Er kann beschwerlich sein – geprägt von langen Zug- oder Autofahrten und überfüllten Flugzeugen. Doch wenn wir endlich am Ziel sind, aus den Schuhen schlüpfen und unsere Zehen in den warmen Sand graben, hat sich alles gelohnt.
An einem Strand zu stehen – das hat auf einen Grossteil der Menschen die Wirkung einer Droge. Ein Knoten löst sich im Magen, ein Gefühl des Ankommens macht
sich breit, Alltagsprobleme wirken plötzlich klein.
«Blaues Gemüt» nennt Meeresbiologe Wallace J. Nichols den meditativen Zustand, in den wir beim Anblick von blauen Wassermassen verfallen. Der Kalifornier schreibt in seinem Buch «Blue Mind», der Körper schütte in Wassernähe Glückshormone aus, und Stress werde gesenkt. Plus: Das Hirn soll Blau als Farbe bevorzugen.
Das sei eine biologische Reaktion eines Lebewesens, das zu 60 Prozent aus Wasser besteht. Nichols: «Wenn du Wasser siehst oder hörst, löst das ein Gefühl im Hirn aus, das dir sagt: Du bist am richtigen Ort.»
Von der Populärpsychologie zur Populärkultur: Der Strand als Ort der Sehnsucht ist seit jeher einer der beliebtesten Schauplätze für Filme, Romane und Musikvideos.
Gerade macht das bekannteste Beispiel, die Verfilmung von Alex Garlands Novelle «The Beach», Schlagzeilen, obwohl seit der Erstausstrahlung 18 Jahre vergangen sind. Leonardo DiCaprio spielt darin den amerikanischen Backpacker Richard. Er will diesen einen Strand finden, den nicht bereits Tausende Rucksacktouristen vor ihm gesehen haben.
Wer von uns träumt in Zeiten von Dichtestress und totaler Erreichbarkeit schon nicht von einem Paradies fernab der Zivilisation, wo das Meeresrauschen nicht ab einer Meditations-CD kommt und auf dem Speiseplan steht, was das Meer hergibt?
Fast niemand. Deshalb gaben die thailändischen Behörden Ende Mai bekannt, den Schauplatz von «The Beach» vorübergehend zu schliessen, die Bucht Maya Bay vor der Insel Ko Phi Phi. Die Umweltbelastung aufgrund der Besucher, die es Richard gleichmachen, hat das Korallenriff massiv beschädigt. Bis zu 5000 Touristen in 200 Booten fluteten an sonnigen Tagen den kleinen Küstenabschnitt. Keine romantische Vorstellung.
10 000 Arme schlingen sich um 5000 Bikinis
Gerade das macht einen Strand aus: dass er für alle da ist. Für einen orangeroten Sonnenuntergang brauchts kein VIP-Ticket. Wenn die Kugel hinter der Kimmlinie untergeht und eine glitzernde Schleppe hinter sich herzieht, sieht jeder Zuschauer dasselbe.
Der Strand als Ort der sozialen Freiheit – daraus entsteht in den 60er-Jahren ein ganzes Genre. In den sogenannten Beach Party Films treffen sich Jugendliche am Strand des Ortes, an dem sie mit ihren Eltern Ferien machen.
Erwachsene sind in den Musical-Komödien aber nur als nervende Spielverderber zu sehen. Die Teenager erschaffen sich ihre eigene Welt, begehren sich, verlieben
sich, trennen sich. Eine harmlose Version der Saufexzesse, wie sie heute während der amerikanischen Semesterferien, genannt Spring Break, an Stränden von Florida oder Mexiko stattfinden.
In den Beach Party Films steht ein selbstbestimmter Umgang mit der eigenen Sexualität im Vordergrund – 1968 stand noch bevor. Die billig produzierten Streifen trugen Titel wie «Ghost in the Invisible Bikini» (Geist im unsichtbaren Bikini) und wurden mit provokativen Werbeslogans beworben. «Du weisst, was passieren wird, wenn sich 10 000 Bizepse um 5000 Bikinis schlingen!», steht in englischer Version auf dem Plakat des Films «Muscle Beach Party».
Natürlich wird am Strand nicht nur gefeiert. Bis ins 19. Jahrhundert kamen hier Sklaven an, heute sind es Flüchtlinge, die ein besseres Leben suchen. In ernsten Filmen wie dem Oscar-prämierten Drama «Moonlight» von 2016 dient der Strand als Metapher für Entwurzelung.
Als plötzlich jeder Lambada tanzen wollte
Vor nicht allzu langer Zeit war der Umgang mit solchen Themen vergleichsweise naiv. Kennen Sie «Lambada» aus dem Jahr 1989, einen der grössten Sommerhits der Popgeschichte? Der brasilianische Song der französischen Gruppe Kaoma stand mit seiner Handorgelmelodie und dem exotischen Rhythmus 14 Wochen auf Platz 1 der Schweizer Charts.
Das Musikvideo dazu brachte den sexuell aufgeladenen Lambada-Tanzstil in die hintersten Winkel der Schweiz. In Deutschland überrannten Bürger die Tanzschulen, um sich den Hüftschwung aneignen zu lassen.
Die Szenerie des Videos: eine Mischung aus Campari- und Benetton-Werbung. Feurige Afrobrasilianer tanzen am Cocos-Strand von Bahia zum Sonnenuntergang.
Mittendrin ein dunkelhäutiger Junge ohne T-Shirt und ein hellhäutiges Mädchen in bauchfreiem Top und kurzem Röckchen. Gespielt werden sie von Chico und Roberta, einem bekannten brasilianischen Kindertanzduo. Die beiden sind damals zehn Jahre alt.
Die Tanzbewegungen, die sie gemeinsam vollführen, würden heute den Jugendschutz alarmieren. In der Handlung des Musikvideos stört sich der Vater des Mädchens nicht am anrüchigen Reigen, sondern an der dunklen Hautfarbe des Ferienflirts seiner Tochter.
Als ihn eine schöne Frau selbst zum Lambada auffordert, schmilzt sein Rassismus dahin. Die Message: Wer sich locker macht, kann nicht hassen.
Die Faszination für den kleinen Streifen zwischen Land und Ozean lässt sich auch mit der Nähe Hollywoods zum Strand von Los Angeles erklären. Das Lebensgefühl der Surfer, der Körperkult am Venice Beach, die Villen von Malibu – am Strand zeigt sich die Metropole von ihrer Sonnenseite. Kein Wunder, durchweht der «Californian Way of Life» die popkulturellen Exporte der amerikanischen Westküste.
«If everybody had an ocean. Across the U. S. A. Then everybody’d be surfin’ ...», singen die Beach Boys 1963 in ihrem Hit «Surfin’ U. S. A.». «Wenn jeder in den USA einen Ozean vor der Nase hätte, würde jeder surfen.»
Die kalifornische Band mit den drei Wilson-Brüdern als Kernmitgliedern gilt als bekannteste des Genres Surfmusic, obwohl ihre Mitglieder äusserst wasserscheu waren. Textlich verabschiedeten sie sich auch bald einmal vom Larifari-Strandleben und brachten das Album «Pet Sounds» heraus, das bei vielen Kritikern als grösstes Pop-Album der Geschichte gilt.
Die Beach Boys stehen für mehrstimmige Vokalharmonien, während die klassische Surfmusic den Ritt auf den Wellen mit stakkatoartigen Gitarrenriffs ins Musikalische übersetzt. Wer Tarantinos «Pulp Fiction» gesehen hat, mag sich an die punkige Titelmelodie erinnern, gespielt von Dick Dale, dem «King of Surf Guitar».
Manche wollen am Strand einfach nur high werden
Während sich die Sportskanonen freiwillig ins Jagdrevier von Haifischen begeben oder am Volleyballnetz mit ihren Schreien die Möwen aufschrecken, wollen andere einfach auf einem Batiktuch im Sand abhängen und kalifornisches Gras rauchen. «Alles, was ich will, ist, mich am Strand zu berauschen, singt Lana Del Rey in «High By The Beach».
Die amerikanische Sängerin inszeniert sich als gefallenes Hollywood-Sternchen, das zu innerer Stärke zurückkehrt. Im Musikvideo zur Kifferballade räkelt sie sich in einem abgefuckten Strandhaus, als vor dem Fenster Paparazzi in einem Helikopter auftauchen. Die Lösung für ihr Problem, eine Panzerfaust, muss Lana Del Rey aus einem Versteck am Strand holen. Danach kann sie sich in Ruhe weiterräkeln.
Los-Angeles-Girls wie sie haben noch nie auch nur einen kleinen Zeh in die Gischt des Pazifiks getaucht. Make-up und Schmuck vertragen Wasserkontakt nun mal so schlecht wie ein Sandmandala.
Der Strand ist eben nicht nur ein Ort, an den man geht, sondern eine Art zu leben. Der Strand ist im Kopf.