Es gibt Dinge, die kann man nicht ungeschehen machen. Die Scham sei das Schlimmste. Die Scham über das eigene Schicksal. «Das kann man nicht weg therapieren», sagt Guido Fluri (55). «Aber man kann Missbrauchsopfern ein Stück ihrer Würde zurückgeben, indem man anerkennt, was ihnen widerfahren ist.»
Mit der Ausstellung «Shame – European Stories», im Rahmen der Biennale in Venedig startet der Unternehmer dieses Wochenende die Justice Initiative, seine neue Initiative zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in ganz Europa. Über 60 Frauen und Männer legen mit ihrem Bild und Bericht Zeugnis ab.
Der preisgekrönte italienische Fotograf Simone Padovani ist während drei Monaten durch ganz Europa gereist und hat ihre Schicksale dokumentiert. «Ihre Geschichten machen fassungslos. So viel Leid wurde angerichtet. Mitten in unserer Gesellschaft», sagt Fluri. Mit ihrem Mut, sich zu zeigen, geben sie Hunderttausenden von Missbrauchsopfern in ganz Europa ein Gesicht.
Unterschiedliche Länder, ähnliche Schicksale
Auch wenn die Betroffenen aus den unterschiedlichsten Ländern Europas stammen, haben sie doch ähnliche Schicksale. Dabei geht es nicht nur um den Missbrauch von damals, sondern auch um das Leben danach. Bis heute leiden viele unter dem Unrecht und der Scham, sie sind psychisch belastet und leben aufgrund der Gewalterfahrungen oft in Armut. «Vor allem aber leiden sie unter dem grossen Schweigen in Gesellschaft und Politik. Sie wurden als Kinder allein gelassen und sind nun auch im Alter auf sich allein gestellt», so Fluri.
Der Unternehmer hat in der Schweiz die Wiedergutmachungs-Initiative zum Erfolg gebracht: Über 10'000 Opfer, die schwersten Missbrauch erlitten hatten, haben eine Wiedergutmachung erhalten. Ein Vorbild für Opfergruppen aus Europa. Die Erfahrungen der Schweiz sollen die Grundlage für die politische Arbeit auf europäischer Ebene sein.
Im Herbst wurde im Europarat eine Motion eingereicht. Zur vollständigen Aufarbeitung ist Folgendes zentral: die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs in den Mitgliedsstaaten, eine offizielle Anerkennung der Opfer, Wiedergutmachung und Prävention. Mit seiner Stiftung finanziert Fluri inzwischen 16 Hubs in Europa, denn um die gesetzten Ziele zu erreichen, braucht es Ausdauer und genügend finanzielle Mittel.
Vom Tankwart zum Millionär
Von beidem hat Fluri mehr als genug. Er hat es vom Tankwart zum millionenschweren Unternehmer geschafft. Sein Startkapital waren 5000 Franken Trinkgeld, heute rangiert er mit einem geschätzten Vermögen von 325 Millionen Franken unter den 300 Reichsten der Schweiz. Über seine Erfolgsgeschichte gerät er bis heute selber noch ins Staunen: «Ich war ein schlechter Schüler, habe nie studiert und fühlte mich oft verloren.»
Die Scham über die eigene Herkunft, kennt er nur zu gut: «Ich bin als uneheliches Kind in einem 1000-Seelen-Dorf zur Welt gekommen, die unmündige Mutter war wegen Schizophrenie in der Psychiatrie untergebracht und der Vater verheiratet. Diese Stigmatisierung geht einem in Fleisch und Blut über.»
In der frühen Kindheit wird Fluri mehrere Male fremdplatziert, auch kurz im Kinderheim Mümliswil SO, daraus macht er 2013 die erste Nationale Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder in der Schweiz. «Ich betrachte mich nicht als Opfer, aber ich kann gut nachfühlen, was in den betroffenen Menschen vorgeht.»
Fluris Methode, mit seinem Schicksal umzugehen, ist die Konfrontation, sich mit der Thematik konsequent auseinanderzusetzen und aktiv zu werden. In der Schweiz mit seiner Initiative und jetzt auch in den umliegenden Ländern. «Die Werte, auf die sich Europa gründet, sind die Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte. Darum braucht es eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Nur wenn wir die Schwächsten in der Gesellschaft schützen, werden wir unseren europäischen Werten gerecht.»
Bis zu einem Drittel des Kapitals aus seiner Holding setzt Fluri für seine Stiftung ein, das lasse zu, schnell zu handeln und sich langfristig zu engagieren. «Missbrauch kann man mit keinem Geld der Welt wiedergutmachen, aber mit Wertschätzung und Anerkennung dieses Unrechts kann man erreichen, dass sich die Betroffenen nicht mehr rechtfertigen oder schämen müssen.»
Präventiv gegen Pädokriminalität
Wichtig ist dieses Engagement nicht nur für die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft: Man geht davon aus, dass jedes fünfte Kind physischen, psychischen und sehr oft auch sexuellen Missbrauch erlebt. Rund jedes siebte Kind erfährt in der Schweiz mindestens einmal sexuelle Gewalt, fast immer sind die Täter aus dem nahestehenden Umfeld.
Im virtuellen Raum ist das Ausmass der Übergriffe ebenso erschreckend. Weltweit wird dort jedes dritte Kind mindestens einmal gefragt, ob es eine sexuelle Handlung vornehmen möchte. Während der Pandemie stieg laut einer Europol-Analyse die Nachfrage nach Material über sexuellen Kindesmissbrauch in den ersten Monaten der Corona-Krise in einigen Mitgliedstaaten um bis zu 25 Prozent. Europol schätzt, dass weltweit rund 750’000 potenzielle Pädokriminelle permanent online sind.
Darum will die EU-Kommission den Missbrauch im Netz bekämpfen und Firmen dazu verpflichten, Inhalte von Smartphones und Laptops auf Missbrauch und Kinderpornografie zu durchsuchen. Dazu stellte sie vergangene Woche einen Gesetzesentwurf vor.
In der Schweiz wurde deshalb vor einem Monat eine neue Meldestelle gegen Kinderpornografie im Internet lanciert. Clickandstop.ch ist ein privates Angebot von Kinderschutz Schweiz und der Guido-Fluri-Stiftung. Während andere Länder längst über nationale Meldestellen verfügen, war die Anlaufstelle in der Schweiz verwaist. Fluri: «Prävention ist wichtig. Missbräuche und Übergriffe brennen schwarze Flecken auf Kinderseelen, die ein ganzes Leben bleiben.»