Kongo: 339 Kinder im Jahr 2011 für ausländische Adoptiveltern freigegeben Kleiner Bub im Waisenhaus «Don Bosco Ngangi» in Goma.
Foto: Laif

Exklusiver Report
Der Kampf um die Waisenkinder

Trotz Überbevölkerung tobt zwischen den Industrieländern ein Konkurrenzkampf um Waisenkinder – Paare haben es zunehmend schwer, ein Kind zu finden. Ein exklusiver Report über Interessen und Hintergründe in der Welt der Adoption.
Publiziert: 07.03.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2020 um 14:24 Uhr
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Von Carmen Schirm-Gasser

Meine Töchter sind schweizerischer als viele andere», sagt  Edgar Oehler am Te­lefon, ohne lange darüber nachzudenken. Was die Mentalität angehe, ihren Bezug zum Land. Sie würden perfekt Rheintalerisch sprechen. Das sei ihre Muttersprache. Und nein – sie seien zu keinem Gespräch bereit. Hätten längst vergessen, dass sie adoptiert worden seien. «Ihre Adoption war nie ein Thema für sie. Ist es nie gewesen.»

Ganz im Gegensatz zu ihm: Doktor ­Edgar Oehler, 71 Jahre jung, langjähriger Nationalrat der CVP, erfolgreicher Unternehmer aus der Ostschweiz. Das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» schätzt sein Vermögen auf 100 bis 200 Millionen. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass seine Töchter adoptiert sind.

Kinder im Überlebenskampf

Angefangen hatte alles Ende der 70er-Jahre. Oehler war als junger Redaktor für eine ­Recherche in Asien unterwegs, als er das Leid elternloser Kinder sah. Den Überlebenskampf. «Wer einmal gesehen hat, wie Kinder in Kambodscha in Körben übereinander gestapelt gehalten wurden und so leben mussten, für den ist nichts mehr, wie es einmal war.» Der Zufall wollte es, dass ihm eine Bekannte erzählte, wie sie geholfen habe, ein Mädchen aus ­einem Waisenheim in Sri Lanka zu adoptieren. Oehlers Frau Marianne flog dorthin. Drei Wochen später kam sie zurück, mit ­einem Mädchen im Arm, drei Monate alt. Drei weitere Male flog sie in den folgenden vier Jahren nach Sri Lanka. Immer mit dem Ziel, ein Mädchen zu adoptieren.

30 Jahre später. Oehlers Töchter, vier an der Zahl, sind zwischen 28 und 33 Jahre alt. Drei sind berufstätig. Eine ist Hausfrau, zieht vier Kinder gross. «Probleme hat es nie ge­geben», versichert Edgar Oehler. Identifikationsschwierigkeiten, Entwurzelung oder gar erhöhte Suizidgefahr, wie eine Studie festgestellt haben will? «Nein», winkt er ab, erstaunt über die Frage. «Die Kinder waren so klein.» In diesem Alter hätten sie keine negativen Eindrücke aus Sri Lanka mitbekommen. Auch später sei ihre Herkunft nie Thema gewesen. «Keine unserer Töchter war je in Sri Lanka. Keine hat je Interesse daran bekundet. Sie haben ihre Wurzeln eben hier.» Freilich, manchmal seien sie hier komisch angesehen worden, wegen ihrer Hautfarbe. Er habe ihnen dann gesagt, dass sie antworten sollten: «Lieber brun und gschiid als ­wiiss und dumm.» Das habe gewirkt.

Früher einfach, heute schwierig

Edgar Oehler adoptierte seine Kinder in den 80er-Jahren. Eine Zeit, in der fast alles möglich war. Auf jedem Kontinent warteten Waisenkinder auf adoptionswillige Paare, und der Papierkrieg war überschaubar. Heute ist das anders: Die Genehmigungen dauern Jahre. Und hat man diese endlich in der Hand, kann es trotzdem passieren, dass man kein Kind bekommt.

China beispielsweise, das grösste Herkunftsland, wie es in der Fachsprache heisst, gab 2011 nur 4000 Kinder zur Adoption frei. Sechs Jahre zuvor waren es noch 15'000 Kinder. In Gua­temala ging die Zahl von 5000 Kindern im Jahr 2007 auf 32 Kinder zurück. Ähnlich sieht es in Südkorea, Kolumbien oder Rumänien aus. In diesen Ländern entstand eine neue Mittelschicht – gut verdienende Paare, die mit dem gleichen Problem kämpfen wie Paare in den Industriestaaten: Kinderlosigkeit.

«Traditionelle Herkunftsländer versuchen heute, Waisenkinder im eigenen Land zu platzieren», sagt David Urwyler, Leiter der zentralen Adoptionsbehörde beim Bundesamt für Justiz. «Gelingt das nicht, werden sie zur internationalen Adoption freigegeben.» So weit kommt es meistens nicht.

Umgekehrte Verhältnisse

6000 Kinder wurden 2012 in Indien zur Adoption freigegeben – 5400 davon von Indern adoptiert, nur zehn Prozent im Ausland platziert. Vor 20 Jahren war es umgekehrt. Kein Wunder, schrumpft die Zahl der Adoptionen in der Schweiz stetig. In den 80er- und 90er-Jahren wurden bis zu 800 Kinder pro Jahr von Schweizern adoptiert. Heute sind es zwei Drittel weniger. 2012 waren es noch 185. Gleichzeitig steigt die Zahl der Adoptions-Interessenten, wie Veronika Weiss von der Schweizerischen Fachstelle für Adoption sagt. Ein Phänomen, das mit der zunehmenden Unfruchtbarkeit von Männern und Frauen zusammenhängt.

Unfruchtbarkeit als «Volkskrankheit»

Das Problem: Bei Männern in Industrieländern hat sich die Spermienkonzentration in den letzten 20 Jahren im Durchschnitt halbiert. Daher bleibt in der Schweiz jedes sechste Paar ungewollt kinderlos – jedes zehnte Paar versucht, sich den Kinderwunsch auf medizinischem Weg zu erfüllen. Doch auch dieser Weg bleibt oft erfolglos. Nur rund 20 Prozent der In-vitro-Fertilisationen führen zu einer Schwangerschaft.

Als «drohende Volkskrankheit» beschrieb jüngst das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Unfruchtbarkeit in Europa. Adoption ist daher für viele die ­einzige Möglichkeit, zu einem Kind zu kommen.

Schikanen, Absurditäten, hohe Kosten – das ist heute das tägliche Brot von Adoptionswilligen. Korea etwa verlangt von ihnen einen Body-Mass-Index von unter 29. In Polen werden Katholiken anderen Christen vorgezogen. Grossbritannien wiederum vermittelt keine Kinder an Raucher. In den 80er-Jahren ­gingen viele adoptionswillige Schweizer ­Paare nach Indien, Sri Lanka, Indonesien, Thailand. Heute regieren die Beamten in Sri ­Lanka erst gar nicht auf Adoptions-Dossiers aus der Schweiz. Grund? Unbekannt. Obwohl das Land offiziell mit der Schweiz zusammenarbeitet. In Indien hingegen herrscht nacktes Chaos, seitdem das Adoptions­verfahren umgestellt wurde und nur mehr ­online abgewickelt werden kann. Nun ver­sanden monatlich Hunderte von Anfragen in einem Computersystem in Delhi.

Geld weg, aber kein Kind

Mit der Aufhebung des Eisernen Vorhangs Anfang der 90er-Jahre wurden erstmals auch Adoptionen aus den Ländern Osteuropas möglich. Bilder rumänischer Waisenhäuser im Fernsehen erschütterten die Zuschauer. Hunderte adoptionswillige Paare pilgerten fortan Jahr für Jahr nach  Bukarest – bis Rumänien Adoptionen verbot, von einem Tag auf den anderen. Betroffen waren auch viele Schweizer Paare, die zuvor jahrelang durch das Adoptionsverfahren gegangen waren, oft Zehntausende Franken gezahlt hatten. Um nun vor dem Nichts zu stehen: kein Kind, aber Geld weg – und die Zulassung abgelaufen. Andere Paare gingen nach Kolumbien, Brasilien, Chile oder Peru. Bis man in Südamerika begann, mit Plakaten und Fernsehspots die heimische Bevölkerung gegen internationale Adoptionen zu mobilisieren: Waisenkinder sollten doch besser im eigenen Land glücklich werden. Das wirkte bei den Einheimischen. Seither werden in Chile und Peru nur mehr Kinder zur internationalen Adoption freigegeben, die schwer vermittelbar sind. Im Klartext: Kinder über 5 Jahre. Brasilien schraubte das Alter gar auf 7 Jahre hoch.

Umstrittener Adoptions-Bann

Eine weitere Entwicklung sorgt für Unmut. Ausgerechnet jene Länder, in denen die Armut am grössten ist und Waisenkinder am stärksten davon betroffen sind, hat die Haager Konvention mit einem Adoptions-Bann belegt – etwa Nepal, Guatemala oder Marokko. Der Grund: Einzelne Fälle von Kinderhandel waren aufgetaucht, die Schlagzeilen gingen um die Welt. Mit diesem Verbot, das die Schweiz automatisch übernimmt, wird in Kauf genommen, dass allen Waisenkindern in diesen Ländern die Chance verwehrt bleibt, in der Schweiz liebevolle Eltern zu finden. Selbst der oberste Adoptions-Verantwortliche des Bundes, David Urwyler, hat Bedenken gegenüber dieser Praxis. «Gerade in Ländern mit schwachen Kinderschutzstrukturen wären internationale Adoptionen am notwendigsten», sagt er. «Oft bedeutet ein Adoptionsverbot für die Kinder eine Heimkarriere.»

 «Dunkle Seite des Adoptionswesens»

Doch nicht nur Kinderhandel ist ein Problem. Auch die «Macht der Politik» – die «dunkle Seite des Adoptionswesens», wie es Hervé Boéchat nennt, Direktor des Internationalen Sozialdienstes (ISS) in Genf. «Niemand spricht offen darüber. Doch die politischen Interessen der Grossmächte mischen im Adoptionswesen längst mit. Um Waisenkinder wird gekämpft. Die Rivalität zwischen den Ländern ist gross.» In den USA, Italien, Frankreich, Deutschland – überall sinken die Bevölkerungszahlen. Um dem entgegenzuwirken, stellen Italien, Frankreich und die USA Budgets in Millionenhöhe zur Verfügung, um «Adoptionen zu vereinfachen». Unlängst schickten die USA 100 Millionen Dollar (!) nach Äthiopien, ­offiziell zur «Verbesserung des Kinderschutzes im Adop­tionswesen». «Das ist Bestechung», sagt Hervé Boéchat ganz offen. «Einfach gut getarnt. In Zukunft wird Äthiopien Adop­tionen für Amerikaner sicher vereinfachen.» 

Auch Diplomaten-Titel sind ein wirkungsvolles Instrument. «Nichts ist effektiver, um die Türen eines Schwellenlandes zu öffnen», sagt Hervé Boéchat. Frankreich, die USA, Italien – alle versehen ihre vielen ­Adoptions-Beamten mit Diplomaten-Titeln. Im Gegensatz zur Schweiz: David Urwyler, oberster Adoptions-Verantwortlicher, ist einfacher Beamter.

Elf Agenturen in der Schweiz

Hinzu kommen zahlreiche Adoptions-Vermittlungsagenturen, die etwa Frankreich, die USA, Italien und Spanien unterhalten. Nach dem Erdbeben in Haiti etwa, 2010, gab es dort 40 akkreditierte französische Vermittlungsagenturen. Die Schweiz war mit einer vertreten. Gerade mal elf aktive Vermittlungsagenturen gibt es in der Schweiz, in den USA sind es Hunderte. Kein Budget. Keine Diplomaten. Kaum Lobbying. Es ist offensichtlich: Die politische Schweiz hat nur ein geringes Interesse, ihre Bevölkerung bei Adoptionen zu unterstützen.

Auch in den Herkunftsländern gibt es Ränkespiele. Politiker dort nutzen das Adoptionswesen ungeniert zur Verfolgung ihrer ­Interessen. Wer politische oder wirtschaftliche Vorteile verspricht, wird bevorzugt. Andere werden benachteiligt oder gleich ganz ausgeladen – wie es China mit der Schweiz machte. «Wir haben unsere traditionellen Länder, mit denen wir zusammenarbeiten», antwortete Peking auf Anfrage der Schweiz, ob in Zukunft nicht auch Schweizer in China adoptieren dürften. China gibt seine Waisenkinder den Bürgern der USA – des wichtigsten Handelspartners. Ähnlich, nur umgekehrt, ist die Situation in Russland. Präsident Putin unterschrieb Ende 2012 ein Adoptionsverbot für Amerikaner. Er reagierte damit auf US-Sanktionen gegen Russland. Putin war offenbar der Meinung, das Adoptionsverbot würde die Amerikaner besonders empfindlich treffen.

Die Antwort: Afrika

Für Adoptionsbewerber bleibt die Gretchenfrage: Wo sind Adoptionen heute noch möglich, für Babys oder Kleinkinder mit höchstens 2 bis 3 Jahren, wie sie sich die meisten Paare wünschen? Die Antwort ist: Afrika. Äthiopien, der Kongo, Uganda, Ghana. In diesen Ländern gebe es viele hilfsbedürftige Kinder, sagt Hervé Boéchat – auch in Russland. Doch beim Thema Gesundheit ist Vorsicht geboten. Viele der Jüngsten in Afrika leiden an Infektionskrankheiten, in Russland an einem fetalen Alkohol-Syndrom – Schädigungen durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft.

Ein immer grösseres Interesse an Adop­tionen, aber immer weniger Chancen – wen wundert es, dass viele Adoptionswillige ­resignieren und sich lieber eine Leihmutter suchen? Doch das ist ein anderes Thema.

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