BLICK: Herr Jakobs, physikalische Grossexperimente wie das Atlas-Projekt, das Sie am Cern leiten, versprechen oft einen riesigen wissenschaftlichen Durchbruch. Spüren Sie einen Druck, die Welt zu retten?
Karl Jakobs: Es gibt gute Gründe dafür, die Welt zu retten. Tatsächlich stehen sehr ernste Probleme an, zum Beispiel die Energieversorgung oder der Klimawandel. Wir entwickeln aber nicht konkret anwendbare Technologien, sondern wir betreiben Grundlagenforschung, die Erkenntnisgewinn an sich für die Menschheit hervorbringt und auch die Grundlage für technologischen Fortschritt ist.
Das Cern hat ein Jahresbudget von 1,2 Milliarden Franken. Würde man das Geld nicht besser in konkrete Projekte wie zum Beispiel Solarenergie investieren?
Tatsächlich hört sich mehr als eine Milliarde Franken pro Jahr nach viel an, aber das wird von 23 Staaten gemeinsam getragen. Und im Vergleich ist es gar nicht so viel – die grossen Universitäten haben ähnliche Budgets. Und natürlich muss die Wissenschaft an aktuellen Problemen arbeiten, aber es braucht beides. Wir müssen Grundlagenforschung machen, um technologischen Fortschritt zu erreichen. Das Geld sollte für beides da sein.
Im Atlas-Projekt fand man 2012 das Higgs-Boson. Spielt es wirklich eine Rolle, ob es dieses Teilchen gibt oder nicht?
Ich sage ganz klar: Ja! Es wäre doch schlimm, wenn wir nicht erklären könnten, wie die Masse eines Elektrons entsteht. Der Higgs-Mechanismus ist die Lösung für dieses Problem.
Ich glaube, ganz vielen Leuten ist das egal.
Das glaube ich nicht. Solche Grundlagenforschung hat unser Leben immer wieder verbessert. Dafür gibt es viele Beispiele.
Welche?
Im 19. Jahrhundert haben britische Physiker wie Michael Faraday an elektrischen und magnetischen Phänomenen geforscht. Viele hielten das für Spinnerei. Denn niemand wusste damals, was man mit Elektrizität einmal würde anfangen können. Heute kommt unsere Welt ohne nicht mehr aus. Oft kommt die Anwendung erst Jahrzehnte nach einer Entdeckung durch die Grundlagenforschung. Bei uns am Cern ist es oft auch die Entwicklung neuer Messinstrumente, die einen praktischen Nutzen hat. Zum Beispiel die Detektoren, die wir für die Suche nach dem Higgs-Boson entwickelt haben. Diese finden sich heute in allen Spitälern in den Kernspintomografen, mit denen man Krankheiten und Verletzungen im Innern des Körpers erkennen kann.
Welchen Nutzen wird denn die Entdeckung des Higgs-Teilchens einmal haben?
Das kann ich Ihnen heute nicht sagen. Es wäre viel zu früh. Vielleicht gibt es eine Anwendung in fünfzig, vielleicht auch erst in hundert Jahren.
Warum haben Sie überhaupt danach gesucht?
Das Higgs-Teilchen wurde vor über 50 Jahren vorausgesagt, von Peter Higgs, einem Physiker aus Edinburgh, und zwei belgischen Kollegen, Robert Brout und François Englert.
Wie kamen diese denn auf die Idee, dass es das Teilchen geben muss?
Es gibt in der Natur vier fundamentale Kräfte – zwei davon kennen alle. Einmal die Gravitation oder Schwerkraft, die dafür sorgt, dass ein Apfel zu Boden fällt oder die Planeten um die Sonne kreisen. Dann die elektromagnetische Kraft, die alle elektrischen und magnetischen Phänomene beschreibt, zum Beispiel die Radiowellen, über die unsere Handys Daten empfangen. Im subatomaren Bereich gibt es zwei weitere Kräfte: Eine nennt sich die starke Kernkraft, die andere die schwache. Physiker können diese vier Kräfte präzise beschreiben, durch die sogenannten Quantenfeldtheorie. Diese Theorie funktioniert hervorragend, und man kann sie testen. Aber ein Problem gab es: Das Einzige, was die Theorie nicht beschreiben kann, ist die Masse der Teilchen.
Jetzt kommt wohl Higgs ins Spiel.
Ja. Wir wissen, dass die Bausteine der Materie – Elektronen und Quarks, die die Protonen und Neutronen bilden – eine Masse haben. Aber in den Theorien, die die Wechselwirkungen der Elementarteilchen beschreiben, den Quantenfeldtheorien, können diese Teilchen keine Masse haben. Sobald man mit Massen rechnet, gehen die Gleichungen nicht mehr auf. Nun waren die Physiker in den Sechzigerjahren aber nicht bereit, die Theorie aufzugeben, weil sie eben sonst so hervorragend funktioniert. Daher haben Higgs und Kollegen ein zusätzliches Teilchenfeld postuliert. Dieses übernimmt die Rolle, den Teilchen eine Masse zu vermitteln – und dann geht die Theorie wieder auf. Unsere Experimente haben gezeigt: Peter Higgs hatte recht.
Die Physiker waren nicht bereit, eine Theorie aufzugeben. Also haben sie einfach ein weiteres Teilchen postuliert?
Ja. Solche Erweiterungen von Theorien sind durchaus möglich.
Das taten auch die alten Griechen, die nicht verstanden, warum Wolken manchmal grollen. Also erfanden sie einfach einen Donnergott als Erklärung, um ihr Weltbild nicht ins Wanken zu bringen.
Da gibt es aber einen grossen Unterschied. Zunächst einmal gab es einen guten Grund, die Quantenfeldtheorie nicht einfach aufzugeben: Sie hatte eine ausserordentlich gute Vorhersagekraft, vor allem für die Quantenelektrodynamik. Deshalb versuchte man, das Modell zu erweitern. Zwar hat es fünfzig Jahre gedauert, bis wir die Vorhersage von Peter Higgs am Cern beweisen konnten. Aber 2012 konnten wir die Masse des Higgs-Teilchens messen. Damit war der Beweis erbracht. Die Berechnungen von Peter Higgs und Kollegen stimmten hervorragend mit unseren Resultaten überein. Im Gegensatz dazu haben die alten Griechen ihren Donnergott nie messen oder beweisen können, er hat einfach eine Lücke in ihrem Weltbild gefüllt.
Ironischerweise trägt das Higgs-Teilchen auch den Namen Gottesteilchen, als würde auch es eine solche Lücke füllen.
Das waren aber nicht Physiker, die dem Teilchen diesen Namen gegeben haben, sondern die Medien. Ein Wissenschaftler aus den USA wurde von einem Journalisten nach dem Higgs-Teilchen gefragt und hat geantwortet: «Ah, dieses gottverdammte Teilchen.» Der Journalist hat es dann umgedreht und daraus das «Gottesteilchen» gemacht.
Nun ist das Higgs-Teilchen gefunden. Was bleibt zu tun?
Ganz vieles. Wir haben mittlerweile mehr als 800 wissenschaftliche Publikationen geschrieben. Wir machen hochwertige Tests der Vorhersagen der Quantenfeldtheorie. In der Grundlagenforschung kommt man nie an ein Ende.
Mit Ihrer Forschung dringen Sie immer tiefer ein in die Materie, und immer weiter zurück in der Geschichte des Universums. Immer näher an den Urknall. Wie können Sie überhaupt wissen, wann genau er war?
Er war vor 13,8 Milliarden Jahren.
Warum nicht vor 14 oder 12?
Dann lägen Sie im Widerspruch zu unseren experimentellen Beobachtungen. Das wäre ganz schlecht.
Aber den Urknall selbst können Sie nicht erklären, nur die Zeit kurz danach.
Ja. Wir können den Urknall oder das, was davor war, nicht erklären. Da brechen unsere heutigen Theorien zusammen. Aber die Wissenschaftler aus dem Gebiet der Theoretischen Physik arbeiten daran.
Glaubt ein Physiker, der sich so nah dem Urknall nähert, plötzlich an Gott? Oder erst recht nicht mehr?
Gott hat immer herhalten müssen für Dinge, die man nicht erklären kann. Die Physik hat ihn immer weiter zurückgedrängt. Aber wir werden niemals beweisen können, ob es ihn gibt oder nicht. Das muss jeder für sich ausmachen.
Glauben Sie an Gott?
Das möchte ich nicht sagen. Aber ich respektiere sowohl die Weltsicht, dass es einen Gott gibt, wie auch die, dass es keinen gibt.
Kürzlich haben Physiker das erste Bild eines Schwarzen Lochs veröffentlicht. Ich sehe auf dem Bild einen unscharfen Donut in einem dunklen Küchenschrank. Das soll ein Schwarzes Loch sein?
Ja. Was man auf dem Bild sieht, ist der Schatten eines Schwarzen Lochs. Ein Schwarzes Loch können Sie ja nicht sehen, denn es strahlt kein Licht ab. Auf dem Bild sieht man Materie, die sich in den Strudel um das Schwarze Loch herum bewegt, sehr heiss ist und Licht abstrahlt. Es ist wieder ein Beispiel, wie Theorie und Experiment zusammenarbeiten: Die Theorie der Schwarzen Löcher wurde durch das Bild hervorragend verifiziert. Und es ist ein weiteres Beispiel für eine riesige internationale Zusammenarbeit. Es ist einer der wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche der letzten Jahrzehnte.
Solche physikalischen Grossexperimente machen immer viele Schlagzeilen: Higgs-Teilchen, Gravitationswellen, Schwarzes Loch. Manchmal erweist sich ein Experiment aber auch als Flop. Im Jahr 2011 zum Beispiel wurde eine Sensation verkündet: Neutrinos bewegen sich schneller fort als das Licht, hiess es – das hätte die ganze Physik auf den Kopf gestellt. Doch dann stellte man fest: Es war ein Fehler.
Das Cern hat das nicht publiziert. Sondern die beteiligten Physiker, die ein Experiment in Italien, im Gran-Sasso-Massiv, durchführten. Das Cern hat einzig seine Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Ein Neutrinostrahl wurde bei uns am Cern erzeugt und nach Italien geschickt. Alle Physiker waren damals sehr skeptisch. Sofort begannen sie damit, die Behauptung zu überprüfen und den Effekt nachzumessen. Aber es kam nicht zu dieser Bestätigung. Es war ein experimenteller Fehler. Die Forscher haben wohl zu früh publiziert und nicht genug Checks durchgeführt.
Wie kann so ein krasser Fehler passieren?
Das Ergebnis wäre eine wissenschaftliche Sensation gewesen. Da ist der Druck riesig, der Erste zu sein, der es publiziert.
Könnte das auch Ihnen passieren?
Ich glaube nicht. Im Atlas-Projekt arbeiten 3000 Wissenschaftler. Jedes Ergebnis, jede Publikation wird stark hinterfragt. Sehr oft haben wir zwei Analyseteams, die komplett unabhängig voneinander arbeiten und auf dasselbe Ergebnis kommen müssen. Dann hinterfragen noch weitere unabhängige Wissenschaftler die Ergebnisse, bevor wir sie veröffentlichen.
Wovon träumen Sie noch? Was möchten Sie finden?
Ich habe über 20 Jahre nach dem Higgs-Teilchen gesucht. Es war eine grosse Genugtuung, als wir es gefunden haben. Der nächste grosse Traum wäre, die Frage nach der Dunklen Materie zu lösen. Etwa 24 Prozent der Energiedichte des Universums bestehen wahrscheinlich daraus. Das zeigen Messungen. Die Dunkle Materie muss vorhanden sein, aber nachweisen konnten wir sie noch nicht. Am Cern versuchen wir sie unter kontrollierten Bedingungen herzustellen. Parallel werden Experimente durchgeführt, die versuchen, direkte Stossprozesse zwischen Teilchen der Dunklen Materie und gewöhnlicher Materie nachzuweisen.
Wie weit sind Sie damit?
Der Nachweis ist uns bisher leider nicht gelungen. Das heisst aber nicht, dass wir sie nicht noch finden. Wahrscheinlich brauchen wir einen grösseren Teilchenbeschleuniger oder deutlich mehr Messdaten dazu.
Kürzlich hat die deutsche Physikerin Sabine Hossenfelder öffentlich moniert, das Cern verschwende Geld, indem es konstant nach neuen Geräten verlange, mit denen irgendwelche Nachweise dann gelingen sollen.
Die Kritik ist nicht haltbar, da sich kein Mensch anmassen kann zu wissen, wie die Natur beschaffen ist und wo man neue Teilchen tatsächlich finden wird oder nicht. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, die zugänglichen Energie- und Massenbereiche zu untersuchen und in Zukunft mit einem grösseren Beschleuniger auch physikalisches Neuland zu erforschen.
Es gibt Pläne für einen neuen Teilchenbeschleuniger mit einer sagenhaften Länge von 100 Kilometern. Werden Sie den noch erleben?
Das weiss ich nicht. Vielleicht ist er 2045 fertiggestellt. Da bin ich nicht mehr so jung.
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