Chinesen in der Schweiz: So ticken die Elite-Zuwanderer
WC-Spülen nach 22 Uhr verboten!

18'402 Chinesen leben und arbeiten in der Schweiz. Eine Gruppe unauffälliger Elite-Zuwanderer, die sich an Regeln halten, von denen wir gar nichts wissen.
Publiziert: 27.11.2018 um 22:05 Uhr
|
Aktualisiert: 28.11.2018 um 10:20 Uhr
1/12
Yuli Wang (30) und ihr Mann Junpeng Lao (32) wohnen im Zürcher Kreis 4.
Jonas Dreyfus

Der Kurs auf Mandarin würde jetzt eigentlich beginnen. Doch die Leiterin steht noch alleine im Zimmer des Zentrums Karl der Grosse. Die Stadt ­Zürich bietet dort fremdsprachigen Frauen an, sich für wenig Geld das Wichtigste über das Leben in der Stadt erklären zu lassen. Für jede Sprache gibt es eine eigene Gruppe.

Es ist etwas vom Ersten, was ein Anfänger im Umgang mit Chinesen lernt: Bis zu 15 Minuten Verspätung nehmen sie sich raus.

Um 9.15 Uhr sind alle hier: fünf Kursteilnehmerinnen, einige davon mit Kinderwagen im Schlepptau. Ein kleiner Junge starrt gebannt auf den Bildschirm eines riesigen Smartphones. «Hoffentlich schreiben Sie etwas Gutes über uns», sagt eine auf Englisch zum Journalisten.

In der Schweiz leben 18'402 Festlandchinesen. Das sind fast doppelt so viele wie im Jahr 2010. Viele von ihnen sind top ausgebildete Wissenschaftler, arbeiten in der ­IT-Branche oder im Tourismus. Die meisten wohnen in und um Städte wie Zürich, Bern, Lausanne und Genf – eigentlich überall, wo sich international ausgerichtete Bildungsstätten befinden, wo Diplomatie betrieben wird oder sich ­chinesische Firmen niederlassen.

Rüpel und Investoren: Chinas schlechtes Image

Ausserhalb der Berufswelt nimmt man Chinesen in der Schweiz vor allem war, wenn sie als Touristen negativ auffallen. In Hotels prallen Kulturen aufeinander, wenn Gäste das halbe Buffet auf ihren Teller ­laden und fast nichts davon essen.

Als eine unbedarfte Touristin im September in Luzern dabei gefilmt wird, wie sie für ein Selfie einen Schwan am Hals packt, berichten sogar chinesische Medien über die Würgerin vom Vierwaldstättersee. Die Story reiht sich ein in die Berichterstattung zu Übernahmen von Traditionshäusern wie Syngenta und Bally durch Investoren aus Fernost. Geht es um China, schwingt in der Schweiz immer ­Unbehagen mit.

Die Frauen im Integrationskurs sind gebildet, haben anspruchsvolle Schul- oder Studienjahre hinter sich. Die meisten kamen mit Kindern als Familiennachzug in die Schweiz, ihre Männer sind an der ETH tätig oder arbeiten für chinesische Unternehmen wie die ICBC. Die grösste Bank der Welt eröffnete vergangenen Juni ihre erste Schweizer Niederlassung in Zürich.

Die Chinesen in der Schweiz möchten sich integrieren

Das Thema des heutigen Kurses ist Weiterbildung – sobald wie möglich wollen die Frauen wieder in die Arbeitswelt zurück. Die Chinesen in der Schweiz möchten sich integrieren. Als Angehörige eines Staats, der die Gruppe über das Individuum stellt, betrachten es viele von ihnen als ihre Pflicht.

Über das Land, in dem keine von ihnen länger als vier Jahre lebt, wussten die Kursteilnehmerinnen vor ihrer Ankunft wenig. «Chocolat», ruft eine in die Runde. Eine andere erzählt, wie ihre Grossmutter immer betonte, dass ihre Uhr aus der Schweiz kommt. Auch dieser Tennisstar ist ihnen ein Begriff, der mit den mühsam auszusprechenden «R» im Namen: Roger Federer.

Jetzt, nachdem sie hier sind, fällt ihnen vor allem auf, wie sauber es überall ist. Jemand hat bemerkt, dass fast nirgendwo Überwachungskameras hängen. Einem ­anderen wie sehr die Schweizer ­Gesellschaftsspiele lieben. Eine Frau lernt Auto fahren und hat Mühe mit den Vorfahrtsregeln. «In China gibt es keine Kreuzung ohne Ampel.»

«In China» – das heisst im viertgrössten Land der Welt mit rund 1,4 Milliarden Einwohnern.

Eine Kursteilnehmerin aus Shanghai tut sich schwer mit der für ihre Verhältnisse kleinen Auswahl an Früchten im Coop. Eine aus Peking, wo ein kontinentales Klima herrscht, kennt dieses Problem nicht. Eine kleine Unstimmigkeit innerhalb der Gruppe, die sich ­sofort in kollektivem Gekicher ­auflöst.

In einem sind sich alle einig: Es sei wirklich sehr merkwürdig, dass man in der Schweiz nach 22 Uhr die WC-Spülung nicht mehr betä­tigen dürfe. Man könne ja nicht steuern, wann man auf die Toilette müsse.

Unter Chinesen, die in der Schweiz leben, ist dieses Gerücht weit verbreitet. Es entstand offenbar in einem chinesischen Online-Forum. Viele halten sich an die ­Regel – auch wenn sie nicht ganz ­sicher sind, ob sie wirklich müssten.

Natürlich nicht! Die Frauen aus dem Integrationskurs sind amüsiert, als sie das hören. Und erleichtert.

Szenenwechsel. Wir sitzen am Esstisch von Yuli Wang und Junpeng Lao. Die Wohnung des berufstätigen Ehepaars liegt in einem modernen Neubau im Kreis 4 in ­Zürich. Wang, die ihren ledigen ­Namen, wie in China üblich, behalten hat, giesst Tee in schneeweisse Tassen.

Das Interieur samt der Wohnwand unterscheidet sich nicht gross von Schweizer Wohnungen. Mit Ausnahme der Farbe Schwarz, die hier dominiert. An der Decke hängen goldschimmernde Designerlampen, die an Lampions erinnern.

Zwei Jobs in der Schweiz sind weniger hart als einer in China

Wenn ein Zug in der Schweiz verspätet ankommt, entschuldigt sich die SBB am nächsten Tag öffentlich mit einem Inserat in der Zeitung. Das glaubte Wang von der Schweiz zu wissen, bevor sie mit ihrem Mann hierher zog. Die 30-Jährige pendelt beruflich zwischen Zürich, Freiburg und ­Basel. Sie sei sich oft nicht sicher, ob sie im Zug sprechen dürfe. «Zur Sicherheit schweige ich lieber.»

Er könne sich genau an seine erste Nacht in der Schweiz erinnern, sagt ihr 32-jähriger Mann Junpeng Lao. «Es war so still, ich konnte mich selbst atmen hören.» In China sei alles laut. Der Verkehr, die Menschen. «Ich kann hier sehr gut nachdenken.» Nur einmal habe er in einem Restaurant laute Leute ­erlebt, sagt Lao. «Ich glaube aber, das waren Deutsche.»

Lao, Doktor der Psychologie, arbeitet als Datenwissenschaftler bei Google. Seine Frau hat chinesische Sprache und Literatur studiert bis zum Bachelor. Das heisst zwölf Jahre obligatorische Schulzeit plus vier Jahre Universität.

Heute organisiert sie an der Universität von Freiburg Kurzprogramme für ausländische Studenten. In Basel arbeitet sie bei einer Vermögensverwaltung. Seit rund fünf Jahren wohnt das Ehepaar in der Schweiz, vor zwei Monaten ­zogen es von der Romandie nach Zürich.

Sie liebe ihr Leben hier, sagt Wang. In ihrem Heimatland war sie für grosse Mode- und Kosmetikfirmen tätig. «Jede Sekunde, in der ich wach war, widmete ich mich der Arbeit. Es war nicht gesund.» Mit zwei Jobs in der Schweiz sei die Arbeitsbelastung immer noch kleiner als mit einem in China. Ihre Freizeit könne sie dafür nützen, die lokale Sprachen zu lernen.

Ihre Integration treiben sie so ehrgeizig voran wie die Karriere

Wang, die in Shanghai bei ihren Grosseltern in einem traditionellen Haushalt aufwuchs, entschuldigt sich in perfektem Englisch dafür, dass sie und ihr Mann das Gespräch noch nicht auf Deutsch führen können. Das ist keine Floskel, denn mit ihren Freunden in Freiburg spricht sie bereits Französisch. Sorry auch, dass sie hier in Zürich noch keine Freunde hätten, sagt Lao.

Ihre Integration treiben sie mit dem gleichen Ehrgeiz voran wie ihre Karrieren. Dass sie tagsüber zu Hause sind, ist eine Ausnahme. Der volle Terminplan mit drei Stunden Deutschkurs pro Woche lässt das selten zu.

Abends kochen die beiden zu Hause. «Fusion Style», wie sie sagen. Und schauen Serien auf Netflix an. Am liebsten «The Good Place» – eine amerikanische Komödie, in der eine egoistische Tussi nach einem tödlichen Unfall durch ein Missverständnis im Himmel landet. Oder «RuPaul’s Drag Race», eine Casting-Show für Drag-Queens, die in den USA Erfolge ­feiert. Lao: «Etwas Vergleichbares gibts im chinesischen Fernsehen nicht.»

Auf die Frage, ob sie an der Schweiz etwas komisch finden, herrscht zuerst einmal höfliches Schweigen. Nun ja, rückt Lao heraus – das mit den kurzen Laden­öffnungszeiten, die sich auch noch von Kanton zu Kanton unterscheiden, sei ein Kulturschock gewesen. Und Wang ist erstaunt, wie langfristig die Schweizer planen. Dass man ein Jahr im Voraus ­Ferien eingebe, sei bei den superschnellen Veränderungen in China undenkbar. «Es kann ja sein, dass man bis dahin längst einen neuen Job hat. Oder das Reisebüro, bei dem man gebucht hat, in der ­Zwischenzeit in Konkurs ging.»

Eine kleine Stadt mit 7,3 Millionen Einwohnern

Chinesen orientieren sich bei der Wahl der Universitäten stark an den internationalen Rankings. Die ETH Zürich steht dort weit oben. Deshalb studieren, Stand 2017, an der Eidgenössischen Technischen Hochschule 636 Chinesen. Das macht sie zur grössten Ausländergruppe nach den Deutschen und Italienern. Über 40 Prozent der chinesischen Studenten sind Frauen.

Eine davon ist Lina Liu, die aus ­einer kleinen Stadt kommt, wie sie sagt, ganz in der Nähe von Peking. Die Stadt heisst Xingtai, liegt vier Autostunden von Peking entfernt und hat 7,3 Millionen Einwohner.

Die 26-jährige Politikwissenschaftlerin schreibt eine Doktor­arbeit über die «Belt and Road Initiative» – ein Projekt der chinesischen Regierung, das die ganze Welt unter anderem mit Schienen und Schiffslinien verbinden will.

Liu kam vor zwei Jahren in die Schweiz und wird in zwei Jahren abschliessen. Ihr Leben spielt sich hauptsächlich in ihrem Zweierbüro an der ETH und in ihrer WG im Aussenquartier Schwamendingen ab, die sie mit zwei ­chinesischen Masterstudentinnen bildet.

Am Wochenende stehen sechsstündige Wanderungen in den Bergen auf dem Programm. Ihr Freund lebt in China. Sie sieht ihn ein- bis zweimal pro Jahr.

Waschen mit Weichspüler statt Waschmittel

Lina Liu hat Mühe, die deutsche Schrift zu lesen. Wenn sie im Coop steht, weiss sie oft nicht, in welcher der vielen Flaschen sich das Shampoo befindet. Einer von Lius chinesischen Kommilitonen hat sich ein halbes Jahr Deo ins Gesicht gesprüht, das er für einen Erfrischungsspray hielt. Seine Haut wurde immer schlechter. Ein anderer wusch seine Wäsche versehentlich ein Jahr lang mit Weichspüler statt mit Waschmittel.

Liu kommt aus einer Provinz, in der noch härter gelernt wird als im Rest des Landes. Dort befindet sich eine renommierte Militärschule, ­deren Stil Lius Schule kopierte. Nur so hatten die Schüler eine Chance, die chinesische Matura gut ­abzuschliessen, das Gao Kao.

Sie sagt, dass sie mit zwölf Jahren ein in bisschen «crazy» gewesen sei, was das Lernen betraf, frei­willig um vier Uhr morgens aufstand, um mehr Zeit zu haben als die anderen. Sie wollte die Nummer eins der Klasse werden und hat das auch geschafft.

Um sechs Uhr begann der offizielle Unterricht, um sieben gab es dann Frühstück. Liu rannte in die Mensa, damit sie nicht anstehen musste. Der Porridge, den es jeden Morgen mit einer Scheibe Brot und ­einem hart gekochten Ei gab, war so heiss, dass sie mit einer Hand mit einem Löffel in ihm rührte und, um ja keine Zeit zu verlieren, mit der anderen Hand das Stück Brot ass.

Das hart gekochte Ei nahm sie auf dem Weg ins Klassenzimmer zu sich. «Ich wusste genau, an welcher Wand ich es aufschlagen und wo ich die Schalen in den Abfall schmeissen musste, damit ich so schnell wie möglich wieder an meinem Pult sass.» Die Schweizer würden vielleicht nicht ganz so diszipliniert arbeiten wie die Chinesen, sagt Liu. Sie ­vermutet, das könnte daran liegen, dass man hier auch mit weniger ­Effort ein gutes Leben führen kann. Trotzdem will sie zurück in ihr Heimatland. «Es ist voller Möglichkeiten.»

Tatsächlich sind die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten in China seit den 1980er-Jahren so rasant gewachsen, dass sie den sogenannten American Dream des grossen Konkurrenten alt aussehen lassen. Seit den 1990er-Jahren haben es 800 Millionen Menschen aus der Armut geschafft, das Land hat heute einer der grössten Mittelklassen der Welt. Die Chancen stehen gut, dass China den Westen in vielen Belangen überholt. Vielleicht schwingt im Unbehagen, das wir Schweizer bei China haben, auch eine gute Spur Neid mit. 

Chinesen in der Schweiz in Zahlen

10'379 chinesische Frauen 
leben in der Schweiz und 8023 chinesische 
Männer.

753 Chinesen mit ­Diplomatenpass wohnen 
in Genf.

4049 Personen zählt die chinesische ­Gemeinschaft im Kanton Zürich – 
mit Abstand 
die grösste der Schweiz.

984 Taiwaner

500 Personen zählte die 
Gruppe der chinesischen Ausländer im Jahr 
1980. 37-mal weniger 
als heute.

10'379 chinesische Frauen 
leben in der Schweiz und 8023 chinesische 
Männer.

753 Chinesen mit ­Diplomatenpass wohnen 
in Genf.

4049 Personen zählt die chinesische ­Gemeinschaft im Kanton Zürich – 
mit Abstand 
die grösste der Schweiz.

984 Taiwaner

500 Personen zählte die 
Gruppe der chinesischen Ausländer im Jahr 
1980. 37-mal weniger 
als heute.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?