Sicherheit wird heutzutage grossgeschrieben – Velo und Ski wird nur noch mit Helm gefahren, auf jeder Zigarettenpackung stehen Warnhinweise, und das Auto piepst und warnt einen, wenn man zu nah an was ranfährt. Ganze Industriezweige beschäftigen sich damit, ihre Produkte so sicher wie möglich für den Gebrauch zu machen.
Sie tun dies aber oft nur für die Hälfte der Erwachsenen – nämlich für Männer. Frauen bleiben bei der Planung der Sicherheit viel zu oft aussen vor. Der Grund: Ingenieure und Konstrukteure sind aus histo-rischen Gründen immer noch zumeist männlich – und es scheint ihnen oft gar nicht in den Sinn zu kommen, ihre Produkte für Frauen mitzuplanen.
Für Frauen hat dies Folgen. Einige sind nervig – etwa wenn Werkzeuge konsequent auf Männerhände ausgerichtet sind, und eine normale Frauenhand sie nicht richtig fassen kann. Oder wenn Regale in Geschäften zu weit oben hängen und Verschlüsse so fest sind, dass man sie als Frau kaum aufbringt.
Andere Folgen sind aber nicht nur unangenehm, sondern sogar gefährlich. Zum Beispiel Autofahren. Bekannt ist dies seit langem: Eine Untersuchung der US-Universität Virginia hat schon im Jahr 2011 gezeigt, dass für Frauen das Risiko, bei einem Autounfall schwerwiegende Verletzungen zu erleiden, um 47 Prozent grösser ist als für Männer. Das Risiko zu sterben ist gemäss einer Studie des US Department of Transportation aus dem Jahr 2013 um 17 Prozent höher als bei Männern. Der Grund: Zum einen seien Autositze, die Distanz zum Steuerrad oder Kopfstützen für Männer konstruiert.
Zudem sind Crashtest-Dummies, die während der Tests am Steuer sitzen, ebenfalls auf Männerproportionen eingestellt, wie der britische «Guardian» im März dieses Jahres berichtete.
Eine Nachfrage bei deutschen Autoherstellern wie Mercedes-Benz und BMW Group zeigt: Keiner konnte bestätigen, dass bei Tests zumindest 50 Prozent Frauen-Dummies, also Puppen mit weiblichem Gewicht und weiblichen Proportionen, am Steuer sitzen. Und beide verwiesen auf das EU-Gesetz, das so etwas nicht vorschreibt.
Dieser Umstand wurde schon letztes Jahr an einem internationalen Kongress zur Verkehrssicherheit kritisiert. Astrid Lindner, die Leiterin des schwedischen Forschungsinstituts für Strassensicherheit und Transportforschung, wies anlässlich eines Vortrags darauf hin, was das für Folgen hat: Frauen haben weniger Muskeln im Oberkörper und in der Nacken-Hals-Region als Männer – und sind so bis zu drei Mal anfälliger für Schleudertraumata.
Gefährlich: Alexa versteht Frauen nicht richtig
Zwar gibt es heute smarte Spracherkennungssysteme in Autos, mit denen verletzte Frauen eine Ambulanz rufen könnten, aber leider reagieren die Systeme vor allem auf männliche Stimmen, darauf machte der Branchenblog autoblog.com aufmerksam. Erst wenn Frauen die Stimme senken, reagiert das System. Das Problem hat die Automobilindustrie mit anderen gemein: Auch das Home-Service-System Alexa reagiert oft nicht auf Frauenstimmen.
Den Ingenieuren hier böse Absicht zu unterstellen, ist verfehlt – es ist wohl eher so, dass in ersten Versionen, bis der Fehler erkannt ist, schlicht nicht daran gedacht wird, Frauenstimmen in die Testreihen einzubeziehen. Was im Normalfall ärgerlich ist, kann dann gefährlich werden, wenn es sich um einen Notfall handelt – also etwa bei einem Einbruch, wenn Alexa dazu angehalten werden soll, den Notruf zu wählen. Da bleibt bloss der Griff zum Handy.
Aber auch da gibt es leider ein Problem bei den grossen Modellen: Die teuersten Geräte von Apple und Samsung, also die coolsten, welche über den meisten technischen Schnickschnack verfügen, gibt es gemäss Herstellerangaben ab einer Breite von ca. 7,8 Zentimetern. Als Frau ist da mit dem Daumen kein rumkommen direkt auf die Anruftaste! Kamerabedienung mit einer Hand, für Männer kein Problem, ist für Frauen bei den meisten Modellen unmöglich – auch wenn es in einer Notfallsituation vielleicht wichtig wäre, schnell ein Bild schiessen zu können.
Zeit also, dass Frauen das Ganze selbst in die Hand nehmen, ihre eigenen Start-ups gründen und technische Lösungen für ihre Alltagsprobleme finden. Blöd nur, dass auch Investoren lieber Männern Geld geben. Das zeigt die Autorin Caroline Criado Perez in ihrem soeben auf Englisch erschienenen Buch «Invisible Women» (Unsichtbare Frauen) auf: 93 Prozent der Investoren, schreibt sie, sind Männer – und sie vergeben ihr Geld lieber an Männer.
Dabei gibt es eine aktuelle Studie, welche beweist, dass dies wirtschaftlich gesehen dumm ist: Das US-Beratungsunternehmen Boston Consulting Group mit 90 Niederlassungen über den ganzen Globus verteilt hat 2018 in einer gross angelegten Untersuchung gezeigt, dass weibliche Unternehmer weniger als die Hälfte an Investitionskapital von Investoren zusammenbekommen als männliche Unternehmer. Obwohl sie im Vergleich mehr als doppelt so viel wie die männlichen Investoren erwirtschaften. Auf jeden investierten Dollar hätten die Unternehmerinnen im Schnitt 81 Cent Gewinn gemacht. Bei den Unternehmern waren es magere 31 Cent.
Frauenprobleme sind keine Probleme
Es ist aber nicht nur so, dass weibliche Investoren weniger Geld bekommen, es ist auch so, dass wirtschaftlich lukrative Felder brachliegen, weil sie Frauenthemen betreffen. Der medizinische Bereich etwa bietet mehrere Beispiele.
Jede Frau mit Kindern, die mit einer Milchpumpe operieren musste, weiss: Die Dinger sind ein Albtraum. Frau sitzt da, presst mehrmals täglich für mindestens zwanzig Minuten ein hartes, unbequemes Ding an jede Brust, welches schmerzt und schlecht funk- tioniert. Wie schwierig kann es sein, eine funktionierende, bequeme, anschnallbare Brustpumpe zu entwickeln? Für einen Markt, der gemäss Recherchen des US-Magazins «The New Yorker» 700 Millionen Dollar pro Jahr wert ist?
Oder das rein weibliche Problem des Prolapses? Nie gehört? Es handelt sich um ein rein weibliches Beckenbodenproblem, in welchem die Organe durch die dünner werdende Vaginalwand drücken. Gemäss einigen Studien leiden 37 Prozent aller Frauen unter einer Form davon, zehn Prozent aller Frauen werden deshalb irgendwann eine Operation brauchen. Die Aufklärung darüber oder die medizinische Forschung zur optimalen Vorbeugung oder sogar zur besten Operation ist dürftig – in Grossbritannien ist sogar ein Skandal im Gange, weil Tausenden von Frauen Plastiknetze in die Vaginalwand operiert wurden, die sich später entzündeten, Frauen behindert zurückliessen und sogar zu Todesfällen führten.
Sicherheit, Medizin, Technik, Business – die Welt ist gegen uns Frauen. Und wem nun so als Frau langsam schlecht wird, der greift vielleicht zur Beruhigungspille – aber halt! Auch da ist die Medizin parteiisch: Eine Fehldosierung kann Risiken und Nebenwirkungen verursachen oder verstärken; und diverse Fachpapiere und Artikel der letzten Jahre zeigen, dass Pharma- firmen Medikamente oft nicht auf geschlechtsspezifische Unterschiede testen. Es gibt dafür sogar einen Fachbegriff: «gender gap in health research» nennt sich der Fakt – oder zu Deutsch: «Geschlechtsspezifische Lücke in der Gesundheitsforschung».
Von den drei angefragten Pharmariesen Roche, Bayer und Pfizer hat kein einziger auch nur reagiert auf die Frage, ob sie bei Medikamententests darauf achteten, dass die Testgruppen mindestens aus 50 Prozent Frauen bestünden – und ob sie die Wirkung auf Männer und Frauen separat testeten. Ähnlich sah es lange bei Kniegelenkimplantaten aus. Deren Herstellung beruhte auf den Daten von 3000 US-Rekruten, obwohl zwei Drittel der Empfänger weiblich sind.
Trotz allem: Hurra, wir leben noch!
Für Frauen schliesst sich daraus, dass zum einen die Angaben auf den Packungsbeilagen für sie oft falsch sind, das jeweilige Medikament also zu hoch dosiert ist. Zum anderen ist bei diversen Medikamenten nicht erprobt, wie sie eigentlich auf den hormonell doch recht anders geregelten Körperhaushalt von Frauen wirken. Zeit, als Frau einen Champagner aufzumachen und auf sich selbst anzustossen: Hurra, wir leben noch!