Vom Schimpfwort zum Kompliment
Wir sind alle Nerds

Lange Zeit galt es als Beleidigung, jemanden einen Nerd zu nennen. Doch das Bild des asozialen Computerfreaks hat sich gewandelt. Die deutsche ​​Autorin und Kulturhistorikerin Annekathrin Kohout geht dem popkulturellen Phänomen auf den Grund.
Publiziert: 30.01.2022 um 18:42 Uhr
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Aktualisiert: 31.01.2022 um 16:55 Uhr
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Der Nerd in Form des verrückten Professors: Julius Kelp (Jerry Lewis) versucht im Film «The Nutty Professor» (1963) das Herz von Stella Purdy (Stella Stevens) zu erobern.
Foto: imago images/Mary Evans
Jonas Dreyfus

Er trägt eine Brille, die ihn nicht unbedingt schöner macht, sitzt tagelang vor dem Bildschirm und verfällt in eine Schockstarre, wenn eine Frau seinen Weg kreuzt: der Nerd. Seit 2004 steht die Bezeichnung im Duden als abwertendes Slangwort für einen «sehr intelligenten, aber sozial isolierten Computerfan». Woher sie stammt, ist unklar. Klar ist: Es gibt praktisch keine Teenie-Serien, keine romantischen Komödien, keine Science-Fiction- und Blödelfilme, die ohne einen Nerd auskommen. In der Geschichte der Popkultur haben sich seine Charaktereigenschaften über die Jahre aber stark verändert.

«Heutzutage lässt sich fast jeder als Nerd bezeichnen», sagt Annekathrin Kohout (32). Die deutsche Kulturhistorikerin und Medienwissenschaftlerin zeigt in ihrem eben erschienenen Sachbuch «Nerds. Eine Popkulturgeschichte» auf, wie sich das Schimpfwort beinahe schon zu einem Kompliment entwickelt hat.

Von Quadratschädel zum Nerd

Eine Art Vorgänger des Nerds ist der sogenannte Quadratschädel oder «Square», der in den 50er-Jahren das Feindbild der Beatniks symbolisiert, die sich gegen das Spiessbürgertum auflehnen. In den Sixties tritt der Nerd erstmals als solcher in Erscheinung in den Teen-Movies dieser Zeit. Er ist der unbeliebteste Junge der Schule und dient als Gegenstück zum Rebellen, den Männer bewundern und Frauen anhimmeln.

In den 70er-Jahren ändert sich für den Nerd in den Teenagerfilmen nichts – ausser, dass sein Gegenspieler jetzt der erfolgreichste Spieler der American-Football-Schulmannschaft ist, der Quarterback. Das Image des asozialen Computerfreaks und damit das gängigste Image des Nerds entsteht in den 80er-Jahren mit dem Siegeszug der Computerindustrie und des Internets, der damals seinen Anfang nimmt.

Das Internet als etwas Unheimliches

Man müsse sich vor Augen halten, sagt Kohout, dass das Internet und alles, was mit Computern zu tun habe, für viele Menschen noch bis in die 90er-Jahre etwas Unheimliches, wenn nicht sogar Gefährliches symbolisiert habe. Gleichzeitig sei die Onlinewelt eine Art geschützter Ort gewesen für Menschen, die in der realen Welt nicht immer dazu eingeladen gewesen seien, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Soziale Plattformen im Internet, damals hiessen sie Chatrooms, seien geschützte Räume für Ausgegrenzte gewesen, schreibt Kohout. «Wer ins Internet ging, dem unterstellte man sogar, sich verstecken zu wollen.»

Heute, wo fast jeder ein Smartphone besitzt, hat sich das ins Gegenteil gewandelt: Wer schlecht mit Technik und sozialen Medien umgehen kann, gilt – je nach Branche, in der er arbeitet, je nach Generation, der er angehört – schnell einmal als seltsam. Zudem, sagt Kohout, seien die User des Internets meist sehr spezialisiert. Egal, ob es um bestimmte Arten des Bodybuildings geht, um fair produzierte Mode oder alternative Ernährungsformen – es gäbe in dieser Welt sehr viele Menschen, die sich auf einem ganz bestimmten Gebiet wahnsinnig gut auskennen.

Für diesen Hyperfokus, wie Kohout es nennt, mussten Nerds früher Hohn und Spott ertragen. Ein Nerd zu sein, sagt Kohout, sei heute etwas Positives oder zumindest ein Stück weit notwendig, um den Anschluss an grosse Teile des gesellschaftlichen Lebens nicht zu verlieren.


Die fünf wichtigsten Typen aus der Geschichte des Nerds:

Der verrückte Professor
Jüngere Generationen kennen die Figur des verrückten Professors vielleicht aus «Back to the Future» oder den Blödelfilmen mit Eddie Murphy. Das erste Mal in Erscheinung trat sie jedoch 1963 in der Science-Fiction-Komödie «The Nutty Professor». Jerry Lewis (1926– 2017) spielt darin den unattraktiven Chemieprofessor Julius Kelp, der mit Hilfe eines Zaubertranks, der ihn schön und stark macht, das Herz der Studentin Stella Purdy (Stella Stevens, 83) zu erobern versucht. Kelp vertritt einen Typ Nerd, der gemäss Annekathrin Kohout stark vom sogenannten Anti-Intellektualismus der amerikanischen Nachkriegszeit geprägt ist. In ihm zeigt sich die Aversion des «arbeitenden Volkes» gegen die «Studierten», die – so das Klischee – das Gefühl haben, sie seien etwas Besseres. Als sich Purdy im Film in Kelps falsches Ich verliebt, ist die Freude für sie nur von kurzer Dauer. Buddy Love, wie das Alter Ego heisst, ist nämlich nicht nur attraktiv und muskulös, sondern auch vorlaut und überheblich. Der Film endet damit, dass Kelp und Purdy ein Paar werden, sie sich aber «für besondere Gelegenheiten» ein Fläschchen des Verwandlungsmittels aufbewahrt. Die Message ist klar: Schön zu sein, ist nicht das Wichtigste auf der Welt. Sie führt aber schneller zum Ziel als alles andere.

Der Teenager-Nerd
Die Figur taucht meistens in Filmen und Serien auf, die an Schulen oder in Vorstadt-Nachbarschaften in den USA spielen. «Stranger Things» und «Glee» sind jüngere Beispiele oder «Superbad» und Stephen Kings «Es». Einer der ersten Nerds, der in Form des Teenie-Aussenseiters Berühmtheit erlangte, war Steve Urkel, gespielt von Jaleel White (heute 45), aus «Family Matters» («Alle unter einem Dach»). Die Sitcom lief ab 1989 fast zehn Jahre auf dem US-Sender ABC. Urkel ist der Nachbarsjunge der Familie Winslow, deren Haus im Zentrum des Geschehens steht. Er ist wahnsinnig tollpatschig, macht ungewollt Grimassen, trägt eine riesige Brille, Hosenträger, Hochwasserhosen und weisse Socken. Laut Kohout reiht sich Urkel in eine lange Liste von Teenager-Nerds ein, die einen – wenn auch subtilen – Anti-Intellektualismus befördern, weil sie kluge Schüler zeigen, deren einzige Sorge es ist, Popularität auf dem Campus oder bei Autoritäten zu erlangen. Das Revolutionäre an der Figur von Urkel, sagt Kohout, war damals, als sie erstmals am TV erschien, ihre afroamerikanische Herkunft. Denn: Klugheit war eine Eigenschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt im Mainstream-Film weissen Männern vorbehalten war – auch wenn sie in Form eines Nerds daherkam.

Das Superhirn
«The Big Bang Theory» gehört zu den erfolgreichsten Serien überhaupt. Als der US-Sender CBS 2019 nach zwölf Jahren die letzte Folge zeigte, schauten 18 Millionen zu. Die Sitcom dreht sich um die WG zweier junger Physiker, gespielt von Johnny Galecki (46) und Jim Parsons (48), deren Cleverness in Kombination mit der Naivität ihrer Nachbarin Penny (Kaley Cuoco) für komische Situationen sorgt. Die Art, wie Nerds als coole, schlaue Typen mit liebenswerten Macken dargestellt werden, hat, wie Kohout im Buch aufzeigt, massgeblich dazu beigetragen, dass die Figur an Popularität gewonnen hat. Speziell an der Serie ist, dass sie Nerds unter sich zeigt, und nicht als Gegenpol zu anderen, beliebten Figuren. Die WG-Bewohner interessieren sich nicht nur für Quantenphysik, sondern auch für Popkultur, was ihren Coolness-Faktor bei Zuschauern steigert, die sich nicht für Wissenschaft interessieren. So beliebt die Serie war, so konstant war auch der Vorwurf, manche ihrer Gags seien frauenfeindlich und rassistisch. Es ist dann auch eine der wenigen negativen Charaktereigenschaften, die zumindest dem männlichen Nerd noch heute anhaftet: fehlende Empathie. Sprich: die Unfähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

Der Silicon-Valley-Nerd
Dem Nerd, der im kalifornischen Silicon Valley sein Glück versucht und zum superreichen Tech-Mogul aufsteigt, widmet Kohout in ihrem Buch ein ganzes Kapitel. Während die erste Generation des Silicon-Valley-Nerds, darunter Bill Gates (66), ihren wirtschaftlichen Erfolg in Interviews noch Zufall und Glück zuschrieb, hatte die zweite Generation, allen voran Mark Zuckerberg (37), ganz klar das Ziel vor Augen, möglichst viel Geld zu verdienen. Zumindest wird ihnen das in der Popkultur so angedichtet. Kohout zeigt das anhand des Films «The Social Network» (2010) auf, einem Biopic über Zuckerberg (gespielt von Jesse Eisenberg), und über die Anfänge der Erfolgsgeschichte von Facebook. Kohout zitiert dazu den kanadischen Autor Douglas Coupland, der in seinem Sachbuch «Microsklaven» schreibt, dass der Silicon-Valley-Nerd kein moralisches Problem damit habe, reich zu werden – im Gegenteil. Er habe seine vermeintlichen Macken zu «Schlüsselqualifikationen» umdefiniert und repräsentiere als «cooler Kapitalist» einen neuen, hippen Lifestyle.

Die Nerdette
Die Figur des Nerds sei klassischerweise männlich, weiss und heterosexuell, sagt Kohout. Die wenigen weiblichen Nerds, die die Popkultur bisher hervorgebracht hat, sind so intelligent wie ihre männlichen Pendants. Allerdings diene diese Eigenschaft, so Kohout, lediglich dazu, sie als sexuell nicht anziehend auszuweisen. Ein Beispiel dafür ist die Strickweste und Hornbrille tragende Patty Greene, gespielt von Sarah Jessica Parker (heute 56), in der 80er-Sitcom «Square Pegs». Anders bei der Comicfigur Daria aus der Zeichentrickserie «Beavis and Butt-Head», die Ende der 90er-Jahre ein Spinn-off erhält. Sie kommt als eine Art positiv dargestellte Anti-Barbie daher, die auch männliche Zuschauer begeisterte. Ganz selten seien hingegen, sagt Kohout, Figuren, die die Charakterzüge eines Nerds tragen und sich trotzdem ihre Weiblichkeit bewahren. Zu ihnen gehört Lisa aus der Serie «The Simpsons». Sie ist supergescheit, spielt leidenschaftlich Saxofon und trägt dazu immer ein Kleidchen und eine Perlenkette.

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