Perfektionswahn ohne Grenzen?
«Genmanipulation beim Menschen ist nicht unethisch»

Ist es verwerflich, die Gene von uns Menschen zu verändern, damit wir leistungsfähiger werden? Nein, sagt der britische Philosoph John Harris im Interview.
Publiziert: 14.12.2018 um 22:01 Uhr
Cornelia Eisenach @higgsmag

Viele Schweizer nutzen das Medikament Ritalin zur Konzentrationssteigerung – obwohl sie gar nicht an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden, für dessen Behandlung der Stoff eigentlich gedacht und zugelassen ist. Jedes Jahr greifen mehr Leistungshungrige zur Pille: 2017 wurde in der Schweiz fast zehnmal mehr Methylphenidat – so heisst der Wirkstoff des Ritalins – an Apotheken geliefert, wie noch im Jahr 2000. Eine Steigerung oder Erweiterung unserer Fähigkeiten durch Medizin oder Biotechnologie nennt sich Human Enhancement. Wie weit wir im Streben nach der Überwindung unserer Natur gehen dürfen und sollen, das fragen wir den Philosophen und Ethiker John Harris.

John Harris

Der Philosoph John Harris ist Professor Emeritus an der Universität Manchester und derzeit Gastprofessor für Bioethik am King’s College London. In seiner Laufbahn hat er unter anderem die Regierung des Vereinigten Königreiches zu ethischen Fragen der Gentechnik beraten. Harris veröffentlichte mehrere Bücher, unter anderem zu Human Enhancement. Sein neuestes Buch «How to be Good» erschien 2016 bei Oxford University Press auf Englisch.

Der Philosoph John Harris ist Professor Emeritus an der Universität Manchester und derzeit Gastprofessor für Bioethik am King’s College London. In seiner Laufbahn hat er unter anderem die Regierung des Vereinigten Königreiches zu ethischen Fragen der Gentechnik beraten. Harris veröffentlichte mehrere Bücher, unter anderem zu Human Enhancement. Sein neuestes Buch «How to be Good» erschien 2016 bei Oxford University Press auf Englisch.

John Harris, was halten Sie davon, wenn ich versuchen würde, meine Aufmerksamkeit durch die Einnahme von Ritalin zu steigern?

Wenn es ihre Leistung oder Funktion verbessert, spricht nichts dagegen.

Aber wäre das nicht ein unfairer Vorteil gegenüber anderen Journalisten, die Sie interviewen?

Es liegt in unserer Natur, unfaire Vorteile zu haben. Was unfair ist und was nicht, hängt nur von den gesellschaftlichen Regeln ab. Aber es ist keine Eigenschaft einer bestimmten Technologie oder Substanz. Nichts hindert uns Menschen daran, uns durch Enhancement zu verbessern.

Dann ist der Kaffee, den wir gerade trinken, also auch schon eine Form von Enhancement ?

Natürlich, Koffein ist sogar ein sehr starkes Enhancement. Es verbessert Konzentration, Aufmerksamkeit und Wachheit. Eigentlich sind solche Enhancer nichts Neues – wir Menschen nutzten sie schon immer. Beispielsweise sind Werkzeuge wie die Steinaxt Enhancer, denn sie verbessern unsere Fähigkeiten. Und Sie tragen eine Brille – auch das ist eine Enhancement-Technologie.

Meine Brille korrigiert aber meine Sehschwäche, also ein medizinisches Problem. Sie lässt mich nicht besser sehen als andere, gesunde Menschen. Wo ist die Grenze für Sie?

Ein Enhancement ist definiert als eine Verbesserung im Vergleich zu dem vorherigen Zustand. Ich unterscheide nicht zwischen Therapie und Enhancement. Wenn eine Impfung den Menschen vor Krankheiten schützt, oder wenn eine medizinische Behandlung die Überlebenschancen steigert, dann ist das eine Verbesserung, also ein Enhancement.

Was aber, wenn es beim Enhancement nicht nur um uns selbst, sondern um unsere Nachkommen geht? Wenn wir beispielsweise deren Gene durch Genom-Editierung manipulieren . Ist das ethisch vertretbar?

Es ist prinzipiell nicht unethisch, die Gene unserer Nachkommen, also die menschliche Keimbahn, zu manipulieren, solange die Sicherheit und Wirksamkeit der Methode bewiesen ist. Sie und ich sind Produkte einer Keimbahn-modifizierenden Technologie namens sexueller Fortpflanzung. Mit der Genom-Editierung fügen wir der Technologie der Fortpflanzung einfach ein weiteres Werkzeug hinzu. Es ist unsere Verpflichtung als Menschheit, solche Technologien zu erforschen und zu benutzen.

Dann sind Sie einverstanden damit, wie ein chinesischer Wissenschaftler angeblich Babys genetisch verändert hat?

Wenn es denn wirklich wahr ist. In dem Fall fände ich das Vorgehen des Forschers sowohl vorschnell als auch leichtsinnig. Solche Modifikationen am Genom eines menschlichen Embryos, der tatsächlich implantiert wird, sollten durch eine regulatorische Behörde genehmigt werden.

Und wenn das der Fall gewesen wäre, hätten Sie keine Vorbehalte gegen die Technologie?

Im Moment ist die Technologie gewiss noch nicht sicher genug, um sie im klinischen Alltag zu nutzen. Daher sollten wir das auch noch nicht tun. Aber wenn die Sicherheit und Wirksamkeit einmal bewiesen sein wird – warum nicht? Es ist unsere moralische Verpflichtung, Gutes zu tun.

Wie meinen Sie das?

Enhancement ist gut, weil es uns Menschen und die Welt besser macht. Die Verpflichtung gilt also immer nur dann, wenn wir mit Enhancement-Technologien etwas verbessern. Zum Beispiel, wenn wir mit Genom-Editierung bestimmte Erbkrankheiten ausrotten.

Es geht aber nicht nur um Krankheiten. Ich könnte zum Beispiel sagen: «Ich möchte, dass mein Kind Olympionikin wird, also lasse ich im Embryo die Gene für den Muskelaufbau entsprechend manipulieren.»

Wir müssen Ihre Motivation genauer anschauen: Es wäre unmoralisch von Ihnen, wenn Sie versuchten zu bestimmen, dass ihr Kind Olympionike wird. Es ist aber völlig in Ordnung, wenn Sie ihrem Kind durch die entsprechenden genetischen Anlagen die Möglichkeit geben, Olympionike zu werden. Denn durch die Anlagen allein wird man ja noch nicht ein Spitzenathlet. Dazu gehören dann noch andere Dinge wie harte Arbeit und auch Ambition. Aber solange die gezielte Veränderung von Genen dem Individuum mehr Möglichkeiten gibt, als es durch rein sexuelle Fortpflanzung gehabt hätte, und solange das Individuum wählen kann, ob es diese Möglichkeiten nutzen und entwickeln will, solange ist eine solche Genom-Editierung völlig in Ordnung.

Aber ein Baby kann nicht selbst wählen.

Zukünftige Generationen haben überhaupt nie die Wahl, nie ein Mitspracherecht. Sie dürfen auch nicht darüber mitreden, wie sehr wir die Umwelt ruinieren, bevor sie überhaupt existieren. Auch bei natürlicher Fortpflanzung haben zukünftige Generationen keine Wahl darüber, welches Geschlecht, Augenfarbe oder Hautfarbe sie haben. Alle neuen Individuen müssen die Welt so akzeptieren, wie sie sie bekommen. Was sie dann aus ihren Anlagen machen, das ist ihre Entscheidung.

Technologien werden auch immer wieder als Instrumente der Macht missbraucht, um andere zu dominieren oder zu diskriminieren.

Das müssen wir natürlich zu verhindern versuchen. Trotzdem kann man es nicht so pauschal sagen. Auch sexuelle Beziehungen werden dazu genutzt, andere zu dominieren, aber deswegen verbieten wir sie nicht.

Einige Ethiker sagen, dass Enhancement-Technologien die weltweite Ungleichheit eher vergrössern als verringern werden.

Das ist eine Behauptung. Universelle Bildung ist auch ein Enhancement. Sie hat das Leben vieler Menschen verbessert und im Grossen und Ganzen zu mehr Gleichheit geführt, auch wenn sie die Ungleichheit auf der Welt nicht völlig ausgemerzt hat. Man muss so vielen Menschen wie möglich Zugang zu den Technologien geben und darf nicht sagen: Keiner darf Zugang haben, bis sichergestellt ist, dass jeder Zugang hat. Es wäre Wahnsinn, ein solches Verbot auf Zeit für neue Technologien wie die Gen-Editierung zu fordern.

Aber nicht jeder wird von den neuen Möglichkeiten des Enhancements und der Therapie profitieren können.

Ja, das ist so. Immer. Nicht alle werden profitieren können. So wie auch nicht alle von Bildung und Gesundheitsvorsorge profitieren können. Aber die Alternative wäre, dass wir es verbieten, und so gar niemand davon profitieren kann. Das fände ich weitaus schlimmer.

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Die neue Methode der Genmanipulation hat enormes Potential.
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AP

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