Nächsten Sonntag feiern die Christen ihr höchstes Fest. Ostern erzählt eine seltsame, tragische Geschichte, in deren Mittelpunkt der Mord an einem Propheten steht. Dieser Mann aus Nazareth, der einige Jahre als Wanderprediger durch das Land gezogen war, wird von Judas Iskariot, einem seiner Getreuen, im Garten Getsemani an die römische Besatzungsmacht verraten und nach einem kurzen Prozess auf dem Hügel Golgatha in Jerusalem hingerichtet.
So schrecklich dieser Justizmord auch sein mag, die merkwürdige Heilsgeschichte der Christen betrachtet diese Tötung als notwendiges Opfer. Erst dadurch wurde das eigentliche Wunder möglich, denn drei Tage nach seinem Tod sei dieser Jesus Christus unter die Lebenden zurückgekehrt, für vierzig Tage noch, bis er schliesslich endgültig in den Himmel zurückgekehrt sei.
Mit seinem Tod habe dieser Prophet die Sünden der Menschen auf sich genommen und jedes weitere Opfer unnötig gemacht.
Die Bibel ist voller Opfergeschichten
Ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch. Das Alte Testament ist besessen von der rituellen Schlachtung von Rindern, Schafen – und von Menschen. Die tödliche Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Kain und Abel dreht sich um das gottgefällige Opfer, wobei es bezeichnend ist, dass Abel ein Schaf, Kain aber Feldfrüchte darbringt und mit seinem Gemüse bei seinem offenbar fleischfressenden Gott keinen Gefallen findet.
Später wird Abraham, der Gründer der monotheistischen Weltreligionen, von diesem Gott aufgefordert, seinen einzigen Sohn zu dessen Ehre zu töten, und erst im letzten Augenblick darf der arme Vater an Isaaks Stelle einen Widder schlachten. Weite Teile der Bibel kreisen um das Opfer.
Leviticus, das 3. Buch Mose, regelt pedantisch seine Einzelheiten. Ein gesalbter Priester habe zum Beispiel einen makellosen jungen Stier in das Zelt der Begegnung zu bringen, dort zu töten, den Finger in das Blut zu tauchen und siebenmal einige Tropfen auf die Vorderseite des Vorhangs im Heiligtum zu sprengen, den Rest aber am Sockel des Altars auszugiessen.
Es gibt klare Vorschriften, was mit den Eingeweiden, mit den Nieren, den Lenden und der Leber zu geschehen habe, und da es verschiedene Opfer und verschiedene Tiere gibt, ziehen sich die Anweisungen in die Länge.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.
Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.
Jesus wollte dem Opferkult ein Ende setzen – erfolglos
Es ist verständlich, wenn Jesus Christus dieser Neurose ein Ende bereiten will. Sein eigener Tod sollte den blutigen Kult überflüssig machen. Eine bestechende Idee – leider hat sie nicht funktioniert, im Gegenteil.
Statt das Opfer aufzugeben, folgten in den letzten zweitausend Jahren viele Jesus’ Vorbild. Der freiwillige Tod für ein höheres Ideal ist fester Teil der abendländischen Kultur. Die urchristlichen Märtyrer, die es vorzogen, sich in den römischen Arenen von den Löwen fressen zu lassen, statt ihren Glauben zu verleugnen, werden von der Kirche als Heilige verehrt.
Das Opfer blieb nicht auf die Religion beschränkt. Sterben für das Vaterland, auf den Feldern der Ehre, ist der Kern jeder nationalistischen Ideologie und bis heute die ultimative Forderung der militärischen Pflichterfüllung.
Auch in der zivilen Form, in der Politik, taucht die Idee des notwendigen persönlichen Opfers immer wieder auf. Jüngst verlangte der Generalsekretär von Amnesty International, Kumi Naidoo, in einem Interview, es müssten wieder mehr Menschen bereit sein, ihr Leben für die Menschenrechte aufs Spiel zu setzen. Womöglich wünschte sich der Aktivist einfach ein breiteres Engagement für die humanistischen Werte, aber er bekräftigte damit die Tradition einer schädlichen Politik, die eine post- heroische Gesellschaft überwinden sollte.
Jedenfalls, wenn sie Herausforderungen wie etwa den Klimawandel wirksam bekämpfen will.
Falschverstandene Sündhaftigkeit
Zum Opfer gehört unweigerlich die Vorstellung der Sünde. Sie ist mehr als ein Fehler, mehr als ein Verbrechen. Die Sünde ist ein Verstoss gegen die göttliche, gegen die natürliche Ordnung. Um sie zu sühnen, bedarf es eines Opfers. Der Klimawandel ist jedoch nicht die Summe vieler persönlicher Sünden. Er ist die Folge einer geschichtlichen und technologischen Entwicklung, die unserer Zivilisation Wohlstand und Fortschritt gebracht hat.
Das 20. Jahrhundert ist ohne das Erdöl nicht vorstellbar. Die Entwicklung der Wirtschaft, der Wissenschaft, die Entstehung einer breiten Mittelschicht, der sozialen Sicherungssysteme und die für breite Kreise erschwingliche Mobilität bedurften einer billigen Energiequelle.
Die schädlichen Effekte folgen nicht aus der Sündhaftigkeit des Menschen. Trotzdem ist Umweltpolitik viel zu häufig eine Frage der Moral. Fleischkonsum und Flugreisen werden als persönliche Sünden dargestellt, weil sie den Egoismus über das langfristige Wohlergehen der Gesellschaft stellen. Wer dies nicht einsehe und nicht umkehre in seinem lasterhaften Tun, der habe die Apokalypse zu erwarten.
Wenn die Folgen des Klimawandels beschrieben werden, dann ziehen sie eine direkte Verbindung zu den göttlichen Plagen. Sintflut, Dürren, Feuerstürme – das sind die bewährten Mittel, mit denen der Christen-Gott die Menschen für ihre Sünden bestraft. Vorher schickt er immerhin eine Warnung, heutzutage durch eine kindliche Prophetin aus Schweden.
Technologische Entwicklung ist besser als Opferkult
Der abendländische Mensch versteht und weiss, was von ihm verlangt wird. Er soll ein Opfer bringen, auf die Ferienreise und das Kalbsfilet verzichten – oder Ablass leisten, indem er seinen CO2-Ausstoss kompensiert oder höhere Steuern akzeptiert. Diese Strategien fussen auf einer irrationalen Vorstellung, auf dem Zusammenhang von Sünde, Opfer, Strafe und Vergebung. Eine Lösung für die globale Herausforderung des Klimawandels halten sie nicht bereit.
Denn letztlich handeln Klimaleugner rational. Sie vertreten ihr eigenes, kurzfristiges, wirtschaftliches Interesse. Das gilt für den amerikanischen Präsidenten, der trotz seiner Frisur nicht mit dem Teufel, nicht mit dem Bösen und damit auch nicht mit der Sünde im Bunde steht. Er verspricht der US-Wirtschaft und den eigenen Wählern eine billige Ressource und hofft damit auf ihre Unterstützung.
Donald Trump wird sich von keiner Prophetin bekehren lassen. Seine schädliche Politik lässt sich nur mit vernünftigen Mitteln ändern. Bekämpfen. Dies gilt umso mehr für China und Indien, zwei der drei Länder mit dem höchsten CO2-Ausstoss. Sie werden sich durch keine moralische Umweltpolitik an der wirtschaftlichen Entwicklung hindern lassen. Für christliche Opfermystik sind sie nicht empfänglich, wohl aber für technologische Entwicklungen und für Lösungen, die Wohlstand und Fortschritt ermöglichen.
Erfindungsgabe, Neugier, die menschliche Kraft, eine Krise zu überwinden – dies wäre hilfreicher als ein Kampf der Ideologien, zwischen Gut und Böse, zwischen den Gerechten und den Sündern, der nach wie vor die Umweltpolitik bestimmt. Ganz abgesehen davon, dass China und Indien als Länder zwar an der Spitze liegen, gemessen am Pro-Kopf-Ausstoss allerdings erst an 40. bzw. 104. Stelle folgen. (Die Schweiz liegt in dieser Rangliste auf Platz 59.)
Klimawandel muss kollektiv gelöst werden
In diesem Sinne müsste ein Mensch in Mumbai oder Shanghai von einem umweltbewussten Gott nicht mehr fürchten als
ein Zürcher oder Hamburger.
Der Klimawandel ist ein kollektives Problem und kann nur kollektiv gelöst werden.
Die Ironie an der christlichen Ostergeschichte ist die Tatsache, dass Christus zwar das Opfer überwinden wollte, ihm gleichzeitig aber die ultimative Symbolik dazu lieferte. Jedes Jahr an Karfreitag beschwören die Christen, ein Drittel der Weltbevölkerung, diesen unheilvollen Zusammenhang zwischen Sünde, Opfer und Vergebung.
Man möge sich doch in der Osterwoche an Jesaja erinnern, ein Prophet des Alten Testamentes und einer seiner grössten Dichter. 700 Jahre vor Jesus Christus soll Gott durch ihn seinen Überdruss an diesem Kult verkündet haben: «Was soll ich mit Euren vielen Opfern? Bringt mir nicht länger nutzlose Gaben – mir ein abscheulicher Gestank!»