SonntagsBlick: Herr Rüegger, Sie haben mit einem Psychiater ein Buch über sexualisierte Gewalt veröffentlicht. Warum?
Peter Rüegger: Es ist bekannt, dass nur wenige Fälle zur Anzeige kommen. Und bei den wenigen Anzeigen kommt es nur bei einem kleinen Teil zur Anklage. Unser Ziel ist es, mehr Anzeigen und mehr Verurteilungen zu erreichen.
Ein Hauptthema im Buch ist das Schweigen der Frauen. Warum schweigen so viele, die Opfer sexueller Gewalt wurden?
Das ist eine schwierige Frage. Würden Sie einen Missbrauch immer anzeigen?
Ich spreche vom Schweigen, noch nicht von einer Anzeige.
Okay. Würden Sie darüber reden?
Ich überlege mir das oft. Natürlich kann man sich nicht in diese Situation hineindenken. Es ist für mich aber dennoch unverständlich, wieso so viele Frauen nicht über ihren Missbrauch sprechen.
Es kommt sehr auf die Umstände an. Die Fälle mit dem unbekannten Täter, der aus dem Wald springt und eine Frau vergewaltigt, sind sehr selten. Sie machen etwa sieben Prozent aus. Meistens kennen sich Opfer und Täter. Es passieren viele Missbräuche innerhalb der Familie. Da gibt es Abhängigkeiten. Etwa bei Vergewaltigungen in der Ehe. Viele Frauen sind emotional oder finanziell von ihrem Partner abhängig.
Gibt es weitere Gründe?
Viele suchen die Schuld bei sich. Andere haben Angst, das ganze vertraute Umfeld zu verlieren.
Ist es denn einfacher, weiter mit dem Täter zu leben, als dass man es einmal ausspricht?
Es kommt vor, dass Opfer gegenüber Angehörigen oder Freunden den erlebten Missbrauch geschildert haben und ihnen nicht geglaubt wurde. Das ist etwas vom Schlimmsten, was eine Betroffene erleben kann.
Inwiefern spielt es eine Rolle, ob es einmalig war oder über längere Zeit andauerte?
Ist der Missbrauch vorbei, wollen die Betroffenen am liebsten nicht mehr daran denken. Eine Verdrängung ist normal. Verstreicht eine gewisse Zeit, machen die Opfer häufig keine Anzeige mehr. Der Missbrauch hat ja aufgehört. Wenn er weiterhin andauert, kann der Punkt kommen, wo sich die Betroffene sagt: Jetzt ist fertig!
Nur in 20 Prozent aller Fälle von sexuellem Missbrauch kommt es zu einer Anzeige.
Aus Erfahrung in der Strafverfolgung rate ich: Wenn ein Vorfall ganz frisch ist, sollten Frauen rasch Anzeige erstatten. Spezialisten machen dann eine Spurensicherung. Jedes Beweismittel hilft bei der Aufklärung und entlastet das Opfer vom Druck. Auch wenn es schlimm ist, in den folgenden Stunden oder am nächsten Tag beim Schildern alles nochmals durchzuleben, was war und nicht hätte sein dürfen.
In Ihrem Buch steht, man soll nach einem Übergriff nicht einmal duschen wegen der Spuren.
Das stimmt.
Aber das ist doch der natürlichste Reflex!
Ja, ich verstehe, dass man das, was war, abwaschen will. Im Idealfall tut man es aber trotzdem nicht. In unserem Buch erfahren Opfer, was sie tun sollen und wie sie am besten vorgehen. Es wird erklärt, wie eine gynäkologische Spurensicherung abläuft oder warum Befragungen so ausführlich sind. Der Übergriff wird von der Betroffenen als absoluter Kontrollverlust erlebt. Die Polizisten müssen sich daher viel Zeit nehmen. Fühlt sich das Opfer ernst genommen, wird es auch mehr vom Erlebten berichten.
Kann die Frau eine Frau verlangen?
Ja, das empfehle ich. Zudem rate ich, nach einer Person zu bitten, die dafür speziell ausgebildet ist.
Sie waren 15 Jahre lang Kriminalhauptkommissar. Wie viele Frauen haben in dieser Zeit Anzeige wegen sexualisierter Gewalt erstattet?
Ich war Kommissariatsleiter, nicht Kriminalhauptkommissar. Den gibt es bei der deutschen Polizei.
Ups, zu viel «Tatort» geschaut!
Den schaue ich auch. Zu Ihrer Frage: Die Anzahl Fälle ist mir nicht bekannt. Ich habe meine Mitarbeitenden stets aufgefordert, Anzeigen immer entgegenzunehmen und nie jemanden wegzuschicken. Auch Personen, die sich auf den ersten Blick komisch verhalten. Es kann ein Zeichen für ein Trauma sein.
Sie sprechen immer von der Gegenwart, obwohl Sie schon seit drei Jahren raus sind.
Das stimmt. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Polizei.
Und an die Chilli's-Affäre auch nicht? Sie mussten gehen, weil Ihre Kollegen Sie der Korruption beschuldigt hatten. Ihr Führungsverhalten wurde angezweifelt.
Ich habe im Rahmen einer Vereinbarung die Stadtpolizei Zürich verlassen. Darin ist auch Stillschweigen vereinbart. Sie nehmen mir nicht übel, dass ich nichts sage?
Nein. Dann zurück zu den Strafanzeigen. Selbst wenn eine Anzeige gemacht wird, kommt es selten zu einer Verurteilung. 70 Prozent der Strafverfahren werden eingestellt.
Die Anzeige ist erst der erste Schritt. Danach fängt ein langer, beschwerlicher Weg an. Es kommt vor, dass Frauen aufgrund eines persönlichen Tiefs keine Kraft mehr haben und sich zurückziehen. Hier sind Einfühlungsvermögen und Gespräche gefragt, um die Betroffenen vom Dabeibleiben zu überzeugen.
Was sind weitere Gründe?
Schwierig wird es, wenn Aussage gegen Aussage steht. Dann ist es unumgänglich, dass sich das Opfer einer Befragung stellt, an der auch der Beschuldigte teilnehmen kann. Das kann auch per Video geschehen. Er und sein Verteidiger haben das Recht, dem Opfer Fragen zu stellen. Diese können bohrend und verletzend sein. Bricht die Betroffene ab, wird das Verfahren eingestellt. Gerade bei häuslicher Gewalt kommt dies vor. Die Frau kehrt zum Mann zurück.
Wird das Verfahren eingestellt, ist das oft die Schuld des Opfers.
Es geht hier nicht um die Frage von Schuld, die sich ja die Opfer häufig selbst immer wieder stellen. Am Ende des Untersuchungsverfahrens kann der Staatsanwalt zum Schluss kommen, dass es für eine Anklage nicht reicht.
Was müsste passieren, damit es zu mehr Verurteilungen kommt?
Es muss mehr Verfahren geben. Die Opfer sollten zeitlich nicht unter Druck gesetzt werden, und es sollte neben ihren Aussagen immer noch andere Beweismittel geben.
Wie ist das mit der Verjährung?
Da kommt es drauf an. Ein Opfer sollte sich jedoch nicht selbst darum kümmern müssen. Liegt ein Missbrauch länger zurück, rate ich dem Opfer, erst fachlichen Rat bei einer Opferberatungsstelle oder einem Anwalt einzuholen. Dabei sollte auch der Beweggrund der Anzeige besprochen werden. Geht es um Rache und eine strenge Bestrafung, ist die Enttäuschung häufig gross.
Sie hatten etliche Fälle. Warum entscheiden sich Frauen oft erst viel später, Anzeige zu erstatten?
Solange es eine Beziehung gibt, in der es um Macht geht, erfolgt oft keine Anzeige, da der Täter die Kontrolle nicht verlieren will und Druck ausübt.
Und warum meldet man Jahre später doch einen Übergriff?
Der Grund kann in einer Therapie liegen. Dabei kann es sein, dass sich die Betroffene dazu entschliesst, nicht länger zu schweigen und Anzeige zu erstatten. Ich hatte als Bezirksanwalt einen Fall, in dem eine Frau in der Schweiz in die Prostitution geführt und in ein deutsches Bordell verschoben wurde. Es gelang ihr mit Hilfe eines Freiers, zurück in die Schweiz zu fliehen. Hier begab sie sich in eine psychiatrische Klinik. Dabei entschloss sie sich zusammen mit einer Anwältin, Anzeige zu erstatten.
Thema Falschanzeigen: Sie schreiben, dass sie weit seltener seien, als man gemeinhin meint. Woher rührt dieses falsche Bild?
Das ist schwierig zu beantworten. Täter haben immer auch ein Interesse, Aussagen des Opfers als falsch darzustellen. Der Hintergrund ist komplex, da es nicht nur den Vergewaltiger und den anständigen Mann gibt. Hinzu kommen Vorurteile wie: Frauen sind schwatzhaft. Es ist ungeheuerlich zu unterstellen, eine Frau sage eher die Unwahrheit, weil sie eine Frau ist.
Wie oft haben Sie das erlebt?
Wenig, aber es kommt vor. Die Ermittler müssen da genau hinhören.
Tut man genug für die Opfer?
Die Polizei leistet generell sehr gute Arbeit. Es kommt darauf an, wie man es macht. Bei Sexualdelikten ist das Opfer das zentrale Beweismittel. So ist es wichtig, dass mit dem Beweismittel, dem Opfer, sorgfältig umgegangen wird.
Hat sich sexualisierte Gewalt verändert?
Mir fiel bei meiner Tätigkeit bei der Polizei auf, dass es zu mehr Übergriffen im Ausgang kommt. Stichwort Alkohol, Drogen oder K.o.-Tropfen. Gerade in solchen Fällen ist eine sorgfältige Spurensicherung enorm wichtig.
Was machen Sie heute?
Ich bin daran, mich auf die Anwaltsprüfung vorzubereiten. Diese Prüfung ist sehr schwierig. Ich möchte künftig Opfer vertreten.
Bewirken Weinstein und die «MeToo»-Debatte etwas Positives?
Es ist gut, dass man darüber spricht. Im Filmgeschäft scheint eine perfide Art von Machtmissbrauch stattgefunden zu haben. Da muss Licht rein. Auf der anderen Seite finde ich es problematisch, wie mit dem Thema umgegangen wird. Skandalisieren und Banalisieren helfen nicht. Es werden oft Vorurteile bedient. Wenn die Diskussion dann bei der Länge des Rocks landet, sind wir wirklich weg vom Thema.
Was wäre die richtige Diskussion?
Es geht letztlich nicht so sehr um das Thema Sex, sondern um Machtmissbrauch, Druck und Angst. Darüber müssen wir reden. Opfer sollten angstfrei eine Anzeige machen können.
Aber das ist utopisch.
Nennen wir es eine Vision. Es soll das Ziel sein.