Kopf gegen Bauch
«Der Mensch schätzt Risiken oft falsch ein»

Terrorangriffe machen uns mehr Angst als das Autofahren, obschon letzteres wesentlich gefährlicher ist. Dass der Mensch Risiken verzerrt wahrnimmt, zeigt der Psychologe Michael Siegrist von der ETH Zürich.
Publiziert: 02.03.2018 um 17:13 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 03:00 Uhr
Michael Siegrist untersucht, wie sich Menschen entscheiden. Hier mit einer Auswahl von Lebensmitteln, die wir für unterschiedlich gesund halten, und uns dabei oft von Gefühlen täuschen lassen.
Foto: René Ruis
Beat Glogger

Ob jemand Mobilfunkmasten in der Nachbarschaft akzeptiert, ob er gegen ein Versuchsfeld mit gentechnisch veränderten Pflanzen in der Nachbarschaft kämpft, oder ob er Gentech-Food zu konsumieren bereit ist: Entscheidungen beruhen immer auf Fakten und Gefühlen. Was wann ausschlaggebend ist, erforscht Michael Siegrist vom Institut für Konsumverhalten an der ETH Zürich. 

Beat Glogger: Michael Siegrist, in Ihrer Forschung zeigen Sie, dass Menschen oft nicht besonders vernünftig entscheiden.

Michael Siegrist: Es kommt immer auf die Situation an. Bei sehr vielen Entscheidungen berücksichtigt man nicht alle Faktoren, sondern geht von Mutmassungen über Unbekanntes aus. Das heisst aber nicht, dass diese Entscheidungen schlechter sind als solche, bei denen wir sorgfältig abwägen.

Wann machen solche Bauchentscheide Sinn?

Zum Beispiel bei Routinen, wie dem Einkaufen. Hier wäre es nicht effizient, jedes Mal wieder alle Produkte nach ihren Nährwerten zu analysieren und gegeneinander abzuwägen. Aber wir entscheiden auch bei sehr wichtigen Dingen aus dem Bauch heraus: etwa beim Heiraten. Niemand wägt alle positiven und negativen Seiten ab, bevor er sich für einen Partner entscheidet.

Welche Rolle spielt das Faktenwissen bei Entscheidungen?

Das kann eine grosse Rolle spielen. Beispielsweise kann man den Leuten aufzeigen, dass mehr Handyantennen nicht unbedingt zu mehr Strahlung führen. Denn je näher eine Antenne steht, desto weniger stark muss das Handy, das man am Körper trägt, strahlen. Mit solchen Argumenten kann man die Akzeptanz von Antennen beeinflussen.

Foto: Wikimedia commons

Funktioniert das auch, wenn jemand bereits eine starke Haltung hat?

Nein, das sieht man etwa bei der Nuklearenergie: Wenn jemand klar dafür oder dagegen ist, wird er seine Meinung nicht ändern, weil er neue Informationen erhält. 

Wie kann ich denn jemanden überzeugen, dessen Meinung faktisch nicht haltbar ist?

Wie gesagt, es gibt Leute, die sich mit Fakten durchaus überzeugen lassen. Ist aber eine Meinung so tief verinnerlicht, dass sie Teil ihrer Identität wurde, helfen Fakten nicht. Wenn beispielsweise ganze Gruppierungen extrem gegen Gentechnik oder gegen das Impfen sind, lassen die sich mit Fakten nicht umstimmen, denn das würde ihre eigene Identität in Frage stellen. Wer ein Leben lang gegen etwas gekämpft hat, lässt sich fast nicht mehr umstimmen.

Katastrophen scheinen das zu schaffen. Nach Fukushima haben viele Länder, auch die Schweiz, ihre Energiepolitik geändert.

Bei Politikern trifft dies zu. Die Bevölkerung allerdings ändert die Haltung nicht so schnell. Wir haben zufällig vor Fukushima Umfragen zur Akzeptanz von Nuklearenergie gemacht. Nach der Katastrophe haben wir die Befragung bei denselben Leuten wiederholt. Wir sahen, dass die Menschen das Risiko zwar etwas höher wahrnehmen. Doch die wenigsten haben ihre grundsätzliche Einstellung zu Nuklearenergie geändert.

Warum haben viele Leute mehr Angst vor Terrorangriffen als vor Verkehrsunfällen, obschon das Risiko im Strassenverkehr ums Leben zu kommen viel höher ist?

Es gibt Faktoren, die uns ein Risiko überschätzen lassen: zum Beispiel die Zahl Opfer bei einem einzelnen Ereignis. Bei einem Terroranschlag kommen Dutzende oder gar Hunderte Menschen gleichzeitig um, im Strassenverkehr meist nur einer oder wenige aufs Mal, auch wenn es gesamthaft viel mehr sind. Zudem haben wir auf der Strasse das Gefühl, wir hätten die Situation unter Kontrolle. Einen Terrorangriff hingegen kann man nicht kontrollieren. Das führt zur verzerrten Einschätzung des Risikos. Man könnte nach einem Terroranschlag also durchaus gelassener reagieren.

Wenn das bekannt ist, warum werden dann nach jedem Anschlag sofort riesige Sicherheitsmassnahmen hochgefahren?

Sofortmassnahmen wie mehr Kontrollen und Sicherheitsleute überall machen nach einem Terroranschlag Sinn – aber vor allem psychologisch. Die Menschen brauchen dann das Gefühl der Sicherheit. Genau das vermitteln ihnen diese Massnahmen – auch wenn sie sonst wenig bringen.

Foto: Pixabay

Im Vergleich dazu etwas eher Harmloses: Viele Eltern schätzen das Risiko hoch ein, dass sich ihre Kinder verletzen. Man sieht auf Spielplätzen Kinder, die mit dem Helm die Rutschbahnrunterrutschen. Was halten Sie davon?

Ich warte nur darauf, dass wir einen Helm tragen müssen, wenn wir im Haus die Treppe rauf steigen wollen.  Nein, ernsthaft: Das ist eine Tendenz, die schlussendlich sogar zu höherer Risikobereitschaft führen kann. Denn wer sich beispielsweise durch einen Helm geschützt fühlt, verhält sich unvorsichtiger. Das konnte in einem Experiment gezeigt werden. Dabei sassen Probanden vor einem Computer, die Hälfte trug einen Helm, die andere eine Baseball-Mütze. Alle mussten virtuell am Bildschirm einen Ballon aufblasen. Je grösser der Ballon wurde, desto mehr Geld erhielten sie. Doch der Ballon konnte platzen, wenn man ihn zu stark aufblies. Es zeigte sich, dass die Probanden mit Helm den Ballon öfter platzen liessen, also ein höheres Risiko eingingen. Das ist schon fast absurd.

Foto: Pixabay

Sie haben in ihrer Forschung auch gezeigt, dass Menschen den Begriff «Natürlichkeit» völlig falsch einschätzen.

Wir haben untersucht, wie Konsumenten die Giftigkeit verschiedener Putzmittel einschätzen, wenn diese irrtümlicherweise verschluckt werden. Die Laien dachten bei ökologischen Putzmitteln häufig, sie seien unbedenklich – und lagen damit falsch.

Ist das ein Problem?

Es kann eines sein. Es gibt jedes Jahr Vergiftungen, weil Kinder Putzmittel schlucken. Da spielen auch irgendwelche Logos auf der Flasche eine Rolle, die Natürlichkeit versprechen.

Sie haben auch ein Rezept gefunden, wie man Menschen dazu bringt, mehr Gemüse zu essen.

Ja, das Resultat war erstaunlich: Man muss in einer Kantine einfach mehr verschiedene Gemüsesorten anbieten, dann essen die Leute mehr Gesundes. Denn sie schöpfen sich einfach von jedem Angebot einen Löffel – hat es mehr Gemüsesorten dabei, landet mehr davon auf dem Teller. Und bei Männern fanden wir noch einen interessanten Befund. Wenn sie zuerst das Gemüse schöpfen müssen und erst dann das Fleisch, essen sie mehr Gemüse. Bei Frauen gibt es diesen Unterschied nicht.

Sie haben zwei Söhne im Pubertätsalter – in einem Alter also, in dem man gerne Risiken eingeht. Wie sprechen Sie mit ihren Söhnen, wenn die auf wilde Ideen kommen?

Ich habe in diesem Alter wohl auch nicht immer die intelligentesten Entscheidungen getroffen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass den Jugendlichen das Risiko eigentlich schon bewusst ist. Das hält sie aber nicht davon ab, es trotzdem zu tun. Dennoch versuche ich natürlich, vernünftig mit ihnen zu reden. 

Was ist denn das Wildeste, das Sie selbst damals getan haben?

Oh, das ist schon so lange her ...

Dieses Interview entstand im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Wissenschaft persönlich» am 20. Februar 2018 in der Stadtbibliothek Winterthur. In der Talkshow erzählen Menschen aus der Wissenschaft von ihrer Forschung und ihrem Leben. 

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