Thomas Meyer rät
Trauer ist etwas Egoistisches

«Mein Vater ist schon seit über zwei Jahren tot, aber ich kann nicht aufhören, um ihn zu trauern», schreibt unser Leser. Thomas Meyer nimmt Stellung zu dieser Lebensfrage.
Publiziert: 22.11.2018 um 16:15 Uhr
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Aktualisiert: 25.09.2019 um 11:46 Uhr
Wir glauben, wir könnten alles, was wichtig ist, auch später noch erledigen.
Thomas Meyer

Wenn man es genau nimmt, ist Trauer etwas ausgesprochen Egoistisches. Natürlich ist es traurig und schockierend, wenn das Leben eines geliebten Menschen endet – vor allem, wenn das früh geschieht oder von eigener Hand. Und es braucht Zeit, um verdaut zu werden. Aber letztlich beweinen wir, wenn wir um jemanden trauern, nur uns selbst.

Wir beweinen uns selbst

Wir beweinen, dass die Zeit, die wir mit diesem Menschen noch hätten verbringen wollen, uns nicht mehr zur Verfügung steht. Wir beweinen, dass wir jene Zeit, die uns zur Verfügung gestanden hat, nicht gut genug genutzt haben. Dass wir uns mit diesem Menschen gestritten haben, für nichts und wieder nichts. Dass wir ihm viele Dinge nicht gesagt haben, die wir ihm immer hätten sagen wollen. Dass wir nie wirklich herausgefunden haben, wer er ist, und ihm uns nie wirklich gezeigt haben. Weil wir den menschlichsten aller Fehler begangen haben: zu glauben, wir hätten endlos Zeit. Wir glauben, wir könnten alles, was wichtig ist, auch später noch erledigen. Und dann kommt der Tod und grinst: «Es gibt kein Später. Es wäre alles jetzt gewesen. Aber du warst zu dumm. Es ist vorbei.»

Wir trauern um das Verpasste

Das ist es, worum wir trauern: um das Verpasste. Alles andere erfüllt uns nämlich mit Freude und Dankbarkeit. Wenn Sie also seit über zwei Jahren so sehr um Ihren Vater trauern, dass Sie fürchten, es werde nie ein Ende nehmen, sollten Sie sich fragen, weshalb. Was hat Ihr Vater für Sie für eine Bedeutung gehabt? Warum glauben Sie, nicht normal leben zu können ohne seine Nähe? Was auch immer Sie dabei herausfinden – mit seiner Person wird es nichts zu tun haben. Nur mit Ihrem vermutlich nicht sonderlich stabilen Verhältnis zu Ihnen selbst und dem Leben. Und das kann nicht im Sinn Ihres Vaters sein. Sie sollten ihm ein schöneres Denkmal setzen als einen tränenüberströmten Schrein.

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