Fleisch. Es ist längst kein einfaches Nahrungsmittel mehr. Fleisch löst in unserer Gesellschaft Emotionen, Diskussionen und Kontroversen aus. Heute streitet keiner mehr ab, dass die Herstellung von Fleisch relevant zur Umweltverschmutzung beiträgt. 25 Prozent der festen Erdoberfläche werden für die Viehwirtschaft genutzt. Zudem benötigt Viehwirtschaft neben viel Platz auch viel Wasser und verursacht Unmengen an Treibhausgasen. Fleisch ist Alltagsprodukt und Genussmittel zugleich. Was aber wäre, wenn es fast CO2-neutrales Fleisch gäbe?
Mit dieser Frage beschäftigt sich ein israelisches Start-up. Aleph Farms hat Anfang dieses Jahres geschafft, was im Forschungsbereich des «kultivierten Fleisches» als Durchbruch gefeiert wird: «Das erste Steak aus dem Labor», wurde international getitelt, als das 14-köpfige Unternehmen seine Errungenschaft der Öffentlichkeit präsentierte. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf 50 Gramm. Ein kleiner Happen, gezüchtet im Labor. Zweieinhalb Millionen Dollar haben die Forschungsarbeiten bis anhin gekostet.
Inspiriert von der Humanmedizin
In-vitro-Fleisch ist an und für sich nichts Neues. In Holland wurde im Jahr 2013 der erste kultivierte Hamburger der Firma Mosa Meat vorgestellt. Der realitätsnahe Geschmack wurde gefeiert, ebenso die authentische Konsistenz. Etwas trocken sei der Burger, hiess es damals, aber Lob dominierte die Kritik.
Bei In-vitro-Fleisch ist Gehacktes einfacher zu züchten als Fleischmocken wie Steaks. Dass es die Israelis geschafft haben, Steak lebensecht nachzubilden, ist eine Revolution. «Es ist heute keine Herausforderung mehr, Fleischzellen zu schaffen», erklärt Didier Toubia, CEO von Aleph Farms. «Wir haben uns vielmehr der Herausforderung gestellt, an der Komplexität der Fleischstruktur zu arbeiten.»
Zwei Jahre dauerte der Weg zum Steak. Bei null musste das Forschungsteam dabei nicht beginnen: Shulamit Levenberg, Professor an der Technischen Universität in Haifa und renommierter Experte im Bereich der Zell- und Gewebezüchtung in der Humanmedizin, ist Teil des Aleph-Farms-Teams.
Coop ist auch dabei
Im Forschungsbereich des kultivierten Fleisches werden weltweit Milliarden investiert. Die USA und China gehören zu den grossen Investoren. Auch Privatunternehmer wie Google-Gründer Sergey Brin oder Windows-Gründer Bill Gates haben bereits Vermögen in Firmen investiert, die an sogenanntem Clean Meat forschen.
In der Schweiz stieg Coops Fleischverarbeitungsbetrieb Bell letztes Jahr mit einem Investment von über zwei Millionen Franken für Mosa Meat in die Branche ein. Neu zieht auch die Migros nach: M-Industrie beteiligte sich an einem Kollektivinvestment von 12 Millionen Franken an den Forschungen von Aleph Farms.
Die Herstellung von einem Kilogramm Rindfleisch benötigt heute um die 15 000 Liter Wasser. Anstelle von Gras füttert man die Tiere der Fleischindustrie meist mit Kraftfutter, dessen Anbau viel Platz einnimmt und Ressourcen schluckt.
Burger aus Erbsenproteinen war schnell ausverkauft
Der weltweite Fleischkonsum ist laut der Welternährungsorganisation zwischen 2000 und 2014 um fast 40 Prozent angestiegen. Grund dafür ist vor allem der zunehmende Wohlstand in asiatischen Ländern. Auch die USA, die weltweit am meisten Fleisch produzieren, verbuchten 2018 Rekordzahlen: Bei 100 Kilogramm Fleisch lag der durchschnittliche Jahreskonsum pro Kopf. Das ist doppelt so viel, wie wir Schweizer verzehren.
Dennoch zeigt man sich in den Staaten offen, wenn es um In-vitro-Fleisch geht. Laut einer Umfrage der Universität Michigan gaben 55 Prozent der befragten 18- bis 39- Jährigen an, dass sie kultiviertes Fleisch probieren würden. Auch in der Schweiz hat sich dieses Jahr gezeigt, dass Konsumenten bereit sind, Alternativen zu testen: Der amerikanische «Beyond Meat»-Burger aus Erbsenproteinen, der seit Mai bei Coop in den Regalen steht, war vielerorts schnell ausverkauft.
Aktuell bemühen sich auch in Deutschland die Grossverteiler aufgrund der grossen Nachfrage um Nachschub. Selbst an der Börse schoss der Vegan-Burger durch die Decke: Heute ist eine Aktie zehn Mal so viel wert wie beim Einstieg in die Börse vor zehn Jahren.
Eine neue, globale Industrie
Kann veganes Fleisch gar echtes Fleisch ablösen? Dr. Mirjam Hauser, Trendforscherin beim Marktforscher GIM Suisse, ist skeptisch: «Nebst den psychologischen werden vor allem wirtschaftliche Faktoren darüber entscheiden, ob sich kultiviertes Fleisch bei den Konsumenten durchsetzen wird. Wenn Fleisch eines Tages so teuer sein wird, dass es sich viele nicht mehr regelmässig leisten können, werden Fleischalternativen interessant.»
Diese Zukunftsvision ist keineswegs Spekulation. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht davon aus, dass vor allem Poulet in Schwellenländern wie Indien und China bis 2020 um einen Drittel teurer sein wird als heute. Grund dafür sind die steigende Nachfrage und die nicht schritthaltende Produktion.
Hauser sagt: «Weltweit werden viele Alternativen zu Fleisch diskutiert. Fleisch hat seine Unschuld verloren, und wenn die globale Nachfrage weiterhin ansteigt, kommen wir nicht umher, auf Alternativen umzusatteln und unsere traditionelle Ernährungsweise zu ergänzen. Kultiviertes Fleisch kann hierbei tatsächlich ein Lösungsansatz sein.»
Ob sich kultiviertes Fleisch jedoch derart positiv auf die Umwelt auswirken wird, ist für Hauser noch offen: «Auch hierfür braucht es eines Tages eine globale Industrie, die erst noch aufgebaut werden muss. Wie viel Energie diese benötigt und woher die kommen wird, gehört zu den noch ungeklärten Fragen.» Auch der gesundheitliche Aspekt ist bis anhin noch ungeklärt.
Gesünder als echtes Fleisch?
Didier Toubia von Aleph Farms versichert jedoch: «Kultiviertes Fleisch enthält dieselben Nährwerte wie herkömmliches.» Es sei gar gesünder, da man direkt auf das Fleisch einwirken könne. So seien etwa keine Antibiotika beigefügt, die in der Fleischwirtschaft in Mengen verfüttert werden. Auch der Fettgehalt sei regulierbar und könne individuell angepasst werden. Langzeitstudien hierzu existieren noch keine.
Nebst Geschmack wird in Zukunft auch das richtige Marketing über Erfolg oder Niederlage entscheiden. «‹Kultiviertes Fleisch› – das klingt nicht wirklich attraktiv. Wenn wir es stattdessen ‹schlachtfreies Fleisch› nennen, sprechen wir die Konsumenten auf einer emotionalen Ebene an», sagt Toubia. «Warum sollte man sich für geschlachtetes Fleisch entscheiden, wenn man ungeschlachtetes haben kann?»
Aktuell würde das winzig kleine schlachtfreie Stückchen Steak noch 50 Franken kosten. Ziel des Unternehmens ist es, durch eine hohe Produktionsmenge eines Tages mit den normalen Fleischpreisen konkurrieren zu können. Dann wird das In-vitro-Fleisch in sogenannten Biofarmen gezüchtet werden und in Tanks alleine vor sich hin wachsen, quasi in einem Fleisch-Gewächshaus. Wann es so weit sein wird, ist noch nicht abzusehen.