Cern-Physikerin Florencia Canelli über Lehren aus der Pandemie
«Wissenschaft ist keine Glaubenssache»

Florencia Canelli (48) ist Spitzenphysikerin am Cern und an der Uni Zürich. Die Professorin zerstört gern Dinge, um in sie hineinzusehen – und wünscht sich bessere Strukturen für Frauen.
Publiziert: 12.06.2022 um 14:54 Uhr
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Florencia Canelli, Physikerin an der Universität Zürich, arbeitet auch am Cern in Genf.
Foto: Nathalie Taiana
Silvia Tschui

Sie sind Physik-Professorin an der Universität Zürich und forschen am Cern in Genf. Was machen Sie da eigentlich genau?
Florencia Canelli: Es ist ein bisschen so, wie wenn ein Kind wissen will, wie ein Spielzeug funktioniert – es zerschmettert das Spielzeug, um hineinschauen zu können und zu verstehen, wie es funktioniert. Wir tun dasselbe, einfach mit kleinsten Teilchen, hauptsächlich Protonen, die kleiner als Atome sind. Wir beschleunigen sie im Large Hadron Collider und lassen sie aufeinanderprallen, damit sie auseinanderbrechen. Ihre Energie verwandelt sich dann in Materie, und wir können untersuchen, woraus Materie besteht und durch welche Kräfte sie kontrolliert wird. Wir suchen nach den Bausteinen der Materie und Grundgesetzen der Natur.

Was ist dieser Hadron Collider genau?
Der Teilchenbeschleuniger am Cern ist ein kreisförmiger, 27 Kilometer langer, unterirdischer Tunnel, in welchem Partikel mittels spezieller Magnete sehr stark beschleunigt werden, bevor sie aufeinanderprallen.

Weshalb müssen diese Teilchen so beschleunigt werden?
Wir können so Bedingungen herstellen, wie sie im Universum kurz nach dem Urknall herrschten, und Teilchen finden, die unter diesen Bedingungen existierten. Wir können sozusagen in der Zeit zurückreisen und beobachten, wie sich die physikalischen Naturgesetze verhielten, als das Universum extrem heiss und dicht war.

Verzeihen Sie die ketzerische Frage: Aber was hat das heutzutage für einen Sinn?
Das gibt eine sehr lange Antwort. Respektive viele verschiedene Antworten. Eine allgemeine: Jede naturwissenschaftliche Grundlagenforschung hat der Menschheit immensen Fortschritt und unzählige technologische Neuerungen gebracht. Man denke nur an die Entdeckung der Elemente, also des Periodensystems, die Entdeckung der Atome und ihrer Bauteile Elektronen, Protonen und Neutronen. Ohne all dies gäbe es keine Medikamente, keine Düngemittel, keine Elektrizität aus der Steckdose, keine Computer, keine Mobiltelefone, kein GPS, keine medizinische Bildgebung, kein Internet. Was die zukünftigen Anwendungen unserer Grundlagenforschung sein könnten, ist also noch gar nicht absehbar. Ein neues Partikel kann unzählige Anwendungen haben, die noch überhaupt nicht abzuschätzen sind.

Florencia Canelli

Florencia Canelli (48) ist Professorin für Physik an der Universität Zürich. Sie koordiniert das CMS-Experiment am Cern. Dieses sucht zum einen nach neuen Partikeln wie dunkler Materie, versucht aber auch Beweise für unbekannte Dimensionen zu finden. Über 5000 Forscher aus aller Welt sind daran beteiligt. Canelli ist via Argentinien und Paraguay, wo sie aufgewachsen ist, und nach Studien und Forschungsaufenthalten in den USA in die Schweiz gekommen. Sie ist Mutter zweier Kinder im Alter von 12 und 15 Jahren.

Florencia Canelli (48) ist Professorin für Physik an der Universität Zürich. Sie koordiniert das CMS-Experiment am Cern. Dieses sucht zum einen nach neuen Partikeln wie dunkler Materie, versucht aber auch Beweise für unbekannte Dimensionen zu finden. Über 5000 Forscher aus aller Welt sind daran beteiligt. Canelli ist via Argentinien und Paraguay, wo sie aufgewachsen ist, und nach Studien und Forschungsaufenthalten in den USA in die Schweiz gekommen. Sie ist Mutter zweier Kinder im Alter von 12 und 15 Jahren.

Was suchen Sie denn im Moment am Cern?
Oh, es gibt diverse physikalische Phänomene, die wir mit unseren Theorien noch nicht genau erklären können. Eine Antwort haben wir ja bereits gefunden: 2022 ist zehnjähriges Jubiläum der Entdeckung des Higgs-Partikels, das wir damals erstmalig im Hadron Collider beobachten konnten.

Können Sie kurz beschreiben, weshalb die Entdeckung dieses Partikels so wichtig war?
Die Entdeckung des Higgs-Teilchens ist der physikalische Beweis dafür, dass es eine Kraft im Universum gibt, die Partikeln Masse gibt, was nötig ist, damit Atome sich überhaupt formen können. Ohne Higgs-Partikel keine Galaxien, keine Sterne, keine Menschen, rein gar nichts.

Wie sieht eigentlich Ihr Tag aus?
Momentan bin wöchentlich am Cern, meistens aber an der Universität Zürich. Am Cern bin ich Co-Koordinatorin des sogenannten CMS-Experiments und organisiere Aktivitäten, die Resultate von über 2000 Forschern in aller Welt auswerten. Das beinhaltet sehr viele Meetings mit Forschern von Asien bis zu den USA. Meine Tage an der Uni sind hauptsächlich meiner Lehrtätigkeit und der Arbeit mit meiner Forschungsgruppe gewidmet. Ah, mir ist gerade noch eine zweite Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen in den Sinn gekommen.

Schiessen Sie los!
Ich glaube, dass Neugierde darauf, wie die Natur funktioniert und woraus alles besteht, eine Eigenschaft ist, die uns erst menschlich macht. Die Idee, dass Masse aus Partikeln besteht, geht auf Vermutungen indischer Zivilisationen und griechischer Philosophen zurück. Aber erst in den jüngst vergangenen Jahrhunderten haben wir gelernt, dass der einzige verlässliche Weg, diese Fragen zu beantworten, der wissenschaftliche ist – also durch direktes «Befragen» der Natur durch Experimente und ihre Auswertung. Persönlich bin ich einfach immer noch das Kind, das wissen will, wie die Welt funktioniert, und Dinge auseinandernimmt, um sie zu untersuchen.

Stichwort Kind: Sie sind in Argentinien geboren und in Paraguay und Argentinien aufgewachsen. Das sind nicht unbedingt Länder, die für ihre Forschung berühmt sind. Wurden Sie gefördert?
Eigentlich gar nicht. Mein Vater war Automechaniker und meine Mutter Hausfrau. Es gab aber viele sehr offene Diskussionen und Gespräche am Küchentisch.

Und in der Schule?
Auch nicht. Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen. Eigenständiges Denken wurde in der Schule nicht gefördert. Das hatte aber auf eine gewisse Art auch seine Vorteile.

Welche denn?
Die Realität, in der ich lebte, war grundsätzlich fragwürdig. Ich habe mich in eine innere Welt geflüchtet. Ich hatte deshalb keine Ahnung von Grenzen, insbesondere kulturell bedingten Geschlechtserwartungen. Ich war mir nicht bewusst, dass Physik ein männlich dominiertes Feld ist. Hätte ich das gewusst, hätte es mich vielleicht abgeschreckt. Ich bin dann aber später ziemlich auf die Welt gekommen.

Inwiefern?
Zum einen musste ich als Studentin in den USA immens viel nacharbeiten und aufholen verglichen mit meinen Kommilitonen, die vielleicht schon viel früher gefördert wurden und eine bessere Ausbildung erhalten hatten. Zum anderen wurde mir, als ich mein Doktorat fertigstellte, zum ersten Mal die Geschlechterdiskriminierung bewusst. Ich wurde nicht ernst genommen, einfach weil ich eine Frau bin.

Ist dies heutzutage in Ihrem Alltag immer noch ein Problem? Sie arbeiten ja in einem sehr männlich dominierten Umfeld.
Für mich persönlich ist das heute kein Problem mehr. Aber ich sehe das immer noch bei jüngeren, noch nicht so etablierten Frauen. Und das ist wirklich ein gesellschaftliches Problem.

Können Sie das etwas ausführen?
Klar. Etwas über fünfzig Prozent der Menschen sind Frauen. Die Wissenschaft hat unzählige Funktionen, die unserer Gesellschaft nützen: neues Wissen generieren, die Qualität unseres Lebens verbessern. Mit der aktuellen Geschlechterverteilung in der Wissenschaft geht so viel Talent verloren. Stellen Sie sich vor, wie viel weiter die Menschheit in allen Belangen wäre, wenn man in den letzten Jahrhunderten auch weibliche Wissenschaftler gefördert hätte!

Hat sich denn das Geschlechterverhältnis in Ihrem Umfeld über die Jahre etwas verändert?
Ja, aber viel zu langsam. Es gibt zwar mehr junge Physikerinnen und Mathematikerinnen, aber es braucht noch stärkere Bestrebungen, dass sich Frauen in die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) trauen. Ich sehe aber leider immer wieder, dass wirklich talentierte Frauen mit zunehmendem Alter aus der Arbeitswelt verschwinden. Ich denke, dass dies mit Vorurteilen und Strukturen zu tun hat, die gegen Frauen wirken, sobald sie eine Familie gründen. Ich habe selber gemerkt, wie schwierig das ist.

Ich hätte Sie jetzt nicht gefragt, weil man immer nur Frauen die Frage stellt, wie sie Kinder und Karriere unter einen Hut bringen. Aber da Sie es jetzt selber angesprochen haben …
Mein Mann ist auch Physikprofessor. Wir haben zwei Kinder, jetzt sind sie 15 und 12 Jahre alt und wir haben uns die ganze Hausarbeit und Kinderbetreuung 50:50 geteilt. Aber mir ist das wohl viel schwerer gefallen als ihm.

Weshalb?
Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, das hat wohl mit dem Mutterbild unserer Gesellschaft zu tun. Es hat sich aber gelohnt: Meine Kinder sind stolz auf mich und genauso neugierig darauf, wie die Welt funktioniert, wie ich es damals war.

Sie haben in mehreren Ländern gearbeitet und geforscht, unter anderem auch in den USA. Wie ist das Arbeiten in der Schweiz?
Anfangs war ich sehr in dieser US-amerikanischen «The winner takes it all»-Mentalität verhaftet. Man unterscheidet dort auch in Forschungsprojekten zwischen den «Winnern» und den «Losern», und wer zum Beispiel das Forschungsgeld nicht zugesprochen bekommen hat, hat nicht mehr mitzureden. Es geht viel aggressiver zu und her als hier. Ich musste mir ein ganz anderes Vorgehen angewöhnen: eine Lösung zu finden, die beiden Seiten nützt. Das war schwierig zu lernen. Mittlerweile schätze ich den Schweizer Kompromiss sehr.

Und was müsste in der Schweiz besser laufen?
Ich habe grundsätzlich etwas, das besser laufen müsste – nicht nur auf die Schweiz bezogen.

Was denn?
Die Pandemie hat gezeigt: Viele Menschen sind heute der Ansicht, Wissenschaft sei «Glaubenssache». Dabei bedeutet Wissenschaft, dass man die Erkenntnisse, zu denen man kommt, überprüfen können muss. Man muss also ein Experiment mehrmals unter den gleichen Bedingungen wiederholen können und zu denselben Resultaten kommen. Das hat mit Glauben nichts zu tun, sondern das sind einfach Fakten. Ich würde mir wünschen, dass die Wissenschaft in der Gesellschaft den Stellenwert hätte, der ihr zusteht. Jeglicher technologische Fortschritt, den wir als Menschheit erreicht haben, beruht auf Wissenschaft. In Zukunft, mit all den Problemen, die auf uns zukommen, wird die Wissenschaft für die Menschheit überlebenswichtig sein.

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