Isabel Martínez forscht zum Thema Ungleichheit. Das tut sie in einem Büro an der Universität St. Gallen (HSG), die majestätisch über der Ostschweizer Stadt thront. Und als wäre das nicht schon genug, ist die Ökonomin auch noch Gewerkschaftssekretärin. Ein Widerspruch. Eigentlich. Denn wer mit ihr spricht, merkt: Sie hat beides im Blick. Die oberen und die unteren Spitzen der sozialen Schere.
Am Freitag streikten Zehntausende Frauen. Sie auch?
Isabel Martínez: Ja, Akademikerinnen in der ganzen Schweiz haben ein Manifest verfasst, in dem sie unter anderem bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, keine Events am Abend und mehr Frauen in Professuren fordern.
Wo haben Sie als Frau Benachteiligungen erfahren?
Als Studentin dachte ich immer, dass die Diskriminierung von Frauen Schnee von gestern ist. Oder nicht für mich gilt. Dem ist nicht so. Ein paar Beispiele: Als vollwertige Wissenschaftlerin werde ich immer wieder geduzt. Ein anderes Mal präsentierte ich an einer Konferenz meine Forschung. Nach dem Vortrag kam ein Professor von auswärts zu mir und fragte mich, ob ich hier studieren würde. Als ich ihm erzählte, dass ich einen Doktortitel habe und Mitglied in der Wettbewerbskommission bin, war er ganz erstaunt. Plötzlich sprach er anders mit mir, auf Augenhöhe.
Das könnte auch einem Mann passieren, der jung aussieht.
Sicher. Nur frage ich mich, wie oft männliche Kollegen an Konferenzen gefragt werden, wo die Toilette ist, wo man Kaffee bekommt oder wo man in Ruhe telefonieren kann. Man nimmt an, Frauen an solchen Anlässen gehörten zur Eventorganisation.
Ein Anliegen der Streikenden war die Lohngleichheit. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Ich habe einige Male erlebt, dass ein männlicher Kollege mehr Lohn als ich bekommen hat. Man sprach immer von einem Lapsus, von einem Fehler, der bei der Lohneinstufung passiert ist. Nur: Der Fehler passierte immer zu meinem Nachteil.
Isabel Martínez (33) ist promovierte Ökonomin und forscht an der Universität St. Gallen zum Thema Einkommens- und Vermögensungleichheit. Sie arbeitet zudem als Ökonomin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund und ist Mitglied der Wettbewerbskommission. Ihr Forschungsschwerpunkt ist kein Zufall. Die Mutter ist Schweizerin, der Vater ist Spanier und war in der Studentenverbindung aktiv – während der Franco-Diktatur lebten die beiden in Spanien. Ungleichheit war das Thema am Mittagstisch der Familie Martínez.
Isabel Martínez (33) ist promovierte Ökonomin und forscht an der Universität St. Gallen zum Thema Einkommens- und Vermögensungleichheit. Sie arbeitet zudem als Ökonomin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund und ist Mitglied der Wettbewerbskommission. Ihr Forschungsschwerpunkt ist kein Zufall. Die Mutter ist Schweizerin, der Vater ist Spanier und war in der Studentenverbindung aktiv – während der Franco-Diktatur lebten die beiden in Spanien. Ungleichheit war das Thema am Mittagstisch der Familie Martínez.
Dass Männer mehr verdienen als Frauen, zweifelt heute niemand mehr an. Eine vom Bund an der Uni St. Gallen in Auftrag gegebene Studie ist zum Schluss gekommen, dass dies aber nicht automatisch mit Diskriminierung zu tun hat. Bilden sich die Streikfrauen alles nur ein?
Da muss man aufpassen. Nur weil die Statistik die Ungleichheit erklären kann, heisst das nicht, dass keine Diskriminierung dahintersteckt. Nur weil mehr Frauen Teilzeit arbeiten als Männer, heisst das nicht, dass sie weniger gern Karriere machen. Man muss fragen, weshalb das so ist. Wenn das Kind krank ist, ist es häufig die Mutter, die dem Arbeitsplatz fernbleibt, um sich zu kümmern. Weshalb?
Wenn Kind und Karriere so schwierig zu vereinbaren sind, warum nicht einfach auf das Kind verzichten?
Das ist gesellschaftlich untragbar. Wenn Frauen anfangen, keine Kinder mehr zu haben, weil sie Kinder und Karriere nicht unter einen Hut bringen, sterben wir Schweizer und Schweizerinnen irgendwann aus.
Ich kenne einige Frauen um die 40, die keine Kinder wollen, was gesellschaftlich akzeptiert ist. Das ist doch ein Fortschritt und damit zu begrüssen.
Erfolgreiche Frauen sind oft kinderlos. Das zeigen unsere Bundesrätinnen. Berset hingegen hat drei Kinder. So wie fast jeder erfolgreiche Mann. Das ist nicht fortschrittlich. Wenn Männer Karriere und Familie haben können, sollte das für Frauen genauso gut möglich sein.
Sie haben auf Twitter eine interessante Grafik gepostet: die zehn reichsten Frauen der Welt, die zehn reichsten Männer der Welt. Ihr Fazit: Die Frauen kennt niemand. Wie waren die Reaktionen auf diesen Vergleich?
Es hiess: Die Frauen haben das Vermögen geerbt oder einen reichen Typ geheiratet. Dass eine Frau sich ihren Reichtum erarbeitet, passt nicht ins Bild. Das hat man ja bei der Diskussion um MacKenzie Bezos gesehen, die Frau von Amazon-Gründer Jeff Bezos.
Die beiden lassen sich scheiden, und sogenannte Qualitätsmedien wie «Forbes» unterstellten ihr, sie würde ihren Mann und Amazon um sein hart verdientes Vermögen erleichtern.
Bei einem Mann käme man nicht auf die Idee, so zu argumentieren. Trump hat sein Vermögen geerbt, und bei ihm spricht man über die Unternehmen, die er geführt hat. Die Mehrheit der zehn reichsten Frauen sind tatsächlich Erbinnen. Aber die haben selbst auch erfolgreiche Unternehmen und Stiftungen gegründet.
Wie heissen diese Frauen?
Die L’Oréal-Erbin. Steve Jobs’ Frau.
Sie erinnern sich nicht. Ich auch nicht.
Schockierend. Weil mir das aufgefallen ist, habe ich die Grafik überhaupt getwittert.
Sie forschen zum Thema Ungleichheit. Säen Sie so nicht Neid, der den gesellschaftlichen Frieden stört?
Zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft gehört, dass über die Zustände der Gesellschaft informiert wird. Nur so können Volk und Politik entscheiden, ob und was sie allenfalls dagegen tun wollen. Man verbietet ja auch nicht, die Schadstoffbelastung in Luft, Wasser und Böden zu messen, weil man damit nur die Bevölkerung verunsichern könnte. Nicht das Messen des Feinstaubs ist das Problem, sondern eine zu hohe Feinstaubbelastung.
Wo ist die Ungleichheit in der Schweiz am grössten?
In den Innerschweizer Kantonen, wo die Steuern für Spitzeneinkommen tief sind. Auch im Kanton Waadt, wo es viele Pauschalbesteuerte gibt. Oder in den Tourismusregionen. In Skigebieten im Wallis und in Graubünden treffen Reiche, die sich ein mondänes Chalet in den Bergen gebaut haben, auf Leute, deren Job es ist, diesen für einen tiefen Lohn Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Insgesamt hat die Ungleichheit in der Schweiz zugenommen.
Was heisst das?
Die 500 reichsten Steuerpflichtigen besitzen heute acht Prozent der Vermögen. Tendenz steigend. Das passiert nicht auf Kosten der Armen, die Armutsquote sinkt seit Jahren. Sondern weil das reichste Prozent der Schweizer immer mehr zulegt. Neben der Globalisierung trägt auch der Steuerwettbewerb unter den Kantonen dazu bei.
Wo ist das Problem, wenn es keinem schlechter geht?
Wenn Ungleichheit zunimmt, wird es schwieriger, in die Mittelklasse oder Oberschicht aufzusteigen. Auch die Demokratie nimmt Schaden. Reichtum hängt mit Macht und Einfluss zusammen. Man kann Medien, Wahlen und Abstimmungen kaufen. Man kann die Gesetze zum Vorteil der Reichen anpassen. Und die Schere öffnet sich noch mehr.
Wer sind diese Superreichen?
Ärzte, Anwälte, CEOs – sehr gebildete Männer aus der Wirtschaft. Und die leben nicht einfach von einem Vermögen, das sie geerbt haben. Sie leben sehr oft von gut bezahlten Jobs. Aber der Job alleine ist nicht entscheidend. Um es ganz nach oben zu schaffen, muss man auch mit den Reichen und Mächtigen vernetzt sein. Man schafft es vielleicht als Wirtschaftsanwalt ganz nach oben, als Scheidungsanwalt hingegen weniger.
Wer Eltern aus dem Kosovo hat, die in der Fabrik oder auf dem Bau arbeiten, hat also schlechte Karten?
Nicht nur sie. Bei den Ärzten weiss man, dass man viel Arbeit in die Assistenzarztzeit stecken muss, um weiterzukommen. Für Frauen mit Kind ist das schwierig. Man weiss auch aus Studien, dass die Forschungsarbeiten von Frauen schlechter bewertet werden. Und in den USA spielt es für die Aufstiegschancen eine grosse Rolle, ob man schwarz, Latino oder weiss ist.
Der bekannte Ökonom Thomas Piketty und Sie stehen politisch links. Muss man das, wenn man Ungleichheitsforscherin ist?
Nein. Aber Linke bezweifeln eher, dass der freie Markt so gut funktioniert, wie das in den Lehrbüchern der Unis steht. Ungleichheit ist das Ergebnis davon. Der Arbeitsmarkt zeigt das gut. Nicht alle können nach Belieben den Job wechseln. Weil es vielleicht nicht so viele Jobs bei verschiedenen Firmen gibt und sie vielleicht zu wenig gut ausgebildet sind, um etwas anderes zu machen. Auch geografisch ist man oft nicht mobil – besonders dann, wenn man Familie hat.
Trotzdem forschen Sie an der HSG, der liberalen Kaderschmiede der Schweiz. Ein Widerspruch.
Aus Gewerkschaftskreisen bekam ich schon zu hören: Aha, St. Galler Management-Modell – da lernt man, wie man die Arbeiter auspresst. Meine Arbeit hier hat nichts damit zu tun. Ich betreibe Wissenschaft, meine Publikationen müssen der internationalen Forschungsgemeinschaft standhalten, nicht der HSG gefallen.