Äusserlich war den Blutproben nichts anzusehen. Aber der genaue Blick durchs Mikroskop liess die Forschenden vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz stutzen. Blutproben von Neugeborenen, Buben unter fünf Jahren und Männern hatten sie in einem Computertomografen (CT) bestrahlt, um herauszufinden, wie riskant Röntgenstrahlung ist.
Das Bundesamt informiert die deutsche Bevölkerung im staatlichen Auftrag über die Gefahren. Im Erbgut der Kinder zählten die Wissenschaftler nun deutlich mehr anormale Chromosomen. Statt der bekannten X-förmigen Gestalt, hatten sie zwei Knotenpunkte ähnlich einem Bonbon, sogenannte dizentrische Chromosomen.
«Es sind vor allem Blutzellen von Kindern, die sensibler sind»
Es ist bekannt, dass Röntgenstrahlung Chromosomen in dieser charakteristischen Weise schädigen kann. Aber, dass sich dies an Blutzellen von Kindern schon nach einmaliger Bestrahlung sehen lässt, erstaunte die Forscher: «Die Blutzellen von Säuglingen und Kleinkindern reagieren verglichen mit Erwachsenen eher mit Schäden. Sie sind empfindlicher für Strahlung», sagt die Strahlenbiologin Simone Moertl vom Bundesamt. Anormale Chromosomen sind ungünstig für eine gesunde Zellteilung und – begünstigen Krebs. Das kann Leukämie, also Blutkrebs, den Boden bereiten.
«Es sind vor allem die Blutzellen von Kindern, die sensibler sind. Andere Körperzellen sind teilweise sogar weniger empfindlich als bei Erwachsenen», sagt der Strahlenbiologie und ehemalige Leiter der deutschen Strahlenschutzkommission, Wolfgang-Ulrich Müller.
So konnten Forschende des Bundesamtes für Strahlenschutz in einer weiteren Studie dokumentieren: Nicht nur die isolierten Blutzellen im Labor, sondern auch im Körper der Kinder ist das Blut empfänglicher für Schäden. Zehn Kinder im Alter von vier Monaten bis neun Jahren trugen nach Computertomografien bereits mehr dizentrische Chromosomen als Jugendliche im Alter von zehn bis fünfzehn. Die Strahlendosis lag bei durchschnittlich 12 Millisievert.
Die höhere Strahlensensibilität in jungen Jahren erklärt auch, weshalb Leukämien mit ungefähr 32 Prozent die häufigsten Krebserkrankungen bei Kindern sind. Dagegen stellen sie bei Erwachsenen nur rund drei Prozent der Fälle. Die wichtigste Form, die Akute Lymphatische Leukämie, ist im Alter von fünf Jahren sogar fünfmal häufiger als bei Erwachsenen.
Strahlung reicht nicht für Leukämie
«Wir wissen, dass zwei Ereignisse zusammentreffen müssen, damit es zu einer Leukämie kommt», erklärt Müller. Der erste Schritt ereignet sich meist schon vor der Geburt: Kinder, die eine Leukämie bekommen, haben häufiger dizentrische Chromosomen, wie molekulargenetische Studien erbrachten. Schäden also, die eben zum Beispiel durch Röntgenstrahlung entstehen. In der Strahlung, der wir jeden Tag ausgesetzt sind, läge für Kinder allerdings keine Gefahr, so Moertl – sie sei zu gering, um Leukämien zu erklären. Bei einem Langstreckenflug beläuft sich die Strahlendosis beispielsweise auf maximal ein Millisievert. Bei einem einzigen Röntgenbild oder einer einzigen CT-Aufnahme beläuft sich die Belastung indes auf bis zu 20 Millisievert.
Eine hohe Anzahl dizentrischer Chromosomen führt aber nicht zwangsläufig zu einer Leukämie. «Diese Auffälligkeit alleine reicht nicht, ein zweiter Schritt muss dazukommen», betont Müller. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Schritt mit einer starken Immunabwehr zusammenhängt. «Kinder, die in die Kita gehen, sind besser vor Leukämien geschützt als andere.» Ein trainiertes Immunsystem in jungen Jahren wirkt sich positiv aus. In diese Richtung weisen auch andere Studien.
Infektionen als Säugling stärken das Immunsystem und schützen die Kinder so vor einer Leukämie, selbst wenn sie dizentrische Chromosomen in den Blutzellen tragen. Zum Schutz vor Blutkrebs ist es deshalb wichtig, dass das Immunsystem von Geburt an adäquat geprägt wird. Diese These des führenden Forschers Mel Greaves vom Institut für Krebsforschung in London stützen viele Experten. Die wichtigste Konsequenz beschreibt Greaves so: «Leukämien, konkret, die ALL, könnten vermeidbar sein.»
Keine Angst vor Keimen
Aber wie? «Die Kinder sollten nicht aus Angst vor Keimen in einem sterilen Haushalt aufwachsen», so Müller. Sie sollten von klein auf in der Erde buddeln und nicht ständig nahezu sterile Fertignahrung bekommen. Millionen Bakterien leben auf einem Apfel, besonders, wenn er nicht gespritzt ist. Die meisten davon sind gut und machen nicht krank. In konservierter Babynahrung und anderen industriellen Erzeugnissen siedeln dagegen kaum noch nützliche Mikroben. Auch der Kontakt mit anderen Kindern und Tieren sollte ganz alltäglich sein. Es sind dieselben Ratschläge, die Ärzte auch zum Schutz vor Allergien geben.
Die Forscher am deutschen Bundesamt für Strahlenschutz arbeiten unterdessen an Tests, um die individuelle Strahlenempfindlichkeit vorhersagen zu können. Adressaten sind vor allem die Ärzte. Denn diese röntgen Kinder. Und sie bestrahlen Kinder, die eine Krebserkrankung haben. Die Folge ist ein messbar höheres Risiko wieder einen Krebs, besonders eine Leukämie, zu bekommen. «Das passiert im einstelligen Prozentbereich bei krebskranken Kindern, die bestrahlt wurden. Nach Jahren bekommen sie einen Zweittumor», sagt Andreas Kulozik, Direktor des Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg. «Gleichwohl haben wir keine Wahl. Würde man die Kinder gar nicht behandeln, würden sie in kurzer Zeit sterben.» Der Trend geht nun dahin, Kinder immer schwächeren Strahlendosen auszusetzen. Personalisierte Behandlungen und neue Röntgengeräte nur für Kinder könnten dazu beitragen. Die strahlensensiblen Kinder könnten so besser vor Krebs geschützt werden.
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