Dieser Zug macht mich traurig. Sein blosser Anblick. Was mich erstaunt: Dingen gegenüber, die mich von einem Ort zum anderen bringen, bin ich grundsätzlich emotionslos eingestellt. Und nun das. Dieser Zug lässt mein Herz schwer werden. Der Grund? Er ist hässlich. Unfassbar hässlich – und fortan trotzdem Teil meines Lebens. 62 solcher Züge haben die SBB bestellt. 62!
Dosto heisst der Zug. Doppelstockwagen. Kostenpunkt: 1,9 Milliarden Franken. Ich kannte diesen Zug bisher nur unter seinen Übernamen: Schüttelzug, Pannenzug.
Und ich weiss, auf jemanden einzutreten, der am Boden liegt, gehört sich nicht. Aber Dosto, verzeihe mir, du verkörperst die Abwesenheit von Schönheit. Das schmerzt. Weil der Mensch nicht nur Funktionalität braucht, um zu leben, sondern auch Schönheit, um zu atmen. Hat dein Namensvetter Dostojewski denn nicht gesagt: Schönheit wird die Welt retten!
Und klar, du bist ein Zug. Da sind die Ansprüche nicht so hoch. Du aber hinterlässt nur ein kaltes Schaudern. – Und wie du riechst! Nicht neu und nach Verheissung. Nein, du stinkst. Stunden, ja Tage werde ich mit dir verbringen, jedes Mal kriechst du mir mit deinem grellen Licht, den seltsamen Sitzen und deinen Holzimitationen an den Wänden der 1. Klasse in die Glieder. Du bist seelenlos.
Geht auch anders
Das muss nicht sein. In den Intercity-Zügen sitze ich gern. Ein wohliges Gefühl ist es, in einen der Sitze zu sinken. Ich mochte die Zitate der Personen, die diese Waggons einst zierten, ihnen Leben einhauchten. Von Aarau bis Biel konnte ich nachsinnen über Annemarie Schwarzenbachs Ausspruch: «Ich muss die Bilder wiederfinden, die meine Seele liebt. Weiss ich, an welchen Horizonten sie suchen?» Und sicher bis Olten nachdenken über Dürrenmatt: «Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral.» In dir aber hats bloss ein Schild. Darauf steht: WC.
Und noch was: Der SBB-Chef Andreas Meyer liebt Dosto, weil seine Sitze freischwebend sind. Nicht, dass er das schön findet, das war ja scheinbar kein Kriterium bei diesem Zug. Nein, der Zug lässt sich dadurch schneller reinigen, und die Hälfte der Putzfrauen können eingespart werden. Menschenfeindlich ist er, dieser Dosto!
Haben die SBB den Menschen vergessen?
Die anderen Züge sind ein bisschen ein Zuhause. Ein Raum, der uns vom Bett an den Bürotisch rollt. Und nicht bloss ein irgendwie beleuchtetes Kunststoffding mit Sitzen, das einen von Zürich nach Basel schüttelt. Haben die SBB beim Auftrag an den Lieferanten Bombardier vergessen zu erwähnen, dass sie menschliche Wesen und nicht Roboter transportiert?
Und wer denkt, dass solche Gedanken kleinlich sind, dem sei gesagt: Die Umgebung hat einen Einfluss auf Menschen. Wer im Wald spaziert, dessen Herz schlägt messbar ruhiger. Dosto ist das Gegenteil eines Waldes. Mir schwant Böses. Experimentalpsychologe Colin Ellard weiss: Langweilige, sterile Umgebung führt zu Stress, Impulsivität, einem geringen Anteil an positiven Gefühlen und einer steigenden Wahrscheinlichkeit von riskantem Verhalten.
Es geht noch weiter. Dosto, mit deinen dreieckigen in die Ecken der Treppe eingepassten Abfalleimer, hör zu: Insgesamt zeigen Experimente, dass die Form der umgebenden Konturen uns entweder glücklich und zufrieden oder aber ängstlich und furchtsam stimmen. Das wiederum hat Auswirkungen darauf, wie wir Mitmenschen behandeln.
Dosto hat Auswirkungen
Die SBB haben also eine Verantwortung. In nur einen einzigen Dosto passen 1300 Menschen. Abertausende sitzen also täglich in dieser grellen Dosto-Funktionalität. Was macht das mit ihnen? Durchgeschüttelt stehen sie doch danach vor dem Selecta-Kaffee-Automaten an ihrem Arbeitsplatz, mutlos darauf wartend, bis der Kartonbecher voll ist. Wie soll da unser Land florieren?
Dosto, du bleibst stumm. Könntest du sprechen, würdest du mich aber bestimmt nicht duzen, du Korrekter, du Hässlicher. Aber vielleicht sagen: «Frau Wüst, was erzählen Sie da! Sie schauen mich doch gar nicht an, wenn Sie mit mir reisen, sondern auf Ihr Handy. Nicht, dass Sie das müssten, mich anschauen. Aber schauen Sie doch wenigstens auf – in die Gesichter der Menschen um sich, da finden Sie, was Sie vermissen. Denn hat nicht jedes Gesicht etwas Schönes? Oder schauen Sie mal aus dem Fenster! Was da an Landschaften vorüberziehen, wird sie entzücken.»