Moritz Freiherr Knigge (46) ist von Adel und weiss, wie man eine Banane mit Messer und Gabel isst. Doch wichtiger als tausend Benimmregeln findet er den angemessenen Umgang mit der Unhöflichkeit.
Moritz Freiherr Knigge, bisher haben Sie Bücher über Höflichkeit veröffentlicht, nun eines über Unhöflichkeit. Sie schreiben da, dass die Höflichkeit auf der Intensivstation sei. Wieso?
Moritz Freiherr Knigge: Weil ständig alle an ihr herumfummeln. Die einen finden die Höflichkeit überflüssig, andere halten sie für eine Lüge. Die dritte Gruppe ist die der Selbstgerechten, die den Untergang der Höflichkeit bejammern und auch genau wissen, wer für deren Aussterben verantwortlich ist: alle anderen.
Unhöflich sind immer die anderen?
Absolut. Erzählungen, in denen nur nette Menschen vorkommen, interessieren keinen. Aber der eine Idiot, der uns die Tür vor der Nase zugeknallt hat, wird sofort zum Repräsentanten des zivilisatorischen Verfalls.
Sie schreiben, der grösste Feind der Höflichkeit sei der Glaube an Unhöflichkeit. Sind jene, die sich über schlechtes Benehmen anderer beklagen, selbst schuld an ihrem Leid?
Schuld nicht, aber sie sind daran beteiligt. Wer sich ständig im Kampfmodus befindet, wer die Welt und die Menschen ständig als böse gesinnt wahrnimmt, der wird sein Umfeld natürlich auch feindlich und somit unhöflich erleben.
Sie wollen die Unhöflichkeit nicht länger dem Zufall überlassen. Kann nicht jeder unhöflich sein?
Natürlich. In meinem Buch will ich zeigen, was man tun müsste, um sich gezielt unhöflich zu verhalten. Ich wollte das Wesen der Unhöflichkeit entlarven.
Wie sieht das Wesen aus?
Wäre die Unhöflichkeit eine asiatische Kampfsportart, dann müssten wir es in den folgenden Disziplinen zur Meisterschaft bringen: Menschenfeindlichkeit, anderen die Schuld in die Schuhe schieben, schonungslos sein, Grenzen überschreiten, das Hirn ausschalten, aus Mücken Elefanten machen, kein Selbstbewusstsein haben und unversöhnlich sein.
Bringen es viele zur Meisterschaft?
Ich will zeigen, dass Menschen, die sich bewusst asozial verhalten, die absolute Ausnahme darstellen.
Halten Sie die Kampfzone der Unhöflichen für kleiner als gemeinhin behauptet?
Genau. Ob uns ein Verhalten stresst oder erfreut, liegt nicht daran, wie die Dinge sind, sondern was wir aus ihnen machen.
Welche Ratschläge können Sie geben?
Ich habe mir zum Beispiel angewöhnt, wenn etwas schiefläuft, immer ein Missverständnis zu unterstellen. So wie der ältere Herr in der Londoner U-Bahn, der sich entschuldigt, obwohl er angerempelt wurde.
Welche Unterschiede gibt es denn zwischen Ungeschicklichkeit und Unhöflichkeit?
Das ist eine schöne Frage. Wie eine Umfrage gezeigt hat, wünschen sich rund neunzig Prozent aller Menschen mehr Höflichkeit im Umgang. Das zeigt, dass sehr viele Menschen Ungeschicklichkeit, die keiner bösen Absicht entspringt, mit der Unhöflichkeit verwechseln.
Ist es nicht so, dass wir in rüpelhaften Zeiten sind, die rüpelhaftes Verhalten provozieren?
Wenn sich Menschen in unhöflichen Zeiten wähnen, schlagen sie zurück. So wie neulich mein Nachbar, dem die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde und der daraufhin trotzig beschloss, von nun an auch keine Türen mehr aufzuhalten. Den eigenen Anteil am Misslingen der Höflichkeit zu analysieren ist wesentlich schwieriger, als die anderen zu kritisieren.
Haben Fast Food, zwanglose Mode und Feminismus dazu beigetragen, dass Manieren unnötig geworden sind?
Das glaube ich nicht. Ich sehe im Alltag nach wie vor sehr viel Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Allerdings verändern sich die Formen und manche Regeln verschwinden sogar. Das sehen wir beim Feminismus. Der hat uns in der Tat einer gesellschaftlichen Hierarchie beraubt: Die Dame ist verschwunden. Die Gleichberechtigung ist etwas Wunderbares. Für die Frauen bringt sie jedoch den Nachteil, dass auch sie jetzt Türen aufhalten, Gepäckstücke tragen und sich selbst in den Mantel helfen müssen.
Sorgt die Globalisierung für eine einheitliche Auffassung darüber, wie man sich gut benimmt?
Eine Ebene, auf der sich Kulturen unterscheiden, ist sicher die Art und Weise der direkten und indirekten Kommunikation. Dennoch gilt auch in diesem Bereich, dass man sich an die eigene Nase fassen kann, bevor man andere kritisiert.
Haben Sie ein Beispiel?
Meine japanische Nachbarin, eine begeisterte Klavierspielerin, berichtete mir kürzlich, dass ihr deutscher Nachbar an einem Sonntagabend zur Krimizeit an ihre Tür hämmerte. Seine Worte: «Nochmal klimpern, wenn der ‹Tatort› läuft und ich mache Kleinholz aus dem Klavier.» In Japan hätte man höflich gesagt: «Wie ich höre, spielen Sie Klavier.»
Welche Reaktion ist angemessen, wenn Leute im Tram essen, anderen den Rucksack ins Gesicht donnern und in Bergschuhen zur Abendeinladung erscheinen?
Ganz einfach: Ruhe bewahren, gelassen bleiben, mit Freundlichkeit und Höflichkeit reagieren und wenn möglich das rüpelhafte Verhalten als Missverständnis behandeln. Wenn mir persönlich im Alltag etwas sehr missfällt, spreche ich es – wenn überhaupt – so höflich an, dass sich ein Konflikt vermeiden lässt.
Würde sich Ihr Urahne – Adolph Freiherr von Knigge, der als Erfinder vieler Verhaltensregeln gilt – im Grab umdrehen, wenn er von Ihrer liberalen Haltung wüsste?
Ich glaube nicht. Jedenfalls legt mir die Lektüre seiner Bücher nahe, dass er durchaus Humor hatte und Augenzwinkern ihm nicht fremd war. Darüber hinaus schreibt er ja ganz zu Beginn seines berühmten Buches «Über den Umgang mit Menschen», dass er in seinem Leben so ziemlich alles falsch gemacht und daher ein Buch über das Zwischenmenschliche geschrieben habe. Er kannte sich also mit Unhöflichkeit – auch der eigenen – durchaus aus.
Welche Benimmregeln würden Sie dennoch als zeitlos gültig benennen?
Regeln scheitern immer. Nicht nur, weil sich Regeln und deren Formen verändern. Sie scheitern, weil jede menschliche Begegnung eine gewisse spontane Geschmeidigkeit erfordert, die man nicht auswendig lernen kann. Wir müssen eine gemeinsame Form finden, um vom starren Zustand in eine gemeinsame Bewegung zu kommen.
Wie bei einem Tanz?
Ja. Drei Tanzschritte dienen seit jeher der geschmeidigen Bewegung von Menschen. Darum gilt: Erstens, man begrüsst Menschen, blickt ihnen ins Gesicht, stellt andere vor, bezieht Drittpersonen ins Gespräch mit ein. Zweitens, man sagt Danke und Bitte und belohnt die Aufmerksamkeit der anderen. Drittens: Man soll Menschen unterschiedlich behandeln, ohne Unterschiede zu machen.
Das heisst?
Man soll das Gesicht des anderen wahren, ihn nicht nach seinem Stand, der Herkunft, dem Aussehen oder seiner Förmlichkeit beurteilen.
Sind Konventionen eine Möglichkeit, das soziale Miteinander erträglich zu machen und die eigene Ungeschicklichkeit zu überspielen?
Wenn sie das Miteinander befördern, machen manche Rituale das Leben tatsächlich leichter. Wenn ich weiss, dass man in Deutschland eine fremde Person in der Regel siezt und der Handschlag die gängige Begrüssungsform ist, dann muss ich nicht jedes Mal überlegen, was zu tun ist.
In welchen Situationen darf einem weiterhin der Kragen platzen?
Wem der Kragen platzt, der hat einen schweren Stand, selbst wenn er im Recht ist. Was hängen bleibt, ist meist der Ausraster, nicht dessen mögliche Berechtigung.
Gibt es nie Situationen, in denen Sie ungehalten reagieren?
Auch ich rege mich auf – im Strassenverkehr, oder wenn Menschen ihre persönliche Meinung mit Wahrheit verwechseln. Der Kragen platzt mir, wenn Menschen sich für etwas Besseres halten.
Überheblichkeit ist unhöflich?
Überheblichkeit und Dünkel sind die Todfeinde der Höflichkeit. Wie sich jemand gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden verhält, verrät wenig über ihn. Einen Menschen zu beobachten, wie er sich gegenüber dem Servicepersonal oder der Toilettenfrau aufführt, ist für mich der wahre Charaktertest.
Die Königin von England soll einmal ein Dinner ausgerichtet haben. Ein Gast wusste nicht, wie man mit einem Fischmesser umgeht und nahm Gabel und Buttermesser zur Hand. Die Monarchin stutzte kurz, griff dann ebenfalls zu Gabel und Buttermesser, um den Fisch zu essen. Was sagen Sie dazu?
Gelernt ist halt gelernt. Der höfliche Mensch schlägt jede Etiketteregel in den Wind, wenn er damit seinem Gegenüber eine Peinlichkeit erspart und er zeigt den Spottenden, was wahre Höflichkeit ist. Eine schöne Geschichte.
Man müsse nur lange genug über das Unhöflichsein nachdenken, damit es verschwindet, schreiben Sie. Ist Ihnen das gelungen?
Komplett verschwinden wird die Unhöflichkeit nie. Das wäre auch langweilig. Wenn wir die Höflichkeit in Ruhe lassen, erholt sie sich, wird bald aus dem Krankenhaus entlassen und kehrt gesund und stark in unsere Leben zurück.
Moritz Freiherr Knigge, «Anleitung zum Unhöflichsein», Schwarzkopf & Schwarzkopf, 240 Seiten, ca. 17.90 Franken. Erscheint am 1. Oktober.