Als Carol Robinson 16 Jahre alt war, kehrte sie der Schule den Rücken zu. Dass die Britin einmal eine der erfolgreichsten Chemikerinnen ihres Landes werden, ja, einen Orden der Queen erhalten würde, das hätte damals niemand gedacht. Am allerwenigsten sie selbst.
«Mein Vater dachte sich, wenn ich anständig tippen kann, ist das schon eine gute Ausbildung», sagt Robinson. Während sie sich an ihr Anfänge erinnert, trinkt sie Tee, hier, in einem Büro auf dem Campus Irchel der Universität Zürich, wo sie am nächsten Tag einen Vortrag hält und wo wir sie treffen.
Karriere mit Hindernissen
Längst ist «Dame Carol» – der Titel «Dame» muss vor ihrem Vornamen stehen, so will es die Etikette der britischen Krone – eine anerkannte Pionierin in der Massenspektrometrie. Das ist eine Analysetechnik, mit der sich die Masse eines chemischen Moleküls und seiner Bausteine bestimmen lässt. Lange Zeit wurde die Methode ausschliesslich benutzt, um die Bestandteile eines Gemischs aufzuschlüsseln oder zu ermitteln, ob eine Substanz Verunreinigungen aufweist.
Doch dank Robinson ist die Massenspektrometrie heute viel mehr: Die Chemieprofessorin war eine der ersten, die damit grössere Biomoleküle wie Proteinen analysierte. Damit machte sie die Methode fit für die Verwendung in der Medikamentenentwicklung. Etwas, das viele ihrer Kollegen zuvor für unmöglich gehalten hatten.
All dies wäre nicht geschehen, wäre die junge Robinson nach ihrem Schulabgang nicht zufällig bei der Pharmafirma Pfizer gelandet. Und zwar als Labortechnikerin. Sie wurde ans Massenspektrometer gesetzt – und fand so ihre Berufung. Mehrere Jahre vermass sie kleine chemische Moleküle. Doch das reichte ihr nicht: Bald fing sie an, berufsbegleitend Chemie zu studieren. Nach abgeschlossenem Studium ging sie für die Doktorarbeit an die Universität Cambridge. Ihren Doktor hatte sie in rekordverdächtigen zwei Jahren.
Ausserhalb des Systems
Danach tat Carol Robinson etwas, was eine normale Forscherkarriere für immer beendet hätte: Sie machte acht Jahre lang Pause, um ihre drei Kinder grosszuziehen. «Unmöglich, von da zurückzukommen», hätten alle gesagt. Doch sie ergatterte sich nach der Auszeit eine Position an der Universität Oxford, wo sie vor allem Proben für andere Wissenschaftler messen sollte. Aus Faszination für die Massenspektroskopie handelte sie sich einen freien Forschungstag pro Woche aus. Dieser eine Wochentag sollte genügen, um ihr Forschungsfeld umzukrempeln.
Während ihrer Abwesenheit waren zwei neue Methoden entwickelt worden, Moleküle ins Massenspektrometer zu bringen. Mit diesen war es erstmals möglich, auch grössere Biomoleküle wie Proteine zu analysieren.
Nun kann man mit Proteinen in einem Massenspektrometer dasselbe machen wie mit kleinen Molekülen, nämlich kontrollieren, ob man wirklich das gewollte Protein in den Händen hält und wie sauber es ist. Oder man kann kreativ werden, wie Robinson. Sie fing an, die Faltung von Proteinen im Massenspektrometer zu untersuchen. Proteine falten sich bei ihrer Herstellung in den Zellen in eine dreidimensionale Struktur, die essentiell für ihre Funktion ist: Durch diese docken sie gezielt an Moleküle an, bringen Reaktionspartner zusammen oder aktivieren und deaktivieren Substanzen. Wie genau das passiert, und was diesen Faltungsprozess beeinflusst, gehörte damals zu den grossen offenen Fragen in der Biochemie.
Gegen die Zweifler
Robinson überlegte sich also eine Methode, wie sie die Faltung im Massenspektrometer untersuchen konnte – und schaffte es schliesslich, sichtbar zu machen, ob ein Protein gefaltet, teilweise gefaltet oder ungeordnet war. Wichtiger aber: Mit ihren Versuchen zeigte die Forscherin zum ersten Mal überhaupt, dass man im Massenspektrometer funktionsfähige Proteine untersuchen konnte – obschon sie als Gas vorliegen.
Robinsons Resultate erstaunten ihr Forschungsfeld und brachten ihr viel Aufmerksamkeit – aber auch Widerstand. Viele ihrer Kollegen konnten damals kaum glauben, dass Proteine auch in der Gasphase ihre funktionale Struktur behalten können. «Bekannte Massenspektrometrie-Spezialisten fanden die Idee, so grosse Proteinkomplexe in die Gasphase zu bringen, komplett verrückt», sagt Robinson. «Das war hart», sagt sie noch heute, an die 30 Jahre später. Sie giesst sich eine weitere Tasse Tee ein und lehnt sich im Stuhl zurück, schüttelt den Kopf leicht. «Ich hatte manchmal das Gefühl, dass man mir nie glauben würde.»
Dennoch hat sich Robinson nicht unterkriegen lassen. Dabei ist sie leise geblieben und zurückhaltend. Wirklich selbstsicher wirkt die Professorin nicht, aber sie muss es sein. Sonst hätte sie längst aufgegeben. Durch ihre Experimente aber wusste sie, dass sie richtig lag, die Methode mit Proteinen funktionierte und sie darauf aufbauen konnte.
Also forschte sie weiter. Mit immer neuen spektakulären wissenschaftlichen Erfolgen brachte Robinson die Zweifler langsam zum Verstummen.
Mittlerweile ist die Massenspektrometrie dank Carol Robinsons Beharrlichkeit und Mut zu einer Methode geworden, die in der Medikamentenentwicklung einen festen Platz hat. Und Robinson ist zum Olymp der Wissenschaft aufgestiegen: Sie war die erste weibliche Chemieprofessorin an der Universität Oxford und später auch an der Universität Cambridge. Weder ihr ungewöhnlicher Bildungsweg noch ihre Mutterschaftspause oder ihre Kritiker konnten ihrer Leidenschaft für ihre Arbeit etwas anhaben.
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