Zu Besuch bei den Mehrbesseren der Schweiz
Der Adel lebt noch

Auch in der republikanischen Eidgenossenschaft gibt es Adlige. Die einen sind stolz auf ihr blaues Blut, andere tun alles, um normal zu sein. Eine Spurensuche.
Publiziert: 30.09.2018 um 21:32 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 09:47 Uhr
René Lüchinger

Der Mann ist «bekennender Schlösser-Fan». Sagt er ­selber. Und wenn einer ein Faible hat für herrschaftliche Anwesen, hat der sich notgedrungen auch für die Adels­familien zu interessieren, die dort oftmals über Generationen wohnten. In diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass ein Urahne einst ein Schlösschen erworben hatte: Schloss Rudenz in Flüelen UR, ­ursprünglich ein befestigter Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert zur Kontrolle des dortigen Reichszolls.

Mit dieser Disposition im Blut hat sich der Journalist Andreas Z’Graggen auf Spuren­suche gemacht und ein Buch über den «Adel in der Schweiz» geschrieben. Ein Werk voller Geschichten und Anekdoten aus dem Leben der Aristo­kratie, die es in der heute republikanischen Schweiz über Jahrhunderte gegeben hat. Die Nachfahren dieser einst einflussreichen Geschlechter gibt es noch heute. Es ist dies eine Reise in die Vergangenheit, die in die ­Gegenwart führt.

Von Hallwyl: Die Flexiblen

Eine der ältesten Adelsfamilien des Landes sind die aargauischen Hallwyl. Sie kämpften 1386 in der Schlacht von Sempach als Dienst­adlige der Habsburger, drei von ­ihnen verloren dabei ihr Leben. Neunzig Jahre später war ein Hallwyl auf der Seite der Eidgenossen siegreicher Anführer in der Schlacht von Murten. Das zeigt das Überlebensrezept dieses Adels­geschlechts: eine geschmeidige Anpassung an sich wandelnde politische Zeitläufte. Deshalb ist es wohl gelungen, das Wasserschloss Hallwyl im Aargauer Seetal seit fast 900 Jahren in Familien­besitz zu ­behalten. «Wir waren stets treue ­Gefolgsleute, erst der Lenzburger, dann der Kyburger und hernach der Habsburger», sagt Michael von Hallwyl.

«Dass wir die Burg so ­lange halten konnten, lag möglicherweise auch daran, dass die Familie stets gute Beziehungen zur Bevölkerung pflegte. Wir waren bürgernah und mit den Seetaler Bauern und Handwerkern in ordentlichem Ein­vernehmen.» Sein Sohn Christopher ist der vorerst letzte Namensträger. Was, wenn es nach ihm ­keine von Hallwyl mehr gibt? Das sieht der ­Vater entspannt. «Dann ist das Schicksal. Schicksal der Geschichte. Man hat seinen Teil geleistet, und wenn die Zeit um ist, ist sie um.»

Pfyffer: Des Kaisers Abkömmlinge

Weiter gehts nach Luzern, zu den Pfyffer, dem bedeutendsten Adelsgeschlecht der Leuchtenstadt. Als Schultheiss Jost Pfyffer von ­Wyher im Jahr 1601 Elisabeth ­Bodmer aus Baden ehelichte, konnten sich deren Nachfahren gar als Abkömmlinge von Kaiser Karl dem Grossen rühmen – über verschlungene Wege waren die Vorfahren der Gattin nämlich entfernt mit dem grossen Karl verwandt. Einer aus dem Patriziergeschlecht war derart mächtig und reich, dass sie ihn nur den «Schweizerkönig» nannten: Ludwig Pyffer besass das Stammschloss Atishofen und das Schloss Wyher – beide stehen heute auf kantonalem Grund und sind ­öffentlich zugänglich. Ein anderer, Max Alphons Pfyffer, erbaute viele Jahre danach mit der Familie seiner Frau das Hotel Luzernerhof und auch das National, welches er ­später dem Hotelpionier César Ritz übergab.

«Bedeutend wurden die Pfyffer erst Ende des 15. Jahrhunderts», sagt der Nachfahre Bernhard ­Pfyffer-Feer zu Buttisholz. «Sie galten als Emporkömmlinge und wurden von den eingesessenen ­Patriziern denn auch eher verächtlich behandelt. Ihre Macht beruhte auf Politik, Militär und Kirche.» Geld verdienten sie vorab im Kriegsdienst in Spanien, Sardinien, Sizilien, vor allem aber in Neapel, Frankreich und Rom.

Er selber habe mit dieser ­Geschichte nichts mehr am Hut. «Mich interessieren weder Titel noch Adel. Ich verkehre auch nicht bewusst in diesen Kreisen», sagt Bernhard Pfyffer-Feer zu ­Buttisholz, «mir ist es wohler im Wald und auf der Jagd. Die Zeit der Aristokraten ist ohnehin längst vorbei. Aus ­meiner Sicht war diese Zeit eine ungerechte, deshalb traure ich ihr auch in keiner Weise nach.» Der ETH-­Absolvent arbeitete einst als Forstingenieur, heute verlebt er die Sommermonate zusammen mit seiner Frau auf dem 1571 erbauten Schloss Buttisholz bei Ruswil LU.

Von Wattenwyl: Die Berner Adligen

In Bern «kauert einer im Ährenfeld und strahlt», schreibt Autor Andreas Z’Graggen «Er ist mit ­Begeisterung Bauer.» Die Rede ist von Freiherr Sigmund von Wattenwyl, diplomierter Landwirt und ­Besitzer des 350 Jahre alten, zwischen Bern und Thun gelegenen Barockschlosses Oberdiessbach. Ungewöhnlich für einen Träger ­dieses Namens. «Seine Vorfahren würden darob wohl vor Entsetzen die Hände über ihrem parfümierten Perücken zusammenschlagen – quel malheur, e Puur i dr Familie», urteilt Z’Graggen.

Von Wattenwyls in Bern waren bedeutsam und vornehm. Sie ­waren Politiker, Kriegsherren, Händler, Kaufleute, Vögte, ­Pfarrer, sogar Grosswildjäger. Aber ein Landwirt? Das war für diese ­Patrizier einfach nicht standes­gemäss. Standesgemäss war ein ­Jacob von Wattenwyl, der erste Schultheiss der Familie, der im Schwabenkrieg von 1499 einer der eidgenössischen Heerführer gewesen war. Ein anderer aus der weitläufigen Familie, Gérard Joseph de Watteville, kämpfte im 17. Jahrhundert bei Cremona für die spanische Krone gegen Ludwig XIV. Über ihn kursierten noch ganz andere Geschichten. Er habe auf der Flucht aus einem Karthäuser­kloster einen Prior ermordet. Aus Madrid eine Nonne in die Türkei verschleppt. Zum Islam konvertiert und auf dem Peloponnes ein ­Harem geführt.

Standesgemäss war das wohl auch nicht gerade. Aber er ­selber hätte wohl einen Heiden­spass an diesen Legenden, die sich seine Nachfahren über sein Leben erzählen. Zum Beispiel, wenn sich die Familie einmal im Jahr im ­Von-Wattenwyl-Haus an der Berner Junkerngasse zu einer sogenannten «Familienkiste» trifft, ein Verein nach altbernischem Recht, der das Familienvermögen verwaltet, Stipendien oder finanzielle ­Hilfe für unverschuldet in Not geratene Familienmitglieder leistet. Die «Kiste» hat 58 Stimmberech­tigte. Nur Männer. «Ein Macho-Klub», sagt Sigmund von Wattenwyl, dem wohl ist mit seinem ­Bauerntum und der den vergangenen Zeiten keinen Deut nach­trauert. «Ich bin lieber hier Bauer als mit 16 in Frankreich in einem ­Schützengraben gestorben.» Und er hätte zur Zeit seiner Vorfahren schliesslich auch seine Frau, eine Waadtländer Bauerntochter, nie heiraten dürfen.

Von Meiss: Die Zürcher Patrizier

Sie sind die älteste Familie ­Zürichs: Der Erste in der Genera­tio­nenfolge, ein Waltherus Meisa, ­wurde im Jahr 1225 erstmals urkundlich erwähnt, es folgten knapp 800 Jahre Dauerpräsenz der Adelsfamilie von Meiss in der Limmatstadt. Vieles verschwand jedoch im Dunkel der Geschichte, sagt Florian von Meiss, der als Rechtsanwalt arbeitet und in Zürich wohnt. «Wir wissen nichts – weder wieso er so hiess, noch woher die Familie ­ursprünglich stammt. Wie die ­Familie es anstellte, Kar­rie­re zu ­machen, wie sie im Detail zu all ­ihren Ämtern, Vogteien und ­Gerichtsherrschaften gelangte, ist ­eigentlich auch nicht bekannt. Sicher eine grosse Rolle spielten die Heiraten.»

Gewiss ist auch, dass eine Fülle von Nachkommen in ­Zürich Spuren hinterlassen haben. Allein der Stammbaum ist viereinhalb Meter lang. Die von Meiss sassen im Stadtrat, stellten Bürgermeister und waren so oft im Stadt­regiment vertreten wie kaum ein anderes Zürcher ­Geschlecht. Bis heute sind von Meiss Mitglied der exklusiven ­Gesellschaft Schildner zum ­Schneggen. «Die Schildner waren die führenden Geschlechter Zürichs und hatten gewisser­massen ­ihren eigenen Klub», sagt Florian von Meiss. «Heute ist diese Vereinigung politisch bedeutungslos.» Im Schneggen treffen sich die Mitglieder aus den ehemals einflussreichen Zürcher Adelsfamilien lediglich noch zu geselligen Anlässen. ­

Ähnlich ist dies bei der Gesellschaft zur ­Constaffel: Früher war das so ­etwas wie die Zunft des Patri­ziats gewesen, zu deren Mitgründern im 14. Jahrhundert auch die von Meiss gehört hatten. Vergangenheit sind auch verschiedene Immobilien­besitztümer der von Meiss an bester Lage in der Stadt. Um das Jahr 1400 – damals war ein von Meiss Bürgermeister – erwarb die Familie das ­sogenannte Steinhaus an der Kirchgasse. Eine prächtige Liegenschaft, die vier Jahrhunderte lang in ihrem Besitz blieb. «Ich betrachte mich als Glied einer langen ­Kette», sagt ­Florian von Meiss. Wer so denkt, hat wohl auch einen Sinn für ­alles Vergängliche wie Reichtum, Macht, Eigentum. «Immerhin be­sitzen wir mitten in der Stadt noch ­einen ­wunderschönen Friedhofsplatz oberhalb des Bahnhofs Stadelhofen», meint er leicht belustigt.

Das Fazit des Adelsfans Andreas Z’Graggen? «Die Gespräche mit den Nachfahren waren ein lehrreiches Vergnügen. Lehrreich, weil sie viel über die Zeit von damals wissen. Ein Vergnügen, weil jene, die wir getroffen haben, äusserst an­genehme Persönlichkeiten sind. Kein Dünkel, keine Überheblichkeit, vielleicht gelegentlich ein ­Kokettieren mit der familiären Vergangenheit.» Oder, wie Sigmund von Wattenwyl es auf den Punkt ­gebracht hat: «I weiss scho, wär i bi, aber das geit niemer nüt a.»

Andreas Z’Graggen: «Adel in der Schweiz. Wie Herrschaftsfamilien unser Land über ­Jahrhunderte prägten», NZZ Libro. Ab sofort im Buchhandel.

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