickelte daraus die Grundlagen der Eugenik. Die Einteilung der Menschen in genetisch wertvolle und wertlose Exemplare.
Einer ihrer Vertreter war der deutsche Philologe Hans F. K. Günther, Mitbegründer der nationalsozialistischen Rassentheorie. Als Günther 1930 an der Universität Jena seine erste Vorlesung hielt, sassen Adolf Hitler und Hermann Göring im Hörsaal.