Beat Glogger: Frau von Castelberg, die Bevölkerungszahl steigt und die Menschen werden immer älter, müssen also länger gepflegt werden. Ist es nicht logisch, dass die Ausgaben im Gesundheitswesen steigen?
Brida von Castelberg: Die Menschen werden zwar älter, aber sie bleiben gleichzeitig länger gesund – gerade weil die Medizin so gut ist, weil die Ernährung und die Lebensumstände besser sind. Kostenintensiv sind vor allem die letzten zwei Lebensjahre, und die haben sich verschoben. Allerdings wird die Bevölkerung als Ganzes nicht nur älter, durch die Migration kommen junge Menschen ins Land und die Geburtenrate steigt wieder. Was unschön «Überalterung» genannt wird, ist nicht das Hauptproblem unserer Medizinkosten.
Was sind denn die wahren Kostentreiber?
Ein Teil ist mangelnde Effizienz. Man schätzt, dass allein durch Effizienzsteigerungen ungefähr 20 Prozent der Kosten einzusparen wären. Wenn man wie ich im Spital gearbeitet hat, weiss man, dass diese 20 Prozent noch tief gegriffen sind.
Wo genau ist man zu wenig effizient?
Zum Beispiel gibt es Doppelerfassungen und es werden Daten erhoben, die niemand braucht. Heute beschäftigen sich Assistenzärzte nur in 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Patienten, der Rest geht für die Administration drauf. Und das ist einer guten Medizin nicht förderlich.
Wer treibt denn diese Bürokratisierung an, wenn es doch eine offensichtliche Fehlentwicklung ist?
Vieles fällt unter das Label Qualitätsverbesserung. Da werden enorm viele Daten gesammelt, in der Hoffnung, so die Qualität zu verbessern. Das mag zu einem gewissen Grad stimmen. Aber es wird auch vieles aufgezeichnet, was nichts bringt. Es ist schwierig zu kontrollieren, ob das was gemacht wird, überhaupt nötig ist.
Heute verfügt fast jedes Spital über modernste Geräte wie MRI oder PET-Scanner – treibt auch die Hightech-Medizin die Kosten in die Höhe?
Das muss man differenziert anschauen. Mit diesen Geräten lassen sich sehr gute Untersuchungen machen. Mit dem PET-CT etwa findet man kleinste Krebsableger im Körper. Wird die Methode gezielt angewendet, ist sie sehr effizient, denn so übersieht der Arzt nichts, das den Patienten am Schluss umbringen könnte. Ich glaube aber, dass zu vieles rein technisch abgeklärt wird. Patienten werden kaum noch von einem Arzt untersucht, sondern gleich in die Röhre geschoben.
Man hört, die Patienten verlangen solche Untersuchungen.
Es gibt nur wenige fordernde Patienten. Häufig ist es eine Frage der Kommunikation. Der Arzt muss mitteilen, warum er etwas macht, und eben auch, warum er etwas nicht macht. Das braucht zwar mehr Zeit, dafür kann man Geld sparen. Ausserdem: Wenn man alle Leute einfach in die Röhre schiebt, wird man bei jedem über 50-Jährigen irgendwas finden. Das kann aber völlig irrelevant sein. Trotzdem will der Arzt als nächstes vom entsprechenden Organ eine Probe nehmen. Und schon sind wir in der Kostenspirale.
Sie sagten auch schon, der Luxus in Spitälern sei «grotesk». Worin besteht dieser Luxus?
Fenster bis an den Boden, Einzelzimmer oder im Maximum Zweierzimmer, eine Speisekarte mit grosser Auswahl. Warum soll es im Spital toller sein als zu Hause? Wichtig ist doch, dass die Pflege und die Ärzte gut sind. Am Schluss sind es die Krankenkassen, die den Luxus bezahlen.
Zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung sind aber mit dem Gesundheitssystem zufrieden.
Man muss der Bevölkerung eben sagen, was sie wirklich bezahlt. Da sind einerseits die Prämien – jedes Jahr vier Prozent mehr. Andererseits, und das weiss kaum jemand, ist rund ein Drittel der Prämien subventioniert, weil die Menschen sich diese nicht mehr leisten können. Das sind vier Milliarden Franken Steuergelder jährlich – gleich viel wie das gesamte Verteidigungsbudget.
Was schlagen Sie vor?
Eine staatlich definierte Obergrenze, wie viel das System kosten darf. Konkret: dass die Gesundheitskosten nicht stärker wachsen dürfen als das Bruttoinlandprodukt. Momentan steigen die Gesundheitskosten vier Prozent im Jahr, das BIP aber nur 2,1 Prozent. Diese Differenz muss irgendwo eingespart werden – zum Beispiel in der Bildung, im Umweltschutz oder beim Sozialen. Das darf nicht sein, so wichtig ist die Gesundheit auch wieder nicht.
Damit hätten Sie erst ein Kostenziel definiert, wie aber erreicht man dieses?
Der Bundesrat oder die Kantone könnte per Verordnung Massnahmen erlassen, etwa Zulassungsbeschränkungen von Ärzten.
Weniger Ärzte bedeutet doch nicht weniger Kranke.
Doch. In Regionen mit einer hohen Dichte bestimmter Spezialärzte sind entsprechende Operationen häufiger. Aber man kann mir doch nicht sagen, dass die Leute in einem Kanton mit vielen Orthopäden kaputtere Knie haben als in einem anderen. Es wird einfach zu schnell operiert, dabei könnte vielleicht eine Physiotherapie ein ebenso gutes Resultat erzielen. Man könnte also regionale Obergrenzen für Spezialärzte definieren und so die Kosten senken.
Ihr Bericht für den Bundesrat schlägt über 30 Massnahmen vor. Was ist sonst noch dabei?
Zum Beispiel der Experimentierartikel. Damit könnte man eine bestimmte Kostendämpfungsmassnahme testweise in einem Spital oder Kanton einführen, ohne gleich das Gesetz zu ändern. So könnte man schauen, ob sich die Massnahme bewährt, bevor man sich definitiv dafür oder dagegen entscheidet.
Wie heisst das für die Patienten?
Ein Spital bräuchte beispielsweise nicht mehr Hunderte Daten erfassen, sondern die Patienten einfach in Leicht-, Mittel- und Schwerkranke einteilen. Nach einem Jahr könnte man schauen, ob dank weniger Administration mehr Zeit für die Patienten blieb – und wer letztendlich zufriedener war.
Bringen denn die Daten nicht auch Vorteile, von denen die gesamte Bevölkerung profitiert?
Nur irgendwelche Daten zu sammeln, bringt nichts. Man müsste die richtigen erfassen. Zum Beispiel fehlen heute sogenannte Outcome-Daten, also wie das Endresultat und die Langzeiteffekte einer Behandlung aussehen.
Als unnötige Massnahmen prangern Sie auch Chemotherapien an.
Zuerst mal: Chemotherapien können extrem sinnvoll sein, denn sie können Tumore zum Verschwinden bringen, aber eben nicht alle. Eine Untersuchung aus den USA zeigt, dass die letzten 71 Krebsmedikamente, die neu auf den Markt kamen, das Leben der Patienten im Schnitt um zwei Monate verlängert haben. Diese zwei Monate können bis zu 100’000 Franken kosten.
Wenn ich Krebspatient wäre, wie würden Sie mir sagen, dass Sie mir ein Medikament nicht geben, weil es zu teuer ist?
Darum geht es nicht. Ich würde Ihnen sagen, dass ich Ihnen das Medikament nicht verabreichen will, weil es Ihnen nicht viel nützt und dazu noch starke Nebenwirkungen verursacht.
Sie selbst sind vor zwei Jahren schwer krank und nahe am Tod gewesen und durchliefen eine Chemotherapie. Wie haben Sie selbst dafür oder dagegen entschieden?
Der Fall war so klar, wenn man da keine Chemotherapie macht, ist man einfach blöd. Das war sicher keine unnötige Behandlung.
Zuvor waren Sie selbst lange Teil des Systems, jetzt kritisieren Sie es. Haben Sie nicht auch profitiert von dieser Medizinindustrie?
Ja, natürlich. Allerdings ist die Frauenheilkunde vergleichsweise wenig industrialisiert. Bei Geburten entscheidet meist die Natur. Deshalb bin jetzt immer wieder überrascht, wenn ich mich mit der Gesundheitspolitik auseinandersetze.
Das heisst, Sie wussten nicht, welche Kosten Sie verursachen?
Ich wusste relativ wenig, obwohl ich mich darum bemüht habe. Wir haben im Spital Wettbewerbe veranstaltet, bei denen man die Kosten von Behandlungen schätzen musste. Viele von uns hatten keine Ahnung. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Viele Spitäler sind heute Aktiengesellschaften, selbst öffentliche Spitäler. Ist es nicht unsinnig, von einer AG zu verlangen, Kosten zu sparen? Man kann auch nicht von einem Bäcker verlangen, möglichst wenig Brot zu verkaufen.
Wenn die AG nicht gewinnbringend ist, geht das. Es ist sogar die bessere Organisationsform, denn man kann schneller reagieren, als ein staatliches Spital. Anders sieht es natürlich aus, wenn eine Investorengruppe dahinter steht. Die möchten Gewinn erzielen.
Sie haben sich schon früher unbeliebt gemacht, weil Sie das Brust-Screening für Frauen kritisierten.
Jeder Frau routinemässig die Brust zu röntgen bringt nichts. Wenn man 1000 Frauen zehn Jahre lang screent, sterben vier davon an Brustkrebs. Wenn man es nicht macht, sterben fünf von 1000. Dafür verunsichert man 1000 Frauen, es gibt falsche Alarme, das führt zu unnötigen Belastungen und Eingriffen. Auch medizinisch spricht einiges dagegen. In der Brust, wie auch in der Prostata, gibt es kleine Krebsgeschwüre, die die Person nie ernsthaft bedrohen werden, weil sie so langsam wachsen oder die Patientin so alt ist, dass sie nicht daran sterben wird. Mit dem Mammografie-Screening findet man vor allem diese Krebse, also letztlich jene, die nicht relevant sind.
Dann raten Sie Frauen also von der Mammografie ab.
Vom regelmässigen Screening schon. Aber man darf es nicht mit der Abklärungsuntersuchung verwechseln, die dann erfolgt, wenn ein Befund vorliegt. Dann sind Mammografien sehr sinnvoll.
Immer wieder in Diskussion sind auch die Löhne der Ärzte. Was läuft da falsch?
Es gibt falsche Anreize: etwa Boni, wenn Ärzte eine gewisse Anzahl Patienten oder Eingriffe erreichen. So wollen die Spitaldirektoren ihr Spital füllen. Und es gibt auch staatlich verordnete Anreize mit schlechten Folgen. Zum Beispiel dürfen gewisse Eingriffe nur in Spitälern durchgeführt werden, die eine genügende Zahl davon vornehmen. Nur diese haben genügend Erfahrung darin, so die Überlegung. Das stimmt zwar. Wenn aber im Dezember die vorgegebene Zahl einer Operation noch nicht erreicht ist und die Erlaubnis fürs nächste Jahr auf dem Spiel steht? Dann finden Sie die fehlenden Patienten mit Sicherheit – egal ob es für diese die medizinisch beste Lösung ist oder nicht.
Warum Brida von Castelberg sich hat frühpensionieren lassen, was sich in der Medizin in den letzten 35 Jahren verändert hat und wie Ärzte-Boni die Behandlung beeinflussen, lesen Sie in der Fortsetzung des Interviews auf higgs.