Für ein paar Stunden in Geselligkeit und Wärme radelt Larysa Shafaruk, 76, kilometerweit. Kälte und vereiste Strassen nimmt sie klaglos in Kauf auf ihrem Weg zum Sozialclub.
Sie und ihre Altersgenossinnen sind sich Mühsal und Härte gewohnt, haben sie doch Stalins Terrorregime, Hunger und Mangel in der kommunistischen Ära, die Plackerei auf den Kolchosen und die Unsicherheit nach dem Fall der Sowjetunion überstanden.
Dass sie im hohen Alter nochmals einen Krieg miterleben müssen, trifft sie hart. Viele von ihnen sind Witwen, ihre Söhne und Enkel sind an der Front oder auf dem Friedhof, jüngere Familienmitglieder sind geflüchtet.
Ein Club für Seniorinnen gegründet
Sich um ältere Menschen, diese besonders verletzliche Gruppe, zu kümmern, hat sich das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) auf die Fahne geschrieben, in Zusammenarbeit mit der Schwesterorganisation vor Ort. Mit Spendengeldern aus der Schweiz hat das Ukrainische Rote Kreuz (URK) beispielsweise den Sozialclub in Larysa Shafaruks Dorf Juskiwzi in der Westukraine gegründet. Im Gemeindehaus kommt einmal die Woche eine Ärztin vorbei, die restliche Zeit stand es leer.
Seit einem Jahr treffen sich die Seniorinnen hier zum Teetrinken, zum Backen, zum Stricken, zum Singen, zur Gymnastik. Hier finden sie Trost, Abwechslung und Gesellschaft. Bei allen Aktivitäten bleiben übrigens die Kopftücher und die dicken Lismer an. Denn oft fällt der Strom aus – und damit die Heizung.
Der Treffpunkt entstand vor einem Jahr, initiiert von der hoch motivierten Gemeindepräsidentin Anja Usik. Sie legte beim URK im zuständigen Büro in Ternopil einen Projektbeschrieb vor, bat um Unterstützung. Der Club bekam umgehend Sofas und Stühle, ausserdem eine Küche, eine Dusche und einen Fernseher.
Die Gemeindepräsidentin kann im Sozialclub auf ein halbes Dutzend freiwillige Helfende zählen. Sie selbst ist im Dorf zuständig für die Unterbringung von Flüchtlingen, die Marschbefehle für die Soldaten, die Benachrichtigung der Familien über Gefallene, die Beerdigungen.
Neben allem findet Anja Usik Zeit und Kraft für die Senioren. Letztes Jahr organisierte sie einen Bustrip ins Theater und in eine Pizzeria von Ternopil. Für einige der Seniorinnen war dies die erste Reise über die Grenzen von Juskiwzi, dem 800-Seelen-Dorf, hinaus. Und der erste Restaurantbesuch ihres Lebens. Entsprechend enthusiastisch erzählen sie uns Besuchern aus dem fernen Land von diesem Abenteuer.
Larysa bittet eindringlich, dass wir, wieder daheim, allen für die Unterstützung der Ukraine danken. Von der Schweiz weiss sie nur, dass in diesem Land nie Krieg herrschte.
Hausbesuche wie bei der Spitex
Schon vor Ausbruch des Kriegs engagierte sich das Ukrainische Rote Kreuz mit Unterstützung des SRK für betagte Menschen mit dem Angebot von Haushaltshilfen, vergleichbar mit unserer Spitex. Weil dieser Service vielen Senioren und Seniorinnen ermöglicht, möglichst lange im eigenen Daheim bleiben zu können, statt in ein Altersheim zu müssen, bemüht sich das URK, diese Dienstleistung auch unter erschwerten Bedingungen weiter anzubieten.
Gerade für Alleinstehende sind die Hausbesuche der Rotkreuz-Helferinnen enorm wichtig. Zum Beispiel für Tamara Nowizka aus Ternopil. Sie ist auf eine Gehhilfe angewiesen, Einkäufe sind für die 80-Jährige eine Herausforderung. Das Besorgen von Lebensmitteln und vor allem von Trinkwasser übernimmt SRK-Helferin Iryna Krawschuk, 40, seit diesem Herbst. Sie ist eine der 60 Helferinnen im Oblast Ternopil, die 480 betagten Menschen im Haushalt und bei der Körperpflege helfen.
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) ist in rund 30 Ländern der Welt für die Verletzlichsten im Einsatz und leistet dort Nothilfe, beugt Katastrophen vor und stärkt die Gesundheit der Menschen.
Spenden
IBAN CH97 0900 0000 3000 9700 0
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) ist in rund 30 Ländern der Welt für die Verletzlichsten im Einsatz und leistet dort Nothilfe, beugt Katastrophen vor und stärkt die Gesundheit der Menschen.
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Wie die alte Frau zuvor die schweren Wasserbidons in den dritten Stock ihres Wohnhauses gebracht hat, ohne Lift und über ein baufälliges Treppenhaus, bleibt ein Rätsel. Am Tag unseres Besuchs herrscht Stromausfall, in der Nacht zuvor war das Elektrizitätswerk der Stadt bei Drohnenangriffen schwer getroffen worden. Tamara Nowizka nimmt es gelassen. «Ich habe ein Solarradio, eine Spende vom Roten Kreuz. Damit kann ich die Nachrichten hören, wenn kein Strom da ist.»
Mit der Angst hat Tamara Nowizka leben gelernt, schon lange. Sie stammt aus dem Donbass, der besetzten und zerstörten Grenzregion. Ihre Familie wurde in alle Winde zerstreut. Auf ihrem Tisch steht ein Foto der Kinder und Enkel, einmal wöchentlich skypt sie mit ihrem Sohn in Kiew.
Auf die Besuche ihrer Betreuerin Iryna zweimal wöchentlich freut sie sich lange im Voraus. Zwischen den Frauen ist eine vertrauensvolle Beziehung entstanden. Die Rotkreuz-Helferin lobt die Seniorin: «Tamara ist stets gut gelaunt und beklagt sich nie. Manchmal überrascht sie mich mit selbst gebackenen Biskuits.» So viel Lebensmut sei bewundernswert, findet die junge Frau. «Ich möchte noch erleben, dass in meiner Heimat wieder Frieden herrscht», meint die alte Dame mit Wehmut. «So lange will ich noch durchhalten!»
Bleischwere Einsamkeit
Wie herausfordernd die Aufgabe der Rotkreuz-Helferinnen ist, zeigt der Besuch bei Wira Zariuschenko, 65. Die ehemalige Buchhalterin im Staatsdienst, die nach langer Besatzung aus ihrer Heimat in der Region Cherson floh, wird von Depressionen geplagt. Ihr Arm, der auf der Flucht verletzt wurde, schmerzt ständig. Trotz 44 Jahren Berufstätigkeit reicht ihre Rente kaum fürs Nötigste. Einsamkeit nagt an ihrem Herzen, bei unserem Besuch erfährt sie telefonisch vom Tod einer Bekannten.
Ihre Betreuerin Anna Urschuk, 46, nimmt sie in die Arme und lässt sie weinen. «Ich habe Kraft für zwei», meint Anna. Und Glück: «Mein Mann ist über 60, also kriegsdienstbefreit. Unsere Buben sind mit 18 und 21 Jahren noch nicht wehrdienstpflichtig. Ich hoffe, der Krieg ist vorbei, wenn der ältere 25 wird.»