Stimmengewirr, Tassengeklapper, plötzlich eine Durchsage: Geht es um meinen Zug? Nein! Also weiter: Von der Bahnhofshalle des Zürcher Hauptbahnhofs in seine trubelige Welt unter Tage. Decken und Wände, die zunächst massiv erscheinen, lösen sich in winzige Punkte auf, um den Blick freizugeben auf das, was dahinter liegt. Wo will ich hin? Egal! Ich bin gleichzeitig oben, unten, draussen drinnen, mittendrin – obwohl ich tatsächlich weit weg bin.
Ich stehe im Zürcher Landesmuseum. Treppe hoch, erst nach rechts, dann nach links. Dort beginnt die Ausstellung «Einfach Zürich». Einer ihrer Höhepunkte: das audiovisuelle 3D-Modell der Stadt. Auf drei Seiten bin ich umgeben von Bild- und Tonmaterial, die Kamera fliegt durch Strassen, Gebäude und Landschaften. Nach 30 Minuten wird mir schwindelig, aber ich will mehr davon. Vermessungstechnik trifft hier auf Entertainment, Kunst auf Wissenschaft.
Information heiratet Emotion
Matthias Vollmer und Johannes Rebsamen, wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich, haben das hochpräzise Stadtmodell mit Wow-Effekt erschaffen. Die beiden sind Co-Gründer des ETH-Spin-offs Scanvision. Mit ihrem Unternehmen wollen sie einem Laienpublikum Orte nahebringen. «Wir stehen mit unserer Technologie zwischen Kunst und Information», erklärt Vollmer.
Die Forscher sind während ihrer Arbeit an der ETH mit der Technologie Laserscanning in Berührung gekommen, mit deren Hilfe Landschaften, aber auch Gebäude oder ganze Städte hochpräzise in 3D vermessen und in einem digitalen Modell dargestellt werden können, das die Betrachter geradezu in die Szene hineinkatapultiert. Über das Scanvision-Modell der Stadt Zürich im Landesmuseum sagt Wissenschaftler und Unternehmer Vollmer: «Unser Modell hat einen hohen Informationsgehalt und gleichzeitig eine emotionale Wirkung.»
Für die Zukunft planen er und Rebsamen, der Bevölkerung auch Bauprojekte mit Hilfe von Laserscanning-Techniken zu vermitteln, um so nicht nur Informationen darzustellen, sondern auch ein Gefühl für die Veränderung zu erzeugen, auf die sich die Bevölkerung einstellen muss.
Spin-off-Rekord im 2018
2018 war Scanvision eines von 27 neu gegründeten Spin-offs der ETH Zürich. So viele waren es noch nie. Seit 1996 gibt es offizielle ETH-Spin-offs und seit über zehn Jahren auch ein Spin-off-Label. Mit diesem dürfen sich junge Unternehmen schmücken, die auf Technologie aus der ETH Zürich basieren, von denen ein Gründer oder eine Gründerin aus der Hochschule kommt und deren Business-Plan überzeugt.
Seit 1996 sind 407 ETH-Spin-offs entstanden, das macht durchschnittlich 18,5 neue Unternehmen im Jahr. Die Hochschule ist schweizweit besonders bekannt für ihre vielen Ausgründungen, und sie fördert diese aktiv: Es gibt eine Spin-off-Beratungsstelle, das Pioneer Fellowship Grant, das «Innovation and Entrepreneurship Lab», eine Professur für Entrepreneurship und viele Kurse sowie Businessplan-Wettbewerbe, um nur einen Ausschnitt aus dem Angebot zu nennen.
Weshalb aber setzt sich die ETH derart für Spin-off-Gründer ein? Marjan Kraak, Leiterin der Spin-off-Gruppe sagt dazu: «Die ETH Zürich hat drei Hauptaufgaben: Lehre, Forschung und den Technologietransfer in die Gesellschaft. Spin-off-Unternehmen bieten eine ideale Möglichkeit, Technologien erfolgreich in die Gesellschaft zu bringen.»
Als die Hochschule in den 1990er-Jahren begann, Spin-offs zu unterstützen, war diese Art Engagement in der Schweiz noch nicht weit verbreitet. Heute dagegen gehört die Beratung und Förderung von Gründern aus den eigenen Reihen ins feste Angebot der Schweizer Universitäten. Die Organisation Unitectra ist seit 1999 zuständig für den Technologietransfer der Universitäten Bern und Zürich und seit 2011 für den der Uni Basel – und damit auch für deren Spin-offs.
Adrian Sigrist, stellvertretender Geschäftsführer von Unitectra, stellt fest, dass die Gründung von Spin-offs immer wichtiger wird. «In den 1990er-Jahren war es etwa im Life-Sciences-Bereich eher möglich, dass ein Pharmaunternehmen eine Frühphasentechnologie übernommen hat», sagt er. «Heute ist der klassische Weg, dass die Technologie zunächst in einem Spin-off weiterentwickelt wird.»
Im Wettbewerb mithalten
Schweizer Universitäten müssen sich nach Ansicht von Adrian Sigrist heutzutage auch deshalb für die Förderung von Spin-offs einsetzen, um im Wettbewerb um ihr Wunsch-Personal zu bestehen: «Ich hatte schon Besuch von Professoren, die noch in Verhandlung mit der Uni standen und von mir wissen wollten, wie der Technologietransfer abläuft. Das sind vor allem jüngere Professoren, die zum Beispiel in den USA geforscht haben.»
Marjan Kraak von der ETH Zürich und Adrian Sigrist von Unitectra sind insgesamt zufrieden mit den Bedingungen für Spin-offs in der Schweiz. Doch es gibt auch Kritik an der Politik. Marjan Kraak etwa beobachtet immer wieder, dass Spin-off-Gründer aus Drittstaaten auf kantonaler Ebene Probleme mit der Arbeitsbewilligung bekommen. «Meiner Meinung nach wäre es gut, wenn die Politik Rahmenbedingungen schaffen würde, die es allen Gründern unabhängig von ihrer Nationalität nach einem ETH-Studium ermöglichen, eine Firma zu gründen, Arbeitsplätze zu kreieren und Innovationen auf den Schweizer Markt zu bringen», sagt sie.
Dabei engagiert sich der Bund selbst auch stark für Spin-offs. Innosuisse, die Agentur des Bundes für Innovationsförderung, bietet Coachings, Seminare, Netzwerke und vieles mehr für Spin-off-Gründer an. Etwa zehn Millionen Franken jährlich investiert der Bund in die Beratung und Weiterentwicklung von Spin-offs.
Probleme für Drittstaatler
Lukas Rieder, Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration, schreibt auf Anfrage: «Gemäss dem Ausländer- und Integrationsgesetz können Drittstaatsangehörige mit Schweizer Hochschulabschluss erleichtert auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt zugelassen werden, wenn ihre Erwerbstätigkeit von hohem wirtschaftlichem oder wissenschaftlichem Interesse ist.» Er sagt aber auch: «Der Bundesrat weist dabei darauf hin, dass das Parlament bei Drittstaatsangehörigen bisher bewusst mehr Einschränkungen vorgesehen hat.»
Trotz gewisser Probleme, eines ist sicher: Die nächsten Spin-offs kommen bestimmt. Ob sie so spannend sein werden wie die Gründungen des vergangenen Jahres? 2018 entstand an der ETH Zürich neben dem Spin-off Scanvision zum Beispiel auch «Rosie Reality». Das Unternehmen hat eine App entwickelt, mit deren Hilfe Kinder ans Programmieren herangeführt werden. Und Oxy Prem, ein gemeinsames Spin-off der Universität und der ETH Zürich, hat ein medizinisches Gerät entwickelt, das den Sauerstoffgehalt im Gehirn von Frühchen misst. Spin-offs 2019: Wir erwarten euch.
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