Lange Zeit gab der Ort Yazilikaya in der Türkei Archäologen ein Rätsel auf. 150 Kilometer östlich von Ankara ragen, wie aus dem Nichts, steile Felsen aus Kalkstein hervor. Die Ausbuchtungen zwischen dem Fels bilden Kammern, deren Wände ein langes Band von in den Fels gemeisselten Reliefs ziert. Es zeigt 90 verschiedene Figuren, unter ihnen Menschen, mythische Wesen und Gottheiten einer längst untergegangenen Kultur. Der Kultur der Hethiter.
Zwar wurde Yazilikaya, das zum Unesco-Welterbe gehört, schon Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, doch die Bedeutung der Reliefs und der darauf abgebildeten Figuren blieb unklar. Fanden hier Krönungen oder Begräbnisse statt? Was wirklich hinter dem mystischen Ort steckt, glauben Schweizer Forscher nun entdeckt zu haben.
Die Altertumswissenschaftlerin Rita Gautschy von der Universität Basel und der Geoarchäologe Eberhard Zangger von der Stiftung Luwian Studies haben die Figuren der Reliefs genauer untersucht. Dabei entdeckten sie, dass die Figuren drei Gruppen aus je 12, 30 und 19 Gottheiten bildeten. «Diese Zahlen – 12, 30, 19 – deuten darauf hin, dass es sich bei Yazilikaya um einen Sonne-Mond-Kalender handelt», sagt Zangger.
Sonne und Mond in Einklang bringen
Gemäss der beiden Forschenden symbolisieren die zwölf identischen, männlichen Götter die zwölf Mondmonate eines Jahres. Die 30 unterschiedlichen Figuren stellen die maximal 30 Tage eines Mondmonats dar. In deren Mitte wird der Vollmond von einer speziellen Doppelfigur dargestellt. Zu diesen Zeitpunkten kam es zur Mondfinsternis – ein von den Hethitern gefürchtetes Ereignis, an dem der König in Gefahr war. Um es vorhersagen zu können, mussten sie das Sonnenjahr kennen.
Sonnenjahre wurden anhand der 19 weiblichen Gottheiten abgezählt. Das ist die Anzahl der Jahre, die es braucht, damit Sonne und Mond wieder die gleiche Himmelskonstellation erreichen. Denn ein Jahr aus zwölf Mondmonaten ist ungefähr elf Tage kürzer als ein Sonnenjahr. Um die Mondmonate mit den Sonnenjahren in Einklang zu bringen, musste man etwa alle drei Jahre einen 13. Mondmonat einschieben. Um Tag, Monat und Jahr festzuhalten, nutzten die Hethiter wahrscheinlich bewegliche Säulen, die sie vor den Figuren im Relief positionierten.
Angestrahlt zur Sommersonnenwende
Ebenfalls in den Fels gemeisselt findet sich ein überlebensgrosses Relief des damals herrschenden Königs Tuthalija IV. Dieses liegt das ganze Jahr über im Schatten. Nur an einigen Abenden um die Sommersonnenwende, wenn die Sonne vor dem Untergang ihren nördlichsten Punkt erreicht, wird die Figur vom goldenen Abendlicht erleuchtet.
Dass das Königsrelief zur Sommersonnenwende angestrahlt wurde, diente aber nicht nur dazu, den längsten Tag des Jahres zu bestimmen. «Das Einfallen der Lichtstrahlen symbolisiert im hethitischen Glauben das Eintreten der Sonnengöttin von Arinna», sagt Zangger. Die gleichzeitige Anstrahlung der Königsstatur könne als Übertragung der göttlichen Macht auf den weltlichen Herrscher interpretiert werden.
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