Etwas war merkwürdig. Als kanadische Wissenschaftler im Jahr 2009 die Gehirne von vierundzwanzig Menschen untersuchten, die Suizid begangen hatten, sahen sie bei einigen eine Besonderheit. Und zwar bei jenen Suizidopfern, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht, geschlagen oder vernachlässig worden waren. Bei ihnen zeigten sich chemische Veränderungen an der Erbsubstanz im Hippocampus, der zentralen Schaltstelle für Erinnerungen im Gehirn. Im Gegensatz dazu sah das Gehirn jener, die eine unbeschwerte Kindheit erlebt hatten, genauso aus wie das von Menschen, die eines natürlichen Todes starben.
Diese Studie war eine der ersten von vielen, die traumatische Erlebnisse mit chemisch veränderter Erbsubstanz in Zusammenhang brachte. Die sogenannten epigenetischen Prägungen waren an sich minim: An mehreren Stellen hafteten am DNA-Strang zusätzliche kleine Gruppen von Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen, in der Fachsprache Methylierungen genannt. Aber die Veränderungen betrafen Gene, die eine zentrale Rolle in der Reaktion unseres Körpers auf Stress einnehmen.
Den Schrecken des Krieges geerbt
Um die Entdeckung, dass sich ein erlebtes Trauma in der Erbsubstanz einbrennen kann, entstand in den letzten zehn Jahren ein neues Forschungsfeld – das der Epigenetik. Für die Forschenden stellte sich eine aufregende Frage: Wenn diese Veränderungen an der Erbsubstanz haften, vererben sie sich auch an nachfolgende Generationen? Wäre das der Fall, müssten die Lehrbücher der Biologie umgeschrieben werden. Denn bis anhin ging die Wissenschaft davon aus, dass jede Generation wieder von vorn startet, einzig ausgestattet mit den Genen von Mutter und Vater, die auch diese schon seit ihrer Geburt unverändert in sich trugen.
Der menschliche Körper besteht aus einer Vielzahl spezialisierter Zelltypen: Nervenzellen, Hautzellen, Leberzellen, Muskelzellen, und viele weitere. Das Aussehen und die Funktionsweise all dieser Zellen ist völlig verschieden – und trotzdem tragen alle genau dasselbe Erbgut in sich. Wie können sie sich mit derselben Information so verschieden entwickeln? Das Geheimnis liegt darin, dass jeder Zelltyp nur bestimmte Abschnitte des Genoms beachtet, und andere komplett ignoriert. Man kann sich das Genom als Buch vorstellen, aus dem Herzmuskelzellen nur das Kapitel über das Herz lesen, und Nervenzellen nur jenes über das Gehirn. Verantwortlich dafür, welche Kapitel – oder Gene – für die verschiedenen Zelltypen sichtbar sind, ist das Epigenom. Dieses kann von einer Zelle auf ihre Nachkommen weitervererbt werden. Daher wird aus einer Nervenzelle nicht plötzlich eine Muskelzelle. Wie genau diese Vererbung passiert, ist noch nicht restlos geklärt. Sicher ist, dass es Enzyme gibt, die epigenetische Merkmale gezielt an der DNA anbringen oder entfernen können.
Der menschliche Körper besteht aus einer Vielzahl spezialisierter Zelltypen: Nervenzellen, Hautzellen, Leberzellen, Muskelzellen, und viele weitere. Das Aussehen und die Funktionsweise all dieser Zellen ist völlig verschieden – und trotzdem tragen alle genau dasselbe Erbgut in sich. Wie können sie sich mit derselben Information so verschieden entwickeln? Das Geheimnis liegt darin, dass jeder Zelltyp nur bestimmte Abschnitte des Genoms beachtet, und andere komplett ignoriert. Man kann sich das Genom als Buch vorstellen, aus dem Herzmuskelzellen nur das Kapitel über das Herz lesen, und Nervenzellen nur jenes über das Gehirn. Verantwortlich dafür, welche Kapitel – oder Gene – für die verschiedenen Zelltypen sichtbar sind, ist das Epigenom. Dieses kann von einer Zelle auf ihre Nachkommen weitervererbt werden. Daher wird aus einer Nervenzelle nicht plötzlich eine Muskelzelle. Wie genau diese Vererbung passiert, ist noch nicht restlos geklärt. Sicher ist, dass es Enzyme gibt, die epigenetische Merkmale gezielt an der DNA anbringen oder entfernen können.
Traurigerweise stellten sich Katastrophen und Kriege als besonders geeignet heraus, um die Frage zu beantworten, ob sich traumatische Erlebnisse im Erbgut einbrennen. Denn bei solchen Ereignissen erleben hunderttausende von Menschen dasselbe Trauma. So lässt sich untersuchen, ob und wie sich das auf ihre Kinder auswirkt.
Das tut es. Und zwar deutlich. Das zeigten mehrere Studien internationaler Forschungsgruppen zu einer Hungersnot in Holland im zweiten Weltkrieg. Im Winter 1944 blockierten die Nazis sämtliche Transporte von Nahrungsmitteln in die Niederlande. So litten in diesem Winter über viereinhalb Millionen Menschen Hunger – darunter Tausende von schwangeren Frauen. Sie mussten mit weniger als 800 Kilokalorien pro Tag durchkommen. Das ist weniger als ein Drittel des Tagesbedarfs einer Schwangeren. Dass der Mangel Spuren bei den ungeborenen Babys hinterliess, ist nicht erstaunlich. Bei der Geburt waren die meisten von ihnen denn auch zu klein und zu leicht. Und heute, im Erwachsenenalter, leiden sie auffällig häufiger an gesundheitlichen Beschwerden als ihre Geschwister, die vor oder nach dem Krieg zur Welt kamen. Sie haben ein höheres Risiko für Diabetes, für Herz-Kreislauferkrankungen, und für eine Reihe von Stoffwechselkrankheiten. Ein Ergebnis aber liess die Wissenschaftler aufhorchen: Brachten die Kinder des «Hungerwinters» später selber Babys zur Welt, waren auch diese untergewichtig – ungeachtet des heutigen Überflusses. Fast scheint es, als ob die Grossmütter ihren Enkeln das Leid des Krieges vererbt hätten.
Und tatsächlich fanden Forschende auch bei den Kindern und Enkeln dieses Kriegswinters ein verändertes epigenetisches Muster der Methylierungen am Erbgut. Das zeigt eine Studie holländischer und amerikanischer Biologen aus dem Jahr 2008.
Viele weitere wissenschaftliche Arbeiten zeigen ähnliche Vererbungs-Effekte von Traumata. Zum Beispiel das immer noch laufende «Project Ice Storm», welches kanadische Kinder untersucht, die im Januar 1998 im Bauch ihrer Mütter heranwuchsen. Zu dieser Zeit fegten mehrere Stürme über Quebec und bedeckten die Stromleitungen mit einer dicken Eisschicht. Drei Millionen Menschen mussten deshalb ohne Strom auskommen – und zwar während sechs Wochen. Für die damals schwangeren Frauen war das ein grosser Stress, dessen Folgen ihre Kinder heute, zwanzig Jahre später, noch spüren: Sie leiden signifikant häufiger an Übergewicht, Diabetes, Asthma und Autismus als Kinder anderer Jahrgänge. Und auch bei diesen Kindern findet man ein verändertes epigenetisches Muster.
Weitere Generationen betroffen
Doch wie schlimm muss ein Trauma sein, damit es sich weitervererbt? «Dazu braucht es nicht unbedingt einen Krieg oder eine landesweite Katastrophe», sagt Isabelle Mansuy, Hirnforscherin an der Universität und der ETH Zürich. Missbrauch und Vernachlässigung seien Alltag im Leben vieler Kinder, sagt sie. «In Familien, in der Schule, in Kirchen – es passiert überall.» Die Zahlen geben ihr Recht: Gemäss einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2013 wird in Europa etwa jedes zehnte Kind sexuell missbraucht, und jedes fünfte Kind geschlagen. Zudem werden 16 Prozent der Kinder physisch und 18 Prozent emotional vernachlässigt.
Welche Folgen die psychischen Traumata für den Körper haben, will Mansuy verstehen. Insbesondere, ob auch die nachfolgenden Generationen noch darunter leiden. Dazu hat die Hirnforscherin eine spezielle Versuchsanlage entwickelt. Im Labor werden frisch geborene Mäuse wiederholt und plötzlich von ihren Müttern getrennt – ähnlich wie bei einer Vernachlässigung eines Kindes durch eine menschliche Familie. Die Wissenschaftler beobachten daraufhin das Verhalten und den Gesundheitszustand der Mäuse und ihrer Nachkommen, und analysieren epigenetische Veränderungen.
So zeigte Mansuy mit ihrem Team, dass die Mäuse, die in den ersten zwei Wochen täglich von ihrer Mutter getrennt wurden, Anzeichen von Depressionen, ein gestörtes soziales Verhalten, ein krankhaft gesteigertes Risikoverhalten und einen beeinträchtigten Stoffwechsel haben. Die neusten Resultate, die Mansuy diesen Oktober veröffentlichte, gehen noch viel weiter: Das veränderte Verhalten tritt nicht nur bei den Mäusen der ersten Generation auf, sondern auch bei ihren Nachkommen. Und deren Nachkommen. Und wiederum deren Nachkommen. Bis in die vierte Generation. In der Zwischenzeit hat Mansuys Team die Folgen des Traumas sogar bei der fünften Generation beobachtet. Und bisher bis in die zweite Generation massen die Wissenschaftler epigenetische Veränderungen an der Erbsubstanz der Mäuse – weitere Messungen werden folgen. «Unsere Resultate sprechen eine deutliche Sprache», sagt die Hirnforscherin. «Die epigenetische Prägung bleibt wahrscheinlich über viele Generationen hinweg erhalten – und damit auch die Verhaltensstörungen.»
Ob die Folgen eines traumatischen Erlebnisses auch bei Menschen so viele Generationen beeinflussen, ist noch nicht geklärt. Mansuy arbeitet aber mit ihrem Team daran. Zurzeit führt sie eine Studie über verwaiste Kinder in einem pakistanischen SOS-Kinderdorf durch. «Ich erwarte, dass wir auch da gesundheitliche Folgen sehen, die einen epigenetischen Ursprung haben.» Dass aus ihrer Forschung bald neue Ansätze entstehen, psychische Erkrankungen zu behandeln, glaubt Mansuy allerdings nicht. «Wir beginnen erst, die Mechanismen im Körper zu verstehen», sagt die Hirnforscherin. Da die epigenetischen Veränderungen wahrscheinlich in jeder einzelnen Körperzelle stattfinden, lässt sich eine einmal festgeschriebene Prägung auch nicht so einfach umkehren. «Aber das Forschungsgebiet der Epigenetik ist noch sehr jung», sagt die Mansuy. So bleibt das Anwenden der Erkenntnisse in eine Therapie wohl einer nächsten Generation vorbehalten.
Unter Epigenetik versteht man die Mechanismen, die dazu führen, dass Gene in einer Körperzelle stärker oder schwächer abgelesen werden. Die Gesamtheit dieser Veränderungen nennt man Epigenom. Dabei bleibt die gespeicherte genetische Information – also das Genom – unverändert. Die wichtigsten zwei epigenetischen Mechanismen sind die direkte Modifikation der DNA sowie der Proteine, um die die DNA aufgewickelt ist:
- Bei der DNA-Methylierung verbinden sich Methylgruppen mit einzelnen Bausteinen der Erbsubstanz DNA. Dadurch können Gene an- oder abgeschaltet werden, entweder direkt oder durch Wechselwirkungen über entfernte Stellen auf der DNA. Dies kann beispielsweise den Hormonhausalt im Körper aus dem Gleichgewicht bringen, und so die Entstehung von Krankheiten begünstigen. Meist reicht dazu aber nicht eine einzelne Methylierung, sondern es braucht eine ganze Reihe davon.
- In den Kernen unserer Zellen liegt die DNA nicht frei vor, sondern aufgewickelt auf sogenannten Histonen. Das sind kreisrunde Proteine, um die sich der DNA-Strang wie eine Schnur windet. Je nachdem, wie straff die DNA durch die Histone verpackt sind, sind gewisse Gene für die Zelle nicht mehr ablesbar. Epigenetische Prozesse können diesen Packungszustand verändern, indem verschiedene chemische Gruppen an die Histone angefügt oder entfernt werden. Dieser epigenetische Effekt nennt sich Histonmodifikation.
Unter Epigenetik versteht man die Mechanismen, die dazu führen, dass Gene in einer Körperzelle stärker oder schwächer abgelesen werden. Die Gesamtheit dieser Veränderungen nennt man Epigenom. Dabei bleibt die gespeicherte genetische Information – also das Genom – unverändert. Die wichtigsten zwei epigenetischen Mechanismen sind die direkte Modifikation der DNA sowie der Proteine, um die die DNA aufgewickelt ist:
- Bei der DNA-Methylierung verbinden sich Methylgruppen mit einzelnen Bausteinen der Erbsubstanz DNA. Dadurch können Gene an- oder abgeschaltet werden, entweder direkt oder durch Wechselwirkungen über entfernte Stellen auf der DNA. Dies kann beispielsweise den Hormonhausalt im Körper aus dem Gleichgewicht bringen, und so die Entstehung von Krankheiten begünstigen. Meist reicht dazu aber nicht eine einzelne Methylierung, sondern es braucht eine ganze Reihe davon.
- In den Kernen unserer Zellen liegt die DNA nicht frei vor, sondern aufgewickelt auf sogenannten Histonen. Das sind kreisrunde Proteine, um die sich der DNA-Strang wie eine Schnur windet. Je nachdem, wie straff die DNA durch die Histone verpackt sind, sind gewisse Gene für die Zelle nicht mehr ablesbar. Epigenetische Prozesse können diesen Packungszustand verändern, indem verschiedene chemische Gruppen an die Histone angefügt oder entfernt werden. Dieser epigenetische Effekt nennt sich Histonmodifikation.