Höchste Zeit für etwas Neues
5000 Jahre Patriarchat

Erst seit 5000 Jahren sind Männer wichtiger als Frauen. Warum es höchste Zeit ist, das Patriarchat abzuschaffen – und was #metoo bewirkt.
Publiziert: 12.12.2017 um 17:04 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 04:41 Uhr
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Ein Mann, viele Frauen: ein Harem des Künstlers Giacomo Mantegazza.
Foto: Fine Art Photographic
Alexander Edmonds (Text) und Silvia Tschui (Übersetzung)

Der schiere Umfang des Skandals um Filmproduzent Harvey Weinstein ist überraschend. Schliesslich sind sexuelle Über­griffe in Hollywood ein so alter Hut, dass sie schon ein ­Klischee sind.

Während sich der Skandal um übergriffige Männer auf Politik, Medien und die Wirtschaftswelt ausdehnt, wird aber klar, dass jetzt gerade etwas Neues geschieht: Frauen schweigen nicht mehr, nennen ­sogar Namen. ­Listen mit ­Titeln wie «Scheissmänner in den Medien» («Shit Men in Media») oder «Tabelle der Schande» («Spreadsheet of Shame») kursieren in den USA und in England, ­darauf stehen Namen von bri­tischen Politikern und einfluss­reichen US-Medienleuten, die in den letzten Jahren hierarchisch schlechter gestellte Frauen belästigten. Kommen all die Aufschreie von Frauen in den sozialen Medien hinzu, sind wir bei Tausenden von Fällen.

Zum ersten Mal werden Frauen gehört: Am Mittwoch ernannte das einflussreiche «Time Magazine» die ersten Frauen, die sich gegen den mächtigen Weinstein gestellt hatten, gemeinschaftlich zur «Person des Jahres».

Auf die Titelseite der aktuellen Ausgabe setzte die Zeitschrift Frauen wie Schauspielerin Ashley Judd, Sängerin Taylor Swift und die Software-Entwicklerin Susan Fowler.
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USA:«Time» kürt Frauen hinter #MeToo-Bewegung zur Person des Jahres

Sie haben Frauen eine globale Plattform gegeben, ihre Geschichten von Machtmissbrauch, Belästigung, Schikane und sexuellem Missbrauch zu berichten.

Donald Trump mit Gattin Melania: Sein Verhalten vor einem Jahr bräche ihm heute sein Genick.
Foto: Chip Somodevilla

Es gibt aber bereits einen sogenannten Backlash, einen Gegentrend, der auf jede feministische Bewegung der letzten Dekaden unweigerlich folgt. Es ist immer derselbe Reflex: die Opfer zu beschuldigen. Sie seien falsch angezogen oder hätten sich falsch benommen.

Sex mit vielen Partnerinnen bringt reproduktiven Vorteil

Ist die ganze #metoo-Debatte also nur ein weiterer Social-Media-Trend, der bereits langsam verblasst? Oder ist der Skandal ein «Riss im Stoff des Patriarchats», wie die berühmte Globalisierungskritikerin Naomi Klein sagt? Das Patriarchat, glauben viele, soll bis zu den ­ungebildeten Nebeln der menschlichen Zivilisation zurückreichen.

So argumentieren zumindest einige Soziobiologen. Sie führen die Ursprünge des Patriarchats auf biologische Unterschiede der Geschlechter zurück, insbesondere auf die Vaterschaftsfrage: Da Männer ihrer Vaterschaft nicht ganz sicher sein können, versuchen sie die Sexualität von Frauen zu kontrollieren, um ihren eigenen genetischen Fortbestand zu sichern. Diese Kontrolle zeigt manche kulturelle Ausprägung: Vom arabischen «haram» ­(islamische Verbote) bis hin zur viktorianischen Gouvernante.

Natürlich sind Männer wie Weinstein nicht an der Vaterschafts­frage, sondern an sexueller Befriedigung interessiert. Ihr Verhalten illustriert aber ein zweites, für Soziobiologen interessantes Prinzip: Sex mit vielen Partnern gibt Männern einen grösseren reproduktiven Vorteil als Frauen. Ein einzelner Sexakt kostet einen Mann bio­logisch gesehen keinen grossen Aufwand, bringt aber einen grossen Ertrag: sein genetisches Überleben. Dieser Argumentation liegt der ­niederträchtigste Doppelstandard ­patriarchaler Gesellschaften zugrunde: Männer werden für sexuell ausschweifendes Verhalten gerühmt, Frauen bestraft und verachtet.

Was ist #MeToo Bewegung?

Weltweit haben sich Millionen Frauen der Internetaktion gegen sexuelle Übergriffe unter dem Schlagwort «#MeToo» (Ich auch) angeschlossen. Die Kampagne hatte die US-Schauspielerin Alyssa Milano im Kurzbotschaftendienst Twitter als Reaktion auf den Missbrauchsskandal um den ehemals mächtigen US-Filmproduzenten Harvey Weinstein gestartet.

Viele von Frauen berichteten über sexuelle Belästigung und Vergewaltigungen mit dem Hashtag «#MeToo».  Seit Anfang Oktober waren Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe gegen namhafte Schauspieler, Politiker, Journalisten und andere Männer bekanntgeworden, darunter Schauspieler Kevin Spacey, Moderator Charlie Rose, Comedian Louis C.K. und Senator Al Franken.

Person des Jahres 2017

Das US-Magazin «Time» hat die Frauen, die die #MeToo-Bewegung mit Enthüllungen über sexuelle Übergriffe von Männern ins Rollen brachten, zur Person des Jahres 2017 erklärt. «Die mitreissenden Handlungen der Frauen auf unserer Titelseite gemeinsam mit Hunderten anderen sowie vielen Männern haben eine der schnellsten Veränderungen in unserer Kultur seit den 1960er Jahren freigesetzt», erklärte Chefredaktor Edward Felsenthal zur Entscheidung der Redaktion.

#metoo ist das Deutschschweizer Wort des Jahres 2017

#metoo und harcèlement (Belästigung) sind das Deutsch- und das Westschweizer Wort des Jahres. Zur Wahl nutzten Forschende der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die grösste Textdatenbank der Schweiz und das Sprachgefühl einer Fach-Jury.

Weltweit haben sich Millionen Frauen der Internetaktion gegen sexuelle Übergriffe unter dem Schlagwort «#MeToo» (Ich auch) angeschlossen. Die Kampagne hatte die US-Schauspielerin Alyssa Milano im Kurzbotschaftendienst Twitter als Reaktion auf den Missbrauchsskandal um den ehemals mächtigen US-Filmproduzenten Harvey Weinstein gestartet.

Viele von Frauen berichteten über sexuelle Belästigung und Vergewaltigungen mit dem Hashtag «#MeToo».  Seit Anfang Oktober waren Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe gegen namhafte Schauspieler, Politiker, Journalisten und andere Männer bekanntgeworden, darunter Schauspieler Kevin Spacey, Moderator Charlie Rose, Comedian Louis C.K. und Senator Al Franken.

Person des Jahres 2017

Das US-Magazin «Time» hat die Frauen, die die #MeToo-Bewegung mit Enthüllungen über sexuelle Übergriffe von Männern ins Rollen brachten, zur Person des Jahres 2017 erklärt. «Die mitreissenden Handlungen der Frauen auf unserer Titelseite gemeinsam mit Hunderten anderen sowie vielen Männern haben eine der schnellsten Veränderungen in unserer Kultur seit den 1960er Jahren freigesetzt», erklärte Chefredaktor Edward Felsenthal zur Entscheidung der Redaktion.

#metoo ist das Deutschschweizer Wort des Jahres 2017

#metoo und harcèlement (Belästigung) sind das Deutsch- und das Westschweizer Wort des Jahres. Zur Wahl nutzten Forschende der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die grösste Textdatenbank der Schweiz und das Sprachgefühl einer Fach-Jury.

Das Märchen von der Biologie und den Genen

Das Problem mit diesen Gründen des Patriarchats? Sie gehören ins Reich der Fantasie. Ethnologen haben sexuelles Verhalten in Jäger-und Sammler-Gesellschaften dokumentiert, vom Amazonas bis zum Pazifik. Die immer wiederkehrende Beschreibung dieser Völker: «ab­solut gleichberechtigt». Diese Völker organisieren ihre Sexualität in komplett unpatriarchaler Weise. Viele dieser Völker kennen die ­Vaterschaft nicht so wie wir – die Föten ihrer Frauen wachsen nach wiederholtem Sex mit multiplen Partnern.

Die Aché von Paraguay unterscheiden beispielsweise vier verschiedene Arten von «Vaterschaft», darunter «Der, der es rein getan hat» und «Der, der es durchgemischt hat». Frauen wählen ­mehrere Väter, um ihrem Kind die Weitergabe multipler Talente zu ermöglichen. Bei den Mosuo, einem Volk in Südwestchina, existiert keine Ehe. Frauen und Männer sind frei, ihre sexuellen Beziehungen so zu arrangieren, wie sie wollen. Männer ziehen sogar die Kinder ihrer Schwestern als ihre eigenen auf. In ihrer Sprache ist das Wort für Vater und das Wort für Onkel dasselbe.

Die weltweit grösste Statue des Herrschers Dschingis Khan steht in der Mongolei.
Foto: Tuul & Bruno Morandi

Solche Gesellschaftsverhältnisse sind keine ethnologischen Ausnahmen, sondern der Beweis dafür, dass das Patriarchat nicht in der Natur des Menschen liegt. Ohne den sozialen Druck, die Vaterschaft wichtig zu nehmen, haben Männer erwiesenermassen kein Bedürfnis das sexuelle Verhalten von Frauen zu kontrollieren und überwachen.

Patriarchat als Ergebnis der Sesshaftigkeit

Männer und Frauen sind in solchen Gesellschaften beidseitig abhängig voneinander, und Frauen werden nicht als Besitz betrachtet. Sie haben zudem eine sexuelle ­Eigenständigkeit und Freiheit, die erste europäische Beobachter komplett schockiert hat – die heut­zu­tage aber moderner wirkt als in ­unserer Gesellschaft. 

Wenn das Patriarchat nicht in unseren Genen begründet liegt – worin dann? Die brillante österreich-amerikanische Historikerin Gerna Lerner sagt in ihrem Lehrbuch «Die Entstehung des Patriarchats», dass erst mit der Sesshaftigkeit, der Entstehung des Ackerbaus im Nahen Osten und in Folge insbesondere der Vorratshaltung Hierarchien und Besitzdenken auftraten.

Im Gegensatz zu den Jäger- und Sammlergesellschaften mit flachen Hierarchien ging es nach der Entwicklung des Ackerbaus und der Vorratshaltung darum, sein Land, seinen Besitz und in Folge auch sein eigenes Erbgut zu verteidigen. Handel kam auf, die Politik entstand – und Frauen wurden in der Folge zum ersten Mal in der Geschichte zum handelbaren «Gut», wurden als Sklavinnen gehandelt, ausgetauscht oder geraubt.

Das schlägt sich auch in alten und neuen Sagen nieder: Als Achilles den Trojanischen Krieg gewann, erhielt er als Beute die berühmte Schönheit Briseis als Konkubine.
Zu sagen hatte sie dazu nichts. Bis heute zieht sich das Motiv der Frauen als Beute oder Trophäe durch Sagen und Märchen: Die Prinzessin wird einfach geheiratet vom erstbesten Prinzen, der mal eben daherkommt. Homers Geschichte und in der ­Folge auch unter anderem die Märchen der Gebrüder Grimm sind ­mythologische Illustrationen dafür, dass Frauen fortan in patriarcha­len Gesellschaften als Trophäen gelten – im Englischen gibt es dafür sogar einen Begriff: «Trophy Wife».

Der muskelbepackte Brad Pitt spielt Achilles im Film «Troja».
Foto: ddp images

Wie würde eine nicht patriarchale Welt aussehen?

Lerners Ansichten und Argumente sind nicht unumstritten – was sie aber beweisen: Das Patriarchat liegt nicht in unserer Biologie und nicht in unseren Genen. Es hat vielmehr eine Geschichte und Ursachen – und kann demzufolge auch überwunden werden. Lerner datiert den Beginn des Ackerbaus – also eigentlich des Patriarchats – auf 3100 vor Christus. Nun scheinen 5000 Jahre zwar lange. In der Geschichte des Homo sapiens, die doch schon 200 000 Jahre andauert, ist das Patriarchat aber nicht länger als ein Wimpernschlag.

Ob #metoo reicht, es ganz ab­zuschaffen? Eine der auffallenden Eigenschaften dieser kulturellen Revolution ist die Schnelligkeit, mit der sie sexuelle Kultur bereits verändert hat: Noch vor einem Jahr konnten Donald Trumps Anklägerinnen ihm nichts anhaben. Heutzutage gibt es eine starke gesellschaftliche Sensibilisierung darauf, dass Frauen, welche von sexuellen Übergriffen berichten, routine­artig diffamiert, nicht ernst genommen, beschuldigt und verurteilt werden – doch diese Praxis scheint zu enden. Frauen lassen sich nicht mehr alles gefallen.

Bleibt die Frage: Wie würde eine nicht patriarchale Welt aussehen? Einerseits hätte eine Abschaffung des Patriarchats grösste Auswirkungen auf Ehen und auf die romantische Liebe. Dass beides zusammengehen muss, ist nämlich ebenfalls eine – relativ junge – Erfindung innerhalb des Patriarchats.

Die Abschaffung des Patriarchats brächte wirtschaftliche Vorteile

Die Erstarkung der Frauen geht denn auch jetzt bereits mit statistischen Werten von späterem Elternwerden, späterer Heirat, einer sinkenden Geburtenrate und einem grösseren Anteil von Single-Haushalten und einem grösseren Anteil von Alleinerziehenden einher. Ob all dies eine per se schlechte Sache ist, sei angesichts der weltweiten Überbevölkerung dahingestellt.

Was hingegen sicher ist: Die Abschaffung des Patriarchats brächte weltweit wirtschaftliche Vorteile – momentan versagt sich unser System die Hälfte der verfügbaren Talente, indem sie es Frauen schwierig macht, sich durchzusetzen. Grundsätzlich bleibt deshalb zu sagen: Ein biologisch nicht begründetes System, das seit 5000 Jahren die Hälfte des verfügbaren Talents brach liegen lässt, ist wohl nicht das denkbar Beste.

Alexander Edmonds (47) ist Professor für medizinische und soziale Anthropologie an der Universität Edinburgh in Schottland.

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