«Alles klar?», mit einem lockeren Spruch empfängt uns Lutz Jäncke (62) in Zürich-Oerlikon. So gehts weiter, als wir mit ihm durch die Gänge des Uni-Gebäudes spazieren. Immer mal wieder macht er für einen kurzen Schwatz mit einem Mitarbeiter halt. Jäncke passt nicht ins Bild eines kauzigen Wissenschaftlers. Vielleicht auch, weil er deutscher Rheinländer ist. Frohnaturen sollen sie sein, und das Bier sollen sie lieben. Dem Alkohol hat er aber fast ganz abgeschworen. Nur bei Amarone macht er manchmal eine Ausnahme.
BLICK: Ich habe mir fürs neue Jahr vorgenommen, morgens vor der Arbeit schwimmen zu gehen, und bin schon nach zwei Wochen gescheitert. Was stimmt nicht mit mir?
Lutz Jäncke: Das ist der Klassiker. Es ist wirklich schwierig, sich zu ändern. Unser Gehirn ist faul, wir verfallen gern in immer gleiche Verhaltensweisen. Gewohnheiten bestimmen etwa 90 Prozent unseres täglichen Handelns.
Sie machen mir nicht gerade Hoffnung.
Gewohnheiten sind lebenswichtig. Wir werden per Zufall in eine bestimmte Kultur hineingeboren, Sie hier in Zürich, ich in Düsseldorf. In diese müssen wir uns so hineinlernen, dass wir uns angemessen verhalten, ohne darüber nachzudenken. Müsste man über jede Verhaltensweise bewusst nachdenken, kämen wir nicht zurecht. Wir müssen uns im Alltag schnell und sicher entscheiden.
Und wie kann man neue Gewohnheiten entwickeln?
Man muss Selbstdisziplin entwickeln. Das geht nur, indem man das Gehirn, den Frontallappen, umtrainiert. Das heisst: dranbleiben und üben, üben, üben.
Reicht ein starker Wille dafür?
Nein. Am besten verbindet man die neue Tätigkeit mit Ritualen. Wenn Sie mehr schwimmen wollen, machen Sie einen Trainingsplan: Jeden zweiten Tag früh raus, dann 500 Meter Brust und 500 Meter Crawl. Planen Sie noch eine Belohnung am Ende ein, das kann auch nur ein Gipfeli zum Frühstück sein. Die Buddhisten kennen das schon lange. Die Mönche leben nach einem ritualisierten Tagesablauf mit stundenlangem Meditieren.
Das klingt einfach, warum wird man dann schlechte Angewohnheiten wie das Rauchen so schlecht los?
Das hat mit kognitiver Dissonanz zu tun. Die entsteht dann, wenn wir uns anders verhalten, als wir gemäss der Faktenlage eigentlich sollten. Das halten wir nicht gut aus. Wir sind Weltmeister darin, diesen Widerspruch wegzuinterpretieren. Studien haben die Schädlichkeit von Rauchen schon lange nachgewiesen. Trotzdem stritten das viele lange ab mit dem Argument: Ich kenne da einen Raucher, der wurde über 90. Mir kommt der frühere deutsche Bundeskanzler und passionierte Raucher Helmut Schmidt in den Sinn. Er wurde fast 97.
Sind Sie als Profi eigentlich gegen widersprüchliches Verhalten gefeit?
Nein! Wenn ich meine Fehler bemerke, denke ich: Du bist bescheuert. Gestern habe ich mich im Flugzeug dabei ertappt, wie ich fasziniert in einer Sportzeitung den Fussballkram gelesen habe. Welcher Spieler jetzt wohin wechselt, und natürlich habe ich mich über Fortuna Düsseldorf echauffiert. Meinen Lieblingsverein. Eigentlich belangloser Blödsinn, Zeitverschwendung.
Aber auch sehr menschlich.
Ja, man muss ja auch als Mensch leben in dieser Welt. Auch ich trinke manchmal Amarone, ohne an die Folgen fürs Gehirn zu denken. Die Freude am Leben ergibt sich daraus, dass man sich den Dingen ergibt.
Lutz Jäncke ist 1957 im Rheinland (D) geboren, seit 2002 ist er Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er erforscht das Lernverhalten, die Musikverarbeitung und die Macht des Unterbewussten bei Entscheidungsfindungen. Er gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern der Gegenwart. Seine Volksvorträge sind ebenso beliebt wie seine Vorlesungen. Weil er Erkenntnisse aus der Neuropsychologie allgemeinverständlich und humorvoll vermittelt. Mehrfach wurde er mit Lehrpreisen ausgezeichnet. Jäncke ist verheiratet, hat zwei Söhne und ist Schweizer Staatsbürger.
Lutz Jäncke ist 1957 im Rheinland (D) geboren, seit 2002 ist er Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er erforscht das Lernverhalten, die Musikverarbeitung und die Macht des Unterbewussten bei Entscheidungsfindungen. Er gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern der Gegenwart. Seine Volksvorträge sind ebenso beliebt wie seine Vorlesungen. Weil er Erkenntnisse aus der Neuropsychologie allgemeinverständlich und humorvoll vermittelt. Mehrfach wurde er mit Lehrpreisen ausgezeichnet. Jäncke ist verheiratet, hat zwei Söhne und ist Schweizer Staatsbürger.
Was ist die grosse Schwäche des Menschen?
Unser Gehirn ist auf Emotionen spezialisiert, nicht auf Logik. Jetzt regen sich alle über Megxit auf, weil die Schauspielerin keine Prinzessin sein will. Oder die besten Klimaforscher der Welt warnen seit Jahren vor dem Klimawandel, aber man glaubt es erst, wenn ein medial gut vermarktbares Mädchen aus Schweden das Gleiche sagt. Der Mensch ist bescheuert.
Welchen Sinn haben Emotionen?
Der Mensch wäre sonst ausgestorben.
Das müssen Sie mir genauer erklären.
Als die Menschen vor Zehntausenden von Jahren begannen, umherzuziehen, taten sie dies in kleinen Gruppen. Emotionen waren und sind wichtig, um Bindungen herzustellen. Und um uns für die Fortpflanzung vorzubereiten, schwierige Herausforderungen bei der Brutpflege zu meistern, aber auch um uns bei Gefahren zu aktiveren und Mangelzustände unseres Körpers zu erkennen. Viele Tausend Jahre lang hat der Homo sapiens in seinem ganzen Leben weniger Menschen gesehen, als wenn ich morgens mit dem Zug vom Zürcher Stadelhofen nach Zürich-Oerlikon fahre. Unser Hirn hat sich deshalb auf kleine Gruppen spezialisiert.
Wie zeigt sich das heute?
Die Face-to-Face-Kommunikation ist für uns sehr wichtig. Emotionen bestimmen unsere Gestik, Mimik und Stimmlage. Durch die nonverbalen Signale können unsere Mitmenschen abschätzen, wie wir uns fühlen. Das ist für das Leben in kleinen Gruppen wichtig. Für die globalisierte Welt und für Menschenmassen sind wir nicht gemacht. Das überfordert uns und macht uns krank.
Wie können wir dem entgegenwirken?
Man müsste gezielt durch Training die Emotionen in den Griff bekommen. Sie taugen nicht, um die grossen Probleme von fast acht Milliarden Menschen zu lösen.
Maschinen können nicht überfordert sein. Werden sie einmal die besseren Problemlöser sein?
Vor zehn Jahren hätte ich Nein gesagt, mittlerweile sehe ich das anders. Das maschinelle Lernen wird immer extremer. Da stecken Algorithmen dahinter, die ein Eigenleben entwickeln können, die wir selbst nicht verstehen. Auch das Wissen über das Gehirn nimmt ständig zu. Und irgendwann werden wir wohl in der Lage sein, Robotergehirne zu schaffen, die auch menschliche Verhaltensweisen zeigen.
... die aber keine liebenden Eltern ersetzen können.
Warum nicht? Ein Gefühl oder eine Empfindung wie Trauer oder Hunger werden nicht im Herzen oder im Magen generiert. Emotionen sind Bewusstseinszustände, die im Gehirn hervorgerufen werden. Ich wüsste nicht, was so besonders am Menschen sein könnte, dass man es nicht nachmodellieren könnte.
Müssen wir jetzt fürchten, dass wir als Menschen mal überflüssig sein werden?
Der Mensch schafft sich selbst ab. Auch ohne künstliche Intelligenz. Der Mensch ist das einzige biologische System, das in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Wegen unserer Intelligenz, also den technischen Möglichkeiten. Und aus moralischen Gründen, Genozide zeigen das. Affen würden das nie machen.
Was noch unterscheidet uns von den Tieren?
Je nach Tierart gar nicht so viel. Sexueller Antrieb, Empathie, Aggressivität, Neugierde – darüber verfügen auch die Affen. Und viele Tiere haben ein Bewusstsein. Hunde oder Schweine können sich selbst als Individuum, als ein Ich, wahrnehmen. Wenn man das weiss, kann man sich schon mal fragen, warum man die überhaupt isst.
Essen Sie Fleisch?
Ich mache mir Gedanken darüber, aber ich esse Fleisch. Das Fleischessen gehört zum Menschen.
Das sehen viele anders.
Fleisch war für unsere Entwicklung enorm wichtig. Ohne das hätten wir das Eiweiss nicht bekommen, ohne Eiweiss wären unsere Hirne nicht gross gewachsen.
Sie forschen zum menschlichen Lernverhalten. Wie stehts eigentlich um die Schweizer Schulen: Sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Unser Bildungssystem basiert auf dem Muster: Friss oder stirb. Das ist falsch. Wir sollten unsere Kinder mehr fördern und weniger selektionieren.
Was meinen Sie damit?
Gymiaufnahmeprüfungen finde ich nicht gut. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, also im frühen Teenageralter. Dann befindet sich das Gehirn in einem Umbauprozess. Überhaupt sind notenbezogene Prüfungen fragwürdig.
Ohne Noten weiss man aber nicht, wo das Kind steht.
Wir sollten uns ein Beispiel an den Skandinaviern nehmen. Sie versuchen aus den Kindern das Maximum herauszuholen, weil sie denken: Kleine Länder, eiskalt hier oben, hier will keiner hin, unsere Sprache will keiner lernen. Schweden vergibt bis zum achten Schuljahr keine Schulnoten. Die Schweden sind allerdings in vielen kulturellen Disziplinen sehr erfolgreich. Wirtschaftlich und in der Wissenschaft sind sie ebenfalls Spitzenklasse.
Was ist ihr Geheimnis?
Sie arbeiten nach Lehrzielen. Ich habe mal einen Rektor an einer schwedischen Schule gefragt, wie viele Wochenstunden Englisch die Schüler haben. Er konnte mir keine Antwort geben.
Warum?
An seiner Schule müssen die Kinder der Klasse xy am Ende des Schuljahrs bestimmte Vokabeln können. Wenn der Englischlehrer durch kleine Zwischentests merkt, dass sie das noch nicht beherrschen, dann geht er zum Geografielehrer und sagt dem, du musst jetzt Unterricht in Englisch machen und diese und diese grammatikalischen Wendungen einfliessen lassen. Nachhilfe ist auch so etwas …
Das haben wir in der Schweiz auch.
Bei uns bekommen aber nur die schlechten Schüler Nachhilfestunden. Das wirkt wie eine Strafe. In Finnland ist es normal, dass jeder Schüler Aufgaben nacharbeitet, die er nicht versteht.
Gerade haben wir den Lehrplan 21 eingeführt. Was sagen Sie dazu?
Der beinhaltet einen Aspekt, den ich nicht verstehe: «Selbstorganisiertes Lernen». Was bedeutet das konkret? Man muss bedenken, dass die Grundlage des selbstorganisierten Lernens Selbstdisziplin ist. Jungs im Alter von 13 Jahren denken aber lieber über den FC Basel nach als darüber, ob sie heute Englisch machen oder erst lieber morgen. Still sitzen, sich konzentrieren, sich disziplinieren – all das fällt Teenagern schwer. Das hat damit zu tun, dass die Selbstdisziplin vom Frontallappen im Gehirn kontrolliert wird, und der reift bis zum 18. Lebensjahr.