Auf einen Blick
Es gibt da eine Szene. Ein Ereignis, das sich in einem Bündner Berghotel zugetragen hat. Zwei Frauen Ende zwanzig betreten die Sauna. In der Ecke oben sitzt ein ledrig-brauner Herr mit schulterlangem, grauem Haar. Er grüsst freundlich. Sie nehmen auf der untersten Bank Platz. Sehen tun sie ihn nun nicht, hören sehr wohl. Immer wieder schabt er den Schweiss vom Körper, was so klingt, wie wenn man einen nassen Lappen zu Boden wirft. Irgendwann steht er auf und tapst zum Ofen, Aufguss? Sie nicken. Er schüttet mit einer Kelle Wasser über den heissen Ofen, stellt sich mit durchgestrecktem Körper vor sie und verwedelt mit einem Badetuch den Dampf, hin und her, hin und her. Sein Gemächt mit Gehänge wedelt rhythmisch mit. Schön auf ihrer Augenhöhe. Die beiden Frauen lachen später über die Szene – darunter die Autorin dieses Textes.
Keine Sekunde lang hat der Mann daran gedacht, wie das so wirkt: er mit entblösstem Penis vor zwei Frauen. Wahrscheinlich war er sich seiner Nacktheit nicht mal bewusst. Er war selbstvergessen. Wo gibt es das heute sonst noch, wenn Körper und Seele so unter Druck sind, wir ständig zeigen, bieten, performen müssen? In den Schwitzstuben der Schweiz trifft man hüllenlos aufeinander. Frau und Mann. Chefs und Angestellte. Topverdienerinnen und Sozialhilfebezüger. Wer man war und ist, spielt keine Rolle. In der Nacktheit ist man gleich. Bislang. Denn gerade verschiebt sich etwas.
Mehr Textilsaunen
In die Schweizer Saunen breitet sich aus, was man im gleichen Kontext sonst nur im Ausland antrifft: die Badehose, der Badeanzug. Seit einigen Jahren setzen grosse Wellnessanlagen neben der klassischen Nacktsauna auf Textilsaunen. Beispiele gibt es genug: Aquabasilea in Basel, Therme Zurzach und Fortyseven im Kanton Aargau. Auch viele gehobene Hotels schreiben in ihren Saunen mitunter eine Badehose vor, darunter: The Chedi in Andermatt UR, Waldhotel Arosa, Grand Resort Bad Ragaz und Bad Horn Hotel & Spa im Thurgau. Agica Hrncic, Präsident des Schweizer Sauna-Bunds, Saunameister und seit einem Jahrzehnt im Geschäft, bestätigt den Trend: «Meine Erfahrung zeigt, dass die Tendenz steigend ist.»
Das Bad Horn Hotel & Spa schrieb in einer Mitteilung vergangenen Sommer, was dahintersteckt: die «vermehrte Nachfrage». Konkreter wird Franc Morshuis, Geschäftsführer des Fortyseven. Der von Stararchitekt Mario Botta entworfene Wellnesstempel eröffnete 2021. Das Thema Textilsauna habe man intensiv diskutiert, sagt Morshuis. Der Entscheid sei aber schnell gefallen. Man will mit der Zeit gehen. Muss! Er sagt: «Es ist nicht mehr für alle selbstverständlich, nackt in der Sauna zu sitzen.»
Was ist bloss los? Wird die Schweiz plötzlich prüder? Wann ist Nacktheit okay und wer oder was bestimmt das? So viel vorab: Hinter dem Textilsaunen-Trend steckt ein menschliches Urgefühl, das nun wieder aufkeimt. Und: die Frauen.
Eberhard Wolff (65), Kulturanthropologie-Professor der Universität Basel, untersucht, wie soziale Normen und Alltagsphänomene zusammenhängen. Was jetzt passiert, ist laut ihm ganz normal. «Nackt ist nicht gleich nackt», so Wolff. Wir alle handeln das immer wieder zusammen aus. Durch Blicke zum Beispiel. Er sagt: «Was nackt ist, hängt vom Kontext, von der Kultur, von der Zeit ab.»
Ein entblösstes Bein hat eine ganz andere Wirkung als der eingangs erwähnte nackte Körper des älteren Herrn in der Bündner Sauna. Nackt in die Migros? Zur Arbeit? Oder zur Post? No way! Er selbst würde sich schämen, sagt Wolff, wenn er in der Badi als Einziger nackt herumlaufen würde, an einem FKK-Strand hingegen nicht.
Scham – und wie sie sich zeigt
Scham. Ein wichtiger Punkt. Sie leitet uns. Sehen wir Nacktheit unerwartet, oder werden wir unerwartet blutt gesehen, fühlen wir uns beschämt – im wahrsten Sinne nackt. Das wurzelt tief. Auch in unserer christlichen Kultur. Nehmen wir Adam und Eva. Eigentlich nur ein Mythos. Doch die ganze Welt kennt ihn. Als die ersten Menschen in den Apfel beissen, erkennen sie: Ich bin nackt. Und sie schämen sich, so die Bibel. Alles klar? Eben nicht.
Scham und wann genau man sie empfindet – das ist komplex. Der französische Historiker Jean-Claude Bologne (68) hat das erforscht und im Buch «Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls» aufgeschrieben. Es zeigt: Ein splitternackter Körper ist nicht per se schambehaftet. Das heisst, wie er schreibt: «In einer und derselben Kultur kann sich die Scham ganz unterschiedlich ausdrücken.» Allgemeingültige Regeln gab es nie.
Bei den alten Griechen verlangte der Körperkult einen völlig freien Blick beim Sport: Die Athleten banden sich nicht mal einen Lendenschurz um, wenn sie im Stadion Diskusse warfen oder Rennen liefen. Und die Frauen? Sie hatten bedeckt zu sein. Im Mittelalter waren entblösste Füsse absolut Tabu, der untere Teil des Körpers galt als beschmutzt, der obere war näher beim Himmel, also rein, und ein weites Décolleté oder eine freigelegte Brust mancherorts gerne gesehen. Zur gleichen Zeit hatten französische Könige gar kein Problem damit, auf dem Nachtstuhl Audienzen zu geben. Ganz anders, laut Bologne, handhabte es das neue Bürgertum nach der Französischen Revolution: Es läutete eine neue Prüderie ein. Der Däne Hans Christian Andersen (1805–1875) schrieb nicht zufällig im 19. Jahrhundert das Märchen «Des Kaisers neue Kleider» – der nackte König, der keine Kleidung trägt und lächerlich wirkt.
Vielfältigere Gesellschaft, mehr Stoff
Und wo stehen wir heute? Warum sitzen mehr Menschen verhüllt in den Schweizer Saunen?
Der Fortyseven-Geschäftsführer Franc Morshuis, der aus den Niederlanden stammt, erklärt es sich so: «Die Gesellschaft in der Schweiz ist internationaler geworden. Das spüren wir auch bei uns.» In den letzten zwanzig Jahren wanderten laut Bundesamt für Statistik über drei Millionen Menschen aus dem Ausland zu. Mit ganz eigenen Vorstellungen von Nacktheit.
Eine Britin, die in der Schweiz lebt, schreibt auf der Galaxus-Website über ihren hiesigen Sauna-Besuch: «Als ich das erste Mal meine Bikinihose fallen lasse, bekomme ich einen kleinen Schreck.» So wie in einem Angsttraum, in dem man nackt auf dem Schulhof stehe und alle lachen würden. Eine zugewanderte Kanadierin wundert sich in einem Video bei Watson über das Verhalten von Schweizer Frauen in Sportumkleidekabinen: «Sie ziehen sich nicht nur um und sind kurz nackt. Sie hängen nackt herum und unterhalten sich miteinander. Sie telefonieren nackt.»
Halten wir fest: Die durchmischtere Gesellschaft führt offenbar zu einer neuen Schamhaftigkeit. Auch wahr ist: Das ist nur ein Grund für den Einzug des Badekleids in den Saunen. Der andere führt weg von der Scham. Wieder hin zur Nacktheit und wofür sie auch stehen kann. Laut dem Kulturanthropologen Eberhard Wolff kann sie eine Intervention gegen Unfreiheit sein, ein Akt der Unterdrückung, ein Symbol des Protests.
Frauen sagen: Stopp
Die russische Frauenband Pussy Riot stürmte 2012 barbusig in Moskau eine orthodoxe Kirche. Eine Aktion gegen Putin. Und darum geht es laut Wolff wohl auch beim Saunatrend: Frauen und Protest. Er sagt: «Im Rahmen der feministischen Bewegung möchten sich Frauen vermehrt dem männlichen Blick entziehen.»
Dafür spricht der Aufstand in einer Badi in Winterthur ZH. Die Leitenden kürzten vor einem Jahr die Zeit, die die Frauen in der dortigen Sauna für sich haben – und dehnten jene aus, die Frauen und Männern gemeinsam zukommt. Eine Saunagängerin sagte dem «Landboten» enttäuscht: «Wenn Männer in der Sauna sind, bin ich nicht so ungeniert wie unter Frauen.» Innert zwei Tagen kamen 35 Unterschriften für ein Protestschreiben zusammen. Erfolglos.
Hört man sich im städtischen Umfeld unter Frauen um, klingt es ähnlich. In den prallvollen Frauenabteilen der Zürcher Badis spazieren im Sommer viele oben ohne herum. Eine Frau, die nur noch dorthin geht, sagt der Autorin dieses Textes: Überall sonst gebe es immer mindestens einen Typ, der glotze. «Jetzt hat so einer keine Macht mehr über mich.»
My body, my choice – mein Körper, meine Entscheidung. Die Parole hört man bei Strassenprotesten, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Frauen geht, darum, das Recht auf eine Abtreibung zu verteidigen. Nun drängt sie auch in die Schwitzkabinen. Badeanzug und Bikini als feministischer Akt.
Offen bleibt, wie sich das weiter auswirkt. Was die Aufladung der Nacktheit mit uns macht. Vielleicht besteht auch die Gefahr, dass wir ein Stück Ungezwungenheit verlieren. Und Selbstvergessenheit. An einem der letzten Orte, wo das noch möglich ist.