Nach den beiden Masern-Todesfällen in diesem Jahr
Braucht die Schweiz einen Impfzwang?

Nach einem dramatischen Anstieg von Masern-Infektionen werden Rufe nach obligatorischen Impfungen laut. Doch die Massnahme ist politisch umstritten – und auch wissenschaftlich nicht über alle Zweifel erhaben.
Publiziert: 22.05.2019 um 09:57 Uhr
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Aktualisiert: 31.05.2019 um 11:56 Uhr
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Erst wenn 95 Prozent geimpft sind, ist die Bevölkerung gegen Masern geschützt.
Foto: iStock
Roman Rey @higgsmag

Die Masern sind zurück. Seit Anfang Jahr wurden in der Schweiz bereits 166 Fälle registriert, das sind fast achtmal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zwei Männer im Alter von rund 30 und 70 Jahren sind an der hochansteckenden Krankheit gestorben. Es sind die ersten Masern-Toten seit zehn Jahren in der Schweiz.

Nun werden Rufe nach einer staatlichen Impfpflicht laut. «Wer seine Kinder nicht impft, ist asozial», sagte CVP-Nationalrätin Ruth Humbel zu BLICK. Der Bund soll einen Impfzwang mit Bussensystem prüfen.

Doch ein solcher dürfte in der Schweiz zurzeit keine grossen Chancen haben. Wie eine nicht repräsentative higgs-Umfrage im National- und Ständerat zeigt, herrscht keine Einigkeit – weder im Parlament noch innerhalb der Parteien. Rund 45 Mitglieder des Parlaments haben auf unsere E-Mail-Umfrage geantwortet.

Bei der SP halten sich Befürworter und Gegner einer Impfpflicht die Waage. Die bürgerlichen Politiker sprechen sich hingegen mehrheitlich gegen eine Pflicht aus. Aber auch unter den Befürwortern finden sich Vertreter der CVP, FDP, BDP und SVP. So schreibt SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr: «Die Sicherheit aller Personen im Land steht im Zentrum. Eine Impfung kann doppelt Leben retten.»

Es gibt einen Impf-Röstigraben

Was auffällt: Parlamentarier aus der Romandie äussern sich vorwiegend positiv über ein Obligatorium. Das deckt sich mit der Einstellung der Bevölkerung: Laut einer Studie des Pharmakonzerns Pfizer befürworten 61 Prozent der Romands einen Impfzwang für gefährliche Kinderkrankheiten – in der Deutschschweiz sind es nur 19 Prozent. Dazu ist die Impfrate in der Westschweiz höher als in der Deutschschweiz.

Ein genereller Impfzwang sei nicht der richtige Weg, findet Arnaud Chiolero, Professor für Öffentliche Gesundheit an der Universität Bern: «Bei einem dramatischen Anstieg von Infektionen kann eine solche Massnahme zwar gerechtfertigt sein», sagt der Epidemiologe. «Aber das ist in der Schweiz zurzeit nicht der Fall.»

Tatsächlich ist die nationale Impfrate in den letzten Jahren insgesamt gestiegen: Zwischen 2014 und 2016 hatten 93 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz beim Schulaustritt die nötigen zwei Masern-Impfdosen bekommen. Vor zehn Jahren war es noch lediglich jeder zweite Schüler. Einer der kürzlich an Masern verstorbenen Männer war rund 30 Jahre alt – auch er gehört in diese Generation.

Von einer Ausrottung der Masern, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zum Ziel erklärt hat, ist die Schweiz dennoch weit entfernt. Dazu müssten mindestens 95 Prozent der Kinder sowie alle nach 1963 geborenen Erwachsenen mit zwei Dosen geimpft werden. Im Moment sind das nur 89 Prozent der zweijährigen Kinder.

Zwang für Impfgegner-Hochburgen?

Vom BAG veröffentlichte und von der «SonntagsZeitung» ausgewertete Zahlen zeigen: In bestimmten Regionen gab es in den letzten 30 Jahren besonders viele Masern-Ausbrüche. Etwa im Entlebuch im Kanton Luzern, im Kanton Appenzell Innerrhoden und im Bezirk Dorneck im Kanton Solothurn.

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Im Kanton Luzern hatten im Jahr 2016 rund 89 Prozent der 16-Jährigen die nötigen beiden Masern-Impfungen. Im Vergleich zu anderen Deutschschweizer Kantonen liegt der Kanton Luzern damit im hinteren Mittelfeld.

Dennoch stellt sich die Frage: Müsste man Impfgegner-Hochburgen wie das Entlebuch speziell in die Pflicht nehmen, um die Masern endgültig loszuwerden? Laut Epidemiengesetz können Kantone Impfungen für bestimmte Personengruppen für obligatorisch erklären, sofern eine «erhebliche Gefahr» besteht. Für einen Impfzwang besteht hingegen keine Rechtsgrundlage.

Dazu sagt Luzerner Kantonsarzt Roger Harstall: «Ein Obligatorium kann nur in klar definierten Ausnahmefällen für eine klar definierte Gruppe ausgesprochen werden.» Diese Bedingung sei nicht erfüllt, nur weil im Kanton die 95-Prozent-Durchimpfungsrate nicht erreicht werde. Harstall meint zum Thema Obligatorium: «Der Kanton Luzern setzt auf Information und Sensibilisierung und nicht auf ein Impfobligatorium.» Die stetige Steigerung der Durchimpfrate in den letzten Jahren zeige, dass dieser Ansatz der richtige sei.

Der Kantonsarzt spricht eine grundsätzliche Herausforderung in der Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten an: «Die Schweizer Bevölkerung weist eine hohe Mobilität auf. Kantonale Alleingänge sind deshalb nicht zielführend.» Ein allgemeines Obligatorium müsste auf Bundesebene diskutiert werden. Dem pflichtet der Berner Epidemiologe Chiolero bei: «Wie soll man ein Gebiet für eine Impfpflicht definieren? Viele Schweizer arbeiten nicht einmal in dem Kanton, in dem sie leben.»

Impfzwang befeuert das Misstrauen

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie gut eine Impfpflicht überhaupt wirkt. Der Grünen-Nationalrat Michael Töngi ist überzeugt: «Ein Impfobligatorium in der vorhandenen Situation könnte auch dazu führen, dass Eltern mit ihrem Kind einfach nicht mehr zum Arzt gehen.»

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In zwölf EU-Ländern werden Impfungen bereits staatlich verordnet. Eine von der EU finanzierte Studie konnte aber keinen positiven Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfraten ausmachen. Ein Obligatorium kann sogar das Misstrauen stärken, wie eine weitere aktuelle EU-Befragung zeigt. Bürger aus Bulgarien, Lettland und Frankreich äusserten sich besonders skeptisch darüber, ob Impfungen wirken – in allen drei Ländern gibt es eine gesetzliche Impfpflicht.

Viele der Schweizer Politiker fordern denn auch Aufklärung statt Zwang. So zum Beispiel SP-Nationalrätin Bea Heim, die bei den Behörden ein ernstes Versäumnis ortet: «Sie haben zu lange zu wenig informiert und damit das mediale Feld den Impfgegnern überlassen, die sehr aktiv sind.»

Die Solothurner Gesundheitspolitikerin fordert daher: «Das Bundesamt für Gesundheit muss auf allen medialen Kanälen, in den Kitas, Kindergärten und Schulen sachlich und umfassend informieren.»

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