Giftige Suppe aus Politik und Social Media
Ich bin soooo hässig!

Unsere Autorin Silvia Tschui ist so wütend, dass sie manchmal fast platzt. Auf die ungerechte Welt, auf Idioten im Tram, auf die Politik. Sie fragt sich, ob das nur ihr so geht.
Publiziert: 11.02.2019 um 20:06 Uhr
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Aktualisiert: 12.02.2019 um 09:34 Uhr
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Im Rage Room in Lausanne (evadegame.com) kann man Dampf ablassen und Dinge zertrümmern.
Foto: Nicolas Righetti / Lundi13
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Das Zzt-zzt-zzt aus dem Kopfhörer des Sitznachbarn im ÖV. Ich möchte ihm den Kopfhörer um die mies rasierten Backen hauen. Ich sitze im Job seit zwölf Jahren auf derselben Position, und links und rechts um mich rum werden nur Männer befördert. Alle fliegen in die Ferien, als gäbe es kein Morgen – hallo, Klimawandel? Idioten lassen ihren Plastikmüll liegen, obwohl jeder weiss, dass Meerestiere daran ersticken. Ich hege auch schlimme Fantasien, was Politiker betrifft, die den ärmsten Schluckern das wenige, das sie haben, kürzen wollen, während sie selbst dicke Aktiengewinne von miesen Firmen wie Glencore nicht versteuern. Ich könnte Eltern schütteln, die ihre Kinder nicht impfen und auf den geschwächten Rentner oder die Schwangere neben ihnen pfeifen.

Ich bin wütend auf diese respektlose Gesellschaft, die Frauen benachteiligt, alte Menschen aussortiert, andere Kontinente ausnutzt und im Namen des Wirtschaftswachstums den Planeten zerstört. Und steuerbefreite Milliardäre kaufen sich ganze Medienimperien, um via diese Plattform den Leuten einzureden, die bösen Flüchtlinge seien schuld, dass der Mittelstand erodiert. Ich bin auf die Idioten sauer, die das auch noch glauben. Es fühlt sich an, als hätte ich heisse Kohlen im Magen oder ein eingeschaltetes Bügeleisen verschluckt.

Ich platze fast vor Zorn – und habe dazu eigentlich keinen Grund: Ich habe einen wunderbaren Sohn und einen lieben Mann und ein paar Freunde, die ich dreissig, fast vierzig Jahre kenne. Ich wohne schön und bezahlbar mit Garten mitten in der Stadt in einem der privilegiertesten Länder der Welt.  Meine Arbeit ist interessant, und mein Arbeitgeber behandelt mich gut – und einige persönliche Projekte waren erst noch grosse Erfolge. Kurzum: Eigentlich habe ich das ganz grosse Los gezogen.

Woher nur diese Wut? Ich kann mich erinnern, dass sie ein relativ neues Gefühl ist, eines, welches sich schleichend eingestellt hat, vielleicht vor sechs oder sieben Jahren. Was ist in dieser Zeit nur geschehen?

Es lohnt sich, zunächst einen Blick auf die Hirnforschung zu werfen. Neurobiologen sind sich relativ einig, dass Zorn und Wut Reaktionen auf vorhergehende Kränkungen und Frustrationen sind. Diese Reaktionen sind manchmal positiv, da sie unser Leben auf einen neuen Kurs leiten. Oft sind sie aber schädlich.

Wutanfälle können einen sogar töten

Zuerst reagiert die Amygdala. Sie ist ein Hirnareal in der Form zweier symmetrischer Mandelkerne. Sie steuert negative Emotionen und die Reaktionen darauf. Gleichzeitig unterdrückt ihre Aktivität die Funktion zweier anderer Hirnaktivitäten: die des präfrontalen Kortex, der für Konzentration, komplexes Denken, Planung und Logik verantwortlich ist, sowie die Aktivitäten des Hippocampus. In diesem sind Langzeiterinnerungen sowie erworbenes Wissen gespeichert. Vereinfacht gesagt schliesst sich daraus: Wutanfälle machen dumm.

Die Amygdala aktiviert zusätzlich die Nebennieren, die Stresshormone wie Adrenalin, Cortisol und Noradrenalin ausschütten. Diese sind für viele unerwünschte Wirkungen im Körper verantwortlich: erhöhter Blutdruck, erhöhter Arteriendruck, erhöhte Blutzucker- und -fettwerte. Ein chronischer Überschuss dieser Hormone schwächt das Immunsystem und führt zu einem grösseren Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko. Wutanfälle machen uns also nicht nur dumm, sondern erst noch krank – oder im schlimmsten Fall: tot.

Schlimmer noch: Es gibt Hinweise darauf, dass negative Gefühle wie Ärger, Wut und Zorn sich selbst verstärken. Eine internationale Studie vier beteiligter Universitäten und Forschungsinstitutionen in den USA und in Russland aus dem Jahr 2015 hat an Mäusen festgestellt, dass wiederholte Aggressionen mehr neuronale Verknüpfungen in der Amygdala wachsen lassen. Und dies führt wiederum zu mehr aggressiven Reaktionen der betreffenden Mäuse. Direkt und ziemlich unwissenschaftlich auf Menschen übersetzt könnte man sagen: Je öfter man sich wütend fühlt, desto öfter fühlt man sich wütend – ein Teufelskreis.

Auf mich bezogen bedeuten diese Fakten: Ich muss schleunigst etwas tun, will ich nicht in ein paar Jahren von einem Herzinfarkt dahingestreckt werden – oder auch nur so eine giftige alte Vettel werden, die mit dem Stock im Tram herumwettert, wenn Teenager laut ihre Handyfilmli schauen.

Vielleicht ist ja aber doch die böse Welt schuld an meinem Zorn. Dr. Lea Stadel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Universität Zürich, hilft weiter. Sie untersucht die Epidemie der Hasskommentare im Netz. Die Gründe dafür sind gut erforscht, etwa der «Online Disinhibition Effect», also die Tatsache, dass Menschen, versteckt hinter Tastatur und Bildschirm, anonym so Unflätiges von sich geben, wie sie dies von Angesicht zu Angesicht niemals tun würden.

Aggressive-Netzkommentare machen feindselig

Es ist etwas anderes, jemandem ins Gesicht zu sagen, er sei ein – Pardon! – doofes Arschloch, statt dies nur mit ein paar Zeichen hinzuwerfen. Was beim Absender ano­nym einfacher geht, löst beim Empfänger aber die gleiche Reaktion wie ein realer Angriff aus – und aktiviert die Amygdala mit den bereits erwähnten Auswirkungen und Reaktionen. Stahel drückt dies so aus: «Menschen denken und handeln im realen Leben feindseliger, nachdem sie aggressive Kommentare gelesen haben, es existiert also ein Ansteckungseffekt. Und ihr Wohlergehen leidet darunter.»

Während man sich früher vielleicht zwei Mal am Tag aufgeregt hat, vielleicht über die Nachrichten oder einen Zeitungsartikel, ist heute dem Online-Hass kaum zu entkommen. Seit jeder ein Smartphone in der Hand hält, kann er unter jedem im Tram gelesenen Artikel und unter jedem Eintrag auf Social Media sofort seine persönliche Gülle in die Öffentlichkeit sprühen – mit den bekannten Folgen für die Amygdala des Empfängers.

Auch darüber, dass Smartphones und Social Media einen nicht froh machen, weil man sich ständig mit dem inszenierten Leben anderer vergleicht, gibt es diverse Studien. Ich kenne dies: Schaue ich mir den Instagram-Feed einer fotografisch begabten Freundin an, fühle ich mich vor Neid fast zerfressen. «Was für ein Leben!», denke ich dann. Dabei weiss ich: Die besagte Freundin ist massiv verschuldet, ihre x-te Beziehung ist wieder in die Brüche gegangen, und ihre zwei verhaltens­originellen Kinder bereiten in der Schule massiv Probleme. Dennoch: Die Bilder wirken stärker, als würden zwei Realitäten miteinander streiten – und die falsche, aber online bildgewaltig inszenierte Realität behält immer die Oberhand.

Ich bin mit diesen Gefühlen nicht allein: Eine letzte Woche publizierte Studie der britischen Regierung besagt, dass 18 Prozent aller britischen Jugendlichen, also fast ein Fünftel (!), finden, das Leben sei nicht lebenswert – ein Anstieg, der mit dem Aufkommen von Social Media korreliert. 2009 waren es erst neun Prozent der 16- bis 25-Jährigen – und es war das Jahr 2010, als die Bilder-Sharing-Plattform Instagram online ging. Ich denke zurück: Tatsächlich hat sich wohl meine Befindlichkeit dann schleichend zu ändern begonnen, als ich vor acht Jahren auf mein erstes Smartphone umgestiegen bin.

Populistische Parteien machen negative Kampagnen

Es scheint aber auch der Ton in der offiziellen Welt generell rauer geworden zu sein – man denke an US-Präsident Donald Trump und seine Tweets, in denen er seine Kontrahenten mit Beleidigungen überzieht: «spoiled brat» (etwa: verzogener Saugoof), «perv sleazebag» (perverser Schmierbeutel) oder «dummy dope» (dummer Idiot) sind Bezeichnungen, die Trump in seinen Tweets für politische Gegner verwendet. Er ruft dazu auf, Frauen bei der «Pussy» zu packen – und wird dennoch gewählt.

Jair Bolsonaro, der neue Präsident Brasiliens, hat vor seiner Wahl bekannt gegeben, die Regenwälder abzuholzen und von der indigenen Bevölkerung zu «säubern» – die Ankündigung eines Massenmordes. Auch er wurde gewählt. Zwei von vielen Populisten, die in den letzten Jahren an die Macht kamen. Kann sich jemand vorstellen, Präsident John F. Kennedy, Ronald Rea­gan, George W. Bush oder Barack Obama hätten so gesprochen? Oder weiss man das einfach nicht mehr?

Alessandro Nai, Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam, hat untersucht, wie sich die Kampagne von konservativen Populisten von gemässigten Kandidaten unterscheiden. Er hat zwischen 2016 und 2017 die Kampagnen von 172 Kandidaten und 35 Wahlen rund um die Welt ausgewertet. Während er keinen zeitlichen Vergleich machen kann, weil Daten zur Kommunikation früherer Kandidaten fehlen, kann er Folgendes sagen: «Populistische Kampagnen sind zu 15 Prozent negativer, sie enthalten elf Prozent mehr persönliche Attacken auf ihre Gegner und acht Prozent mehr angstmachende Botschaften als die Kampagnen der gemässigten Kontrahenten.» Er stellt in seiner Untersuchung «Der Kommunikationsstil von Populisten» aus dem Jahr 2018 fest: «Über Wahlresultate hinweg sind negativ geprägte Wahlkampagnen (Angstmachertaktiken, Attacken auf Gegner) Kräfte, die einer Demokratie schaden, sie führen zu geringerer Wahlbeteiligung, Zynismus in der Bevölkerung und zu einer generell schlechteren Stimmung der Gesellschaft.» Nai vermerkt in seiner Studie übrigens, dass die SVP eine der weltweit am negativsten auftretenden und aggressivsten Parteien sei.

Medien buhlen mit Social Media um Aufmerksamkeit

Das alles ist nicht nur per se schlimm, sondern auch wegen des fiesen Mechanismus der Aufmerksamkeit: Die Kampagnen verfangen, weil sie ins härter gewordene Mediengeschäft passen, fasst Nai zusammen. Diverse Medien buhlen mit Social Media um die Aufmerksamkeit ihrer Konsumenten – und skandalöse Aussagen haben einen grösseren Unterhaltungswert, weshalb sie auch ­vermehrt in den Medien behandelt werden als gute Nachrichten.

Via Smartphone fliesst diese populistische Rhetorik täglich in mein Hirn und sorgt dafür, dass die Amygdala Überzeit leistet und fleissig Stresshormone ausschüttet. Zusammenfassend gesagt ist es also eine giftige Suppe aus eigentlich ungerechtfertigtem sozialem Neid, Negativschlagzeilen und im Internet ausgeteilten Beleidigungen, die sich gegenseitig verstärken und mich konstant sauer machen.

Aber dieser Suppe sind ja die meisten Menschen meines Alters ausgesetzt – und längst nicht alle reagieren wie ich. Birgit Kleim, Leitende Klinische Psychologin und Professorin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sieht Social Media und Smartphones auch als mögliche Stressfaktoren für die Psyche.

Sie hat aber weitere Antworten darauf, weshalb Menschen unangemessen zornig sein können: «Das Problem ist nicht der Zorn an sich, sondern die Reaktionen darauf, die uns und anderen schaden, etwa in Beziehung oder Beruf.» Hier gelte es anzusetzen und mögliche Handlungsalternativen zu erkennen, zu lernen und zu wählen.

Die Psychiatrie sagt: Weg mit dem Handy, her mit Meditation!

Kleim sagt auch, Wut und Zorn können Reaktionen auf eine frühere Traumatisierung sein oder auch ein Ausdruck tiefer liegender Gefühle wie Hoffnungslosigkeit oder Trauer. Nicht jeder, der traumatisiert worden sei, habe aber eine vermehrte Zornesreaktion. Vielmehr sei der grösste Teil der Menschen resilient, so der Fachbegriff, könne also traumatische Erlebnisse relativ gut hinter sich lassen. Ob man resilient sei oder nicht, liege zumindest zu einem Teil in den Genen.

Oh je! Werde ich zum Choleriker wie mein Vater? Aufbrausend wie meine Mutter? (Kleiner Nebensatz: Ich liebe im Übrigen meine Eltern!) Aber ich war ja nicht immer so! Da ich keine traumatischen Erlebnisse in meiner Vergangenheit habe – zumindest nicht, soweit mir bewusst wäre –, empfiehlt Kleim Handy-­Abstinenz sowie eine wissenschaftlich etablierte Therapie. «Acceptance & Commitment» heisst diese Therapie, die unter anderem auf Meditation beruht und die sie selbst bei ihren Patienten einsetzt. Hirnscans haben gezeigt, dass diese Therapie Hirnareale stärkt, die für Glücksgefühle und Zufriedenheit zuständig sind. Also: Handyverzicht und Meditation.

Ich bleibe dran – und sag Ihnen in ein paar Monaten, obs nützt. Wenn ich bis dahin nicht einen Herzinfarkt erlitten habe, weil ein Teenager im Tram mir wieder den lauten Ton seines strunzdummen Handyfilmlis zumutet.

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