SonntagsBlick: Fast jeder scheint bei uns inzwischen Yoga zu machen, meist für die Fitness. Ist das schlimm?
Sadhguru: Yoga hält fit, ist gut für die Figur und Haltung. Daran ist nichts Falsches, aber es ist eine sehr limitierte Sicht auf Yoga, weil nur der körperliche Aspekt einbezogen wird. Es gibt aber 112 Wege, um Yoga zu praktizieren, die viel weiter führen.
Worum geht es denn beim Yoga?
Yoga als Wort heisst so viel wie Vereinigung, also eins sein mit allem. Was das tatsächlich bedeutet, begreift man mit einer einfachen Übung. Halten Sie sich die Nasenlöcher so lange wie möglich zu: Nach etwa drei Minuten ohne Luft ist man tot. Wir atmen die Welt, wir essen die Welt, wir leben auf ihr. Aber die meisten glauben, sie seien völlig unabhängig. Beim Yoga geht es darum, diese Illusion aufzulösen.
Aber wir sind ja trotzdem Individuen?
Wenn wir es wollen, können wir all das, was wir im Kopf mit uns herumtragen, ablegen und das Leben so erfahren, wie es tatsächlich ist. Nämlich, dass wir alle in einem lebendigen Kosmos verbunden sind. Dabei geht es nicht nur ums Atmen, Trinken und Essen, sondern um eine viel fundamentalere Ebene, der Boden, auf dem wir leben, der aber auch in uns lebt.
Wie meinen Sie das?
Ich spreche von den 30 Zentimetern fruchtbarer Erde, die unseren Planeten wie eine Haut umspannt. Nirgendwo sonst findet sich so viel Leben, der Humus bildet mit seinen Zigtausenden von Mikroorganismen die Grundlage dafür. Auch unser Körper besteht zu 60 Prozent aus Mikroorganismen, wir sind also ein Spiegel unserer Erde. Wir kommen von der Erde, wir leben auf und mit der Erde, und wir werden wieder zu Erde, ohne sie können wir nicht existieren. Aber unserem Boden geht es nicht gut, er ist am Sterben. Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann ist schon in 45 bis 60 Jahren nichts mehr davon übrig – das ist Selbstmord.
Gibt es Hoffnung?
Ganz bestimmt, sonst würde ich nicht meine Zeit verschwenden und kreuz und quer durch die Welt reisen. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass hinter dieser Bedrohung kein teuflischer Plan steckt. Da sitzt nicht irgendwo das Böse, das unseren Planeten zerstören will, sondern wir alle wissen, dass jeder dafür mitverantwortlich ist. Angerichtet haben wir den Schaden auf der Suche nach Glück und Wohlstand.
Was ist daran verkehrt?
Der Ort, wir suchen im Aussen. Wir pressen alles aus unserer Erde heraus und werden doch nicht glücklich. Denn alle menschlichen Erfahrungen, ob schöne oder weniger schöne, finden in uns statt. Anstatt uns nach innen zu kehren, stellen wir die Welt auf den Kopf.
Sie bekommen viele Spenden für Ihr Programm. Wo fliesst dieses Geld hin?
Wir haben nicht genug Geld. Bei den grossen Aufgaben, die wir zu bewältigen haben, bräuchte ich eine Million Mal mehr, als wir jetzt haben. Denn die Projekte zur Wiederbelebung von Boden und Flüssen, dazu die Ausbildungs-, Ernährungs- und Gesundheitsprogramme für die Landbevölkerung. Unsere Organisation funktioniert nur dank fast 6000 Freiwilligen, die sich Vollzeit engagieren. Hinzu kommen Unzählige, die uns in ihrer Freizeit unterstützen. Etwa wie jetzt, wenn wir Halt in Genf machen, dann ist da jemand, der uns beherbergt und verköstigt. Sonst wäre diese Tour gar nicht möglich.
Sie haben Millionen von Anhängern, darunter viele Prominente, auch den Schauspieler Will Smith. Bei der Oscar-Verleihung flippte er aus und wurde gewalttätig. Was sagen Sie dazu?
Gewalt ist nie angebracht, besonders nicht auf einer Bühne, wenn so viele Menschen zu einem hinaufschauen. Es ist sehr unglücklich, dass Will Smith so reagiert hat, denn nun wird er plötzlich als gewalttätige Person betrachtet, was er aber nicht ist. Ich kenne ihn persönlich und weiss, dass er ein ganz wunderbarer Mensch ist. Es ist aber auch wichtig hinzuschauen, auf welche Art und Weise im Namen der Unterhaltung über andere – vor allem über Frauen – geurteilt wird. Das kann besonders einen sensiblen Menschen verletzen.
Was soll man tun, wenn die Emotionen so hochgehen?
Wer impulsiv reagiert, lässt sich von der äusseren Situation bestimmen. Wer bewusst reagiert, nimmt sein eigenes Wohlbefinden in die Hand.
Sie sind ein sehr erfolgreicher Guru …
… Nein, nein, ich bin ein grosser Versager.
Wie das?
Als ich 25 Jahre alt war, wurde mir klar, dass ich einen einfachen Weg gefunden hatte, um glückselig zu sein. Das wollte ich mit der ganzen Welt teilen, damals belief sich die Weltbevölkerung auf 5,6 Milliarden Menschen. Mein Plan war es, innerhalb von zweieinhalb Jahren die ganze Welt glücklich zu machen. Inzwischen sind 40 Jahre vergangen, und es leben 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten, erreicht habe ich maximal zwei Milliarden. Also bin ich ein Versager, und ich werde als Versager sterben. Aber immerhin als glückseliger Versager (lacht).
Sie gehören zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Indiens und sind sehr populär, allein auf Youtube verfolgen fast 10 Millionen Menschen Ihre Reden. Ist das nicht gefährlich fürs Ego?
In mir gibt es keinen Platz, der von aussen beeinflusst werden kann. Weder meine Freude noch mein Elend oder meine Handlungen, nichts wird von anderen beherrscht. Wenn jemand wunderschöne Dinge zu mir sagt, dann steigt mir das nicht zu Kopf. Und wenn jemand die absolut schlimmsten Sachen zu mir sagt, dann macht mir das nichts aus. Denn, wer ich bin, das hängt nicht von der Meinung anderer ab, nicht im Geringsten.
Ihre Anhänger sind hauptsächlich an innerem Wachstum interessiert, wieso sollen sie sich für die Umwelt interessieren?
An der Oberfläche mag es viele Unterschiede zwischen uns geben, ich bin ein Mann, sie sind eine Frau. Sie sind Europäerin, ich komme aus Indien. Sie sind Schweizer Käse, ich Schokolade (lacht). Aber wenn wir beide eine Seifenblase aufblasen und sie platzt, wem gehört dann die Luft darin? Ihnen oder mir? Das funktioniert nicht, denn im eigentlichen Leben existiert keine Trennung.
Es herrscht Krieg in Europa, und eine ukrainische Freundin stellte folgende Frage: Wie kann man ein spiritueller Mensch bleiben, wenn in deinem Land Krieg herrscht und Menschen zu deinem Haus kommen, um zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben?
Krieg ist eine traurige Realität, die nicht neu ist. Das ganze 20. Jahrhundert war voller Kriege. Zwei Weltkriege und noch viele andere Kriege dazwischen. Dann heisst es, dass man diese Fehler nicht wiederholen will, dass man im 21. Jahrhundert angekommen ist. Das Problem ist, dass wir erst dann aufwachen, wenn der Krieg vor unserer Tür steht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fühle mit jedem Menschen, der betroffen ist.
Aber wie kann es Frieden geben?
Solange Waffen fabriziert werden, kommen sie auch zum Einsatz: Die Frage ist nur gegen wen. Man ist stolz, dass immer intelligentere Waffen konstruiert werden, etwa eine Rakete, die aus zwei Meilen Höhe direkt durchs Fenster fliegt und dann im Wohnzimmer explodiert. Ich bin kein Utopist, wir sind weit davon entfernt, uns alle zu umarmen und Freunde zu sein. Aber ich appelliere an die nächste Generation: Werdet nicht noch schlauer darin, wie man Menschen umbringen kann. Das ist das Dümmste, was ihr tun könnt.
Ist Interesse für Spiritualität nicht das Privileg von Menschen, die genug zu essen haben und im Überfluss leben?
Jemandem, der auf der Strasse lebt und um sein Essen betteln muss, dem zu sagen, er soll sich hinsetzen und meditieren, das ist obszön. Es geht nicht um Armut oder Reichtum, sondern um die Grundversorgung für alle. Wir haben dank unseres Fortschritts die Möglichkeit, dass alle genug Nahrung haben. Aber leider gehen heute Abend 820 Millionen Menschen mit leerem Magen schlafen, und 2 Milliarden Menschen haben kein sauberes Wasser zu trinken, darum müssen wir uns zuerst kümmern.