Expats beklagen sich über den «Swiss Stare»
Wir haben ein Glotz-Problem!

Wir Schweizer starren. Uns selbst fällt es nicht einmal auf. Ausländern in unserem Land umso mehr. Ein Blick auf eine Schweizer Eigenart.
Publiziert: 20.01.2019 um 19:24 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2019 um 14:03 Uhr
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Wir Schweizer starren! Noch nicht aufgefallen? Kein Wunder, wir sind es gewohnt. Zuwanderer hingegen nicht.
Foto: Getty Images
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Wir Schweizer sind ­höfliche Menschen. Möchten wir etwas ­haben, bitten wir im  Konjunktiv darum: «Könnten Sie mir drei Gipfeli geben?» Fragt der Kellner, ob unser Steak gut war, ­erwidert ihm so mancher wie aus der Pistole geschossen: «Es war ­super!» Nur damit nicht doch noch rausrutscht, dass es total zäh ge­wesen war. Sogar Zurechtwei­sungen enden mit einem versöhn­lichen «Bissoguet».

Und Stars, ja die kommen in Scharen, weil wir so zurückhaltend sind. Eine Tina Turner kann am ­Züriberg herumspazieren – unbehelligt. Bei uns lässt man die Leute eben noch in Ruhe. Das sehen alle hier so. Oder fast.

Expats wissen nicht mehr weiter

Fragt man Expats, klingt es ganz anders. Die top ausgebildeten Menschen aus dem Ausland, die hier ­leben, beklagen sich nämlich über den «Swiss Stare» – das schweize­rische Anstarren.

Die Expat-Foren sind voller Posts, weil einfach niemand versteht, «warum zum Teufel diese Schweizer so starren». Eine schreibt, dass es wohl an ihren ­Leggins liegen müsse, weil sie die ja auch bei klirrender Kälte trägt. Manche haben dem Schweizer «Starr-Sport» gleich ein ganzes ­Unterforum gewidmet. Andere ­geben Tipps, wie man sich vor den eindringlichen Blicken schützen kann: mit einer Sonnenbrille zum Beispiel. Oder: Zurückstarren, bis der andere wegsieht. Auch hoch im Kurs: Ideen für Shirts mit «Don’t look at me»-Aufschrift.

In einem Punkt sind sich alle ­einig: Nirgends ist man vor dem «Swiss Stare» sicher. Im Restaurant, im Zug, auf der Strasse, in ­Einkaufsläden, im Hallenbad und sogar beim Feierabendbier mit ­Arbeitskollegen – es trifft dich überall. Das gebe es sonst nur in kleinen Dörfern in Deutschland, schreibt ein Engländer empört. «In der Schweiz ist das ein weit verbreitetes Phänomen.»

Wir tun es auch untereinander

Margaret Oertig-Davidson ist Schottin, lebt aber seit vielen ­Jahren im Raum Basel, sie kennt die Klagen. Für ihr Buch «Schokolade ist nicht alles: Ein Leitfaden zur Schweizer Kultur» hat sie ­unzählige Interviews mit Expats geführt. «Viele bemerken dieses Angestarrtwerden.»

Janet Su fiel das kurz nach ihrem Umzug aus Kanada in die Schweiz auf. Die 29-Jährige war gerade in den Bus eingestiegen, setzte sich und merkte: «Alle schauen mich an. Alle!» Zuerst glaubte sie, die Männer checkten sie ab. Doch das erschien ihr bald unmöglich, sie war umgeben von Frauen und Kindern, deren Augenpaare förmlich an ihr klebten. Also fuhr sie sich mit den Fingern übers Gesicht, irgendetwas musste ja falsch sein – Fehlanzeige. Nach einigen Tagen und Gesprächen mit Expat-Freunden, die ihr Gleiches berichteten, begriff  die Wahl-Lausannerin: «Es liegt nicht an mir.»

Ähnliches berichtet Christian Langenegger (36). Als er fünf war, wanderten seine Eltern mit ihm nach Ontario (Kanada) aus. Mit zwölf merkte er, dass sein Schweizer Vater in der Stadt ständig an­dere Menschen anstarrte. «Ich hab ihm gesagt, er solle damit auf­hören. Ich schämte mich.» Er,
der schon in der kanadischen ­Primarschule von den Lehrern zu hören bekam, dass man andere nicht anglotzt.

Jetzt könnte man über diese ­undankbaren und «frechen Hagel» fluchen und finden, dass die sich das nur einbilden. Dass man ihnen halt anmerkt, dass sie anders sind, wenn sie Englisch reden oder einen dunkleren Teint haben. Und dass sie sich nicht wundern müssen, dass man halt einfach schaue – man meint es ja nicht böse. Doch um Hautfarbe, Rasse, Sprache geht es hier nicht. «Die Schweizer schauen sich auch untereinander an», sagt Santiago Gutierrez. Der heute 22-Jährige Kolumbianer kam vor zwölf Jahren in die Deutsch­schweiz. «Anfangs bin ich schlecht mit dem Starren klargekommen.» Mittlerweile weiss er: «Den ­Schweizern fallen ihre Blicke
selbst nicht auf, weil sie es nicht ­anders kennen.»

Schon die Kleinsten werden zum Starren erzogen

Was ist schon dabei? Andere ­an­zusehen, liegt in der mensch­lichen Natur, es zieht sich wie ein roter ­Faden durch alle Kulturen. Das weiss jeder blauäugige und blonde Mensch, der schon einmal im ­Orient über einen Markt geschlendert ist. Oder in Indonesien in ­abgelegenen Dörfern haltgemacht hat.

Doch es gibt verschiedene Arten des Ansehens: Das Hinsehen, weil man von etwas nicht wegsehen kann. Das Fixieren mit zugeknif­fenen Augen. Das verstohlene Blicken aus den Augenwinkeln. Der gedankenverlorene Blick, der zufällig auf einer anderen Person ruht. Der musternde Blick. Der taxierende Blick. Oder eben das viel beschriebene «Eyeballing».

Genau dieses «Stielaugen­machen», immer und überall, wenn auch nur für ein paar ­Sekunden, ohne dabei einen Mucks von sich zu geben – damit treiben wir die Expats in den Wahnsinn. In Nordamerika schaut man, macht aber dann ein Kompliment. In Südamerika lächelt man dem Beschauten zu. Uns hingegen gehts nicht darum, eine Nettigkeit auszutauschen. «Man erwartet oft gar keine Reaktion vom anderen», wie Autorin Margaret Oertig-Davidson sagt. Doch worum geht es uns dann?

Christian Langeneggers Vater machte immer dann Stielaugen, wenn er «etwas nicht so gut fand». Ganz schlecht: Tattoos, Piercings im Gesicht und lautes Fluchen. Andere schauen, wenn ein Hund bellt, Kinder sich im Tram nicht benehmen oder jemand zu laut ­telefoniert. «Wer sich nicht an die sozialen Normen hält, wird mit ­einem Blick abgestraft», sagt er.

Oertig-Davidson beobachtet zudem: «Sehr oft ist es ein neugieriger Blick.» Sie weiss, woher dieser kommt. In vielen Ländern trichtern Eltern ihren Kindern ein, dass man andere Menschen nicht direkt anschaut. In der Schweiz gibt es das selten. «Hierzulande wird das Ansehen sogar eingefordert.»

Schau mir in die Augen – sonst gibts keinen Job

Der Blickkontakt ist für uns so ­etwas wie die Kuh für die Inder: ein Heiligtum. Schon im Kindergarten lernen die Knirpse, dass sie der Kindergär­tnerin beim Händeschütteln in die Augen schauen müssen. Oder im Strassenverkehr: Für uns ist es ganz normal, dass wir als Fussgänger oder Autofahrer die ­Augen der ­anderen suchen. Auf englischen Webseiten wird genau davon aber abgeraten, um keine Unfälle zu provozieren.

Und blickt man in einer netten Runde beim Anstossen nicht allen schön in die ­Augen, gilt man als ­ignoranter Idiot. Eben- falls auffallend: Interviews im Fernsehen. Roger Schawinski in «Schawinski», Barbara Bleisch in «Sternstunde Philosophie» oder Sandro Brotz in der «Rundschau» – alle platzieren sich direkt vor ihren Interviewpartnern, um sicherzustellen, dass man sich gegenseitig im Blick hat.

«Das gibt es im Ausland weniger, da sitzt man meist in ­einer Reihe oder schräg zueinander», sagt ­Oertig-Davidson. Sie erzählt von einer Headhunterin, die für Schweizer Firmen Arbeitskräfte im Ausland sucht, und die vieles vom Augenkontakt abhängig macht. «Wenn ­jemand ständig wegschaut, wertet sie es als Unsicherheit und als Zeichen eines schwachen Charakters.»

Hart für Amerikaner. Weil der Blickkontakt in den USA als sexuell übergriffig gelten kann. Oder für Argentinier. Dort bedeutet der Blick einer Frau in die Richtung des Mannes, dass dieser sie zum Tangotanzen auffordern darf.

Die direkte Demokratie ist schuld!

Wieso ticken wir da so anders? Für Oertig-Davidson hat das mit unserer Demokratie zu tun. Bei uns bestimmen alle Bürger mit. Und so will man auch wissen, was um uns herum passiert. Man möchte sehen, mit wem man den Lebensraum teilt. Das ist nicht schlecht, findet sie. «Damit übernimmt der Einzelne Verantwortung in diesem Land.»

Die Chancen stehen übrigens gut, dass den Expats, die sich heute daran stören, der «Swiss Stare» künftig gar nicht mehr so auffällt. Vor allem wenn sie genug ­lange hier bleiben, werden sie wahrscheinlich selber zu Glotzern. Christian Langenegger muss sich heute regelmässig von seiner Freundin anhören, er solle nicht so schauen. Und Oertig-Davidson sagt: «Ich mache es mittlerweile auch!» 

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