Für die meisten Schülerinnen und Schüler ist es die schönste Zeit des Jahres: Der Sommer mit seinen schier unendlichen Ferien. Doch das süsse Nichtstun könnte in einigen Wochen seinen Tribut fordern – wenn die Kinder wieder die Schulbank drücken müssen, sich aber nicht an den Stoff des vorigen Schuljahres erinnern.
Zahlreiche Studien aus den USA zeigen, dass Schüler während der Sommerferien einen erheblichen Teil ihrer Fähigkeiten wieder verlieren, vor allem in der Mathematik. Forschende sprechen vom Ferieneffekt. Besonders davon betroffen sind Kinder aus einkommensschwachen Familien, deren Eltern meist wenig gebildet sind und ihren Nachwuchs kaum fördern können.
Nur das Lesen verbessert sich
In Europa ist das Phänomen des Ferieneffekts noch kaum erforscht. Aber erste Studien aus Deutschland, Schweden und Österreich enthüllen: Auch hier verlernen Kinder in den Sommerferien den Schulstoff – wenn auch weniger stark als in den USA. «Das liegt vermutlich daran, dass die Ferien in Europa wesentlich kürzer sind als in Übersee, wo sie bis zu zwölf Wochen dauern», sagt Manuela Paechter von der Universität Graz.
Die Erziehungspsychologin hat den Ferieneffekt in Österreich untersucht, indem sie die Leistung von 182 Schülern im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren unmittelbar vor und nach den Sommerferien getestet hat. Das Ergebnis: Die Kinder schnitten im rechnerischen Denken und in der Intelligenz nach den Ferien schlechter ab als davor.
Anders im Lesen, da verbesserten sie sich über die Ferien – wohl, weil sie etliche Bücher verschlungen hatten. «Das zeigt, wie bedeutend das Lesen während der Sommerferien ist», sagt Paechter. Trotzdem litt die Rechtschreibung der Schüler. «Nur weil ein Kind viel liest, verbessert sich die Rechtschreibung nicht automatisch», so Paechter. «Um nicht zu vergessen, muss man üben.»
Mit dem Zeugnis des Schuljahres in der Tasche freuen sich nicht nur schulpflichtige Kinder auf die grossen Sommerferien. Die ganze Familie kann gemeinsam Zeit geniessen und verreisen.
Mit dem Zeugnis des Schuljahres in der Tasche freuen sich nicht nur schulpflichtige Kinder auf die grossen Sommerferien. Die ganze Familie kann gemeinsam Zeit geniessen und verreisen.
Freizeitgestaltung ist enorm wichtig
Immerhin: Nach einigen Wochen Unterricht waren die Unterschiede wieder ausgeglichen und kein Kind litt dauerhaft unter der mangelnden geistigen Anregung während der Ferien. Und anders als in den USA gab es keine Kluft zwischen Schülern aus ärmeren und reicheren Familien.
Allerdings hat die Erziehungspsychologin Paechter die Studie in einer ländlichen Region durchgeführt, und dort seien die Unterschiede zwischen Arm und Reich geringer. Ausserdem gebe es im Freizeitverhalten der Landkinder weniger grosse Unterschiede als bei Stadtkindern. In Städten erwartet Paechter deshalb einen grösseren Unterschied zwischen Arm und Reich.
Die Lernforscherin Tina Hascher von der Universität Bern sagt, es sei entscheidend, womit sich die Kinder während der Ferien beschäftigen. «Das beeinflusst direkt, wie stark der Ferieneffekt ausfällt.» Das heisst nicht, dass die Kids auch in den Ferien Mathematik pauken sollten. Doch: «Es ist zentral, dass sie sich geistig anregend beschäftigen.»
Das können viele Dinge sein: Ein Baumhaus bauen, spannende Bücher oder Comics lesen, mit Lego etwas konstruieren, einen Bach stauen oder ausrechnen, was sie mit ihrem Taschengeld kaufen können. «Hauptsache, es ist etwas, das den Kindern Spass macht und ihre Interessen fördert», sagt Hascher.
Elterliche Hilfe ist notwendig
Doch nicht immer kämen die Kinder selbst auf solche Ideen. Es sei wichtig, dass sie von den Eltern kreative Anregungen bekommen. Studien zeigen, dass es vor allem Eltern mit höherer Bildung sind, die ihren Nachwuchs so aktiv fördern. «Dagegen mangelt es einkommensschwachen Familien oft an solchen Einfällen», sagt die Lernforscherin. «Und häufig sind das Familien mit Migrationshintergrund.»
Kinder aus fremdsprachigen Familien haben darum noch einen weiteren Nachteil: Viele reden in den Ferien kaum Deutsch. Das sei schlecht, sagt die Erziehungspsychologin Paechter, denn: «Kinder lernen eine Sprache durch Nachahmen.» Und: Fast jedes Fach wird in Deutsch unterrichtet. Die Sprache ist also für alle Fächer zentral, sogar für die Mathematik. «Darum ist es so wichtig, die Sprache permanent zu verwenden», sagt Paechter.
Fremdsprachige Kinder sollten deshalb auch in den Ferien ihre Schul-Gspändli treffen, sagt auch Tina Hascher. Ein gutes Mittel seien Angebote wie der Ferienpass, wo Kinder geistig anregende Aktivitäten besuchen können. «Das beugt dem Ferieneffekt vor und entlastet gleichzeitig die Eltern.»
Besser kürzere Ferien
Hascher hat Verständnis dafür, dass nicht alle Eltern ihren Kindern ein riesiges Ferienprogramm bieten können. Denn die Ferien der Kinder dauern viel länger als die von berufstätigen Eltern. So plädiert Hascher dafür, das Konzept der Tagesschulen auf die Ferien zu erweitern. Ihre Idee: Die Sprösslinge wären betreut, doch sie müssten nicht Schulstoff lernen. Die Kinder könnten etwa Museen besuchen oder Tiere in der Natur beobachten. Hascher sieht den Staat in der Pflicht: «Gerade für einkommensschwache Familien sind möglichst günstige Angebote wichtig.»
Entscheidend ist offenbar auch die Länge der Sommerferien. In den USA dauern diese bis zu zwölf Wochen, dementsprechend ausgeprägt ist der Ferieneffekt. Hierzulande sind die Ferien zwar kürzer: Im Durchschnitt sind es sechs Wochen. Doch gerade wegen des Ferieneffekts sei das immer noch zu lang, findet Hascher. Denn bisher richten sich die Länge und die Verteilung der Ferien im Schuljahr nicht danach, dass Kinder möglichst gut lernen können. Vielmehr dauern die Sommerferien aus Tradition so lange, etwa weil die Kinder früher auf den Feldern mithelfen mussten.
Heute ist das längst nicht mehr der Fall. «Man muss schon darauf achten, dass sich die Schülerinnen und Schüler möglichst gut erholen können», sagt Hascher. Aber dazu sei nicht so viel Zeit nötig: «Die Sommerferien dauern zu lange.» Besser wäre es, die gesamte Anzahl Ferienwochen gleichmässiger auf das Schuljahr zu verteilen, sagt die Lernforscherin: «Vier Wochen Sommerferien sollten reichen.»