Liebes Atomi …
Ein Brief zum Ruhestand des KKW Mühleberg

Unser Autor ist in der Nähe von Mühleberg aufgewachsen. Mit einem persönlichen Brief verabschiedet er sich vom Kernkraftwerk, das bei ihm damals apokalyptische Visionen ausgelöst hat.
Publiziert: 20.12.2019 um 09:16 Uhr
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Tag und Nacht, sommers wie winters – das AKW Mühleberg hat nach 47 Jahren Stromproduktion ausgedient.
Foto: Wikimedia
Roman Rey @higgsmag

Liebes Kernkraftwerk Mühleberg – liebes Atomi, wie du auch gern genannt wirst. Bald ist es soweit: Du trittst im Alter von 47 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand. Vielleicht hättest du gerne noch ein paar Jahre länger weitergemacht – aber deine Betreiberin fand, das würde zu teuer werden und zieht «aus wirtschaftlichen Gründen» den Stecker.

Richtig nahe sind wir uns zwar nie gekommen, aber dennoch habe ich aus meiner Kindheit einige lebendige Erinnerungen an dich. Ich bin im Kanton Bern aufgewachsen, 19 Kilometer von dir entfernt. Das ist noch knapp in der Gefahrenzone 2, wo bei einem Störfall Schutzmassnahmen für die Bevölkerung vorgesehen sind.

So lagen in den Neunzigerjahren eines Tages Jodtabletten in unserem Briefkasten. Sie würden im Notfall verhindern, dass sich radioaktives Jod, das durch die Atmung aufgenommen wird, in der Schilddrüse anreichert. Radioaktivität in der Luft. Nach den Erklärungen meiner Eltern hatte ich wochenlang apokalyptische Visionen.

Ich inspizierte den Luftschutzkeller unseres Wohnblocks. Stellte mir vor, wie es wäre, hier unten auszuharren, während draussen die Atomwolke vorbeizieht. Welche Vorräte könnten wir essen? Welche Mitschüler dürften in unser Kellerabteil? Wir wohnten nämlich direkt neben dem Schulhaus. Mein Plan B, den ich für ganz clever hielt: Einfach rechtzeitig ins Nachbardorf fahren, raus aus der Gefahrenzone, und gelöst ist das Problem.

Kind der Schweizer Atom-Euphorie

Du bist eines der ältesten Kernkraftwerke der Schweiz und das erste, das abgeschaltet wird. Weil keine neuen vorgesehen sind, ist deine Pensionierung auch der Anfang des Atomausstiegs in der Schweiz. Ja, die Zeiten haben sich geändert. Du kamst 1967 als Kind einer regelrechten Atom-Euphorie zur Welt.

Die Pläne für eine eigene nukleare Bombe hat die Armee zwar begraben, doch die Atomkraft für zivile Zwecke wurde zum Symbol für Wohlstand und Fortschritt. Bereits 1945 hatte die Basler National-Zeitung geschrieben: «Amerikaner träumen von benzintankfreiem Autofahren und Fliegen, die Börse wittert ein goldenes Zeitalter und lässt die Uranaktien steigen, doch vom Leichenfeld der getöteten 300'000 Einwohner von Hiroshima aus verbreitet sich böse Ahnung über die weite Welt.»

Doch der Optimismus überwog vorerst. Deshalb gab es keine Proteste, als 1964 der Bau der AKWs Beznau, Mühleberg und Leibstadt angekündigt wurden. Und nicht einmal, als es 1969 in einem Versuchsreaktor in der Waadtländer Gemeinde Lucens eine Explosion mit einer Kernschmelze gab. Weil der Reaktor unterirdisch war, konnte ein Super-GAU knapp verhindert werden.

Zu dem Zeitpunkt warst du, liebes Atomi, bereits im Bau. Wenige Jahre später, am 6. November 1972, begann dein Kühlturm zu dampfen.

Anti-AKW-Bewegung und Tschernobyl

Doch die Feierstimmung hielt nicht lange an. Die Euphorie hatte ihren Höhepunkt längst überschritten und aus der 68er-Revolte ging die Umweltbewegung hervor. Massive Proteste verhinderten den Bau eines Kraftwerks in Kaiseraugst – und damit auch weitere Projekte. Statt der geplanten zehn blieb es bei fünf Atomkraftwerken in der Schweiz.

Im Jahr 1986 passierte, woran man nicht zu denken gewagt hatte: In Tschernobyl gab es eine nukleare Katastrophe. Diesmal war die Bedrohung mehr als ein hypothetisches Szenario, wie ich es als Kind im Luftschutzkeller durchgespielt hatte. Als die radioaktive Wolke um Mitternacht vom 29. auf den 30. April 1986 die Schweiz erreichte, war meine Mutter im dritten Monat schwanger.

Meiner ungeborenen kleinen Schwester konnte die Atomwolke zum guten Glück nichts anhaben: Sie kam quietschfidel zur Welt und ist es heute noch. Aber es waren bange Wochen für meine Mutter. Auf Empfehlung des Bundes verzichtete sie fortan auf Milchprodukte, weil man eine mögliche Verseuchung befürchtete. Andere wählten radikalere Mittel: Im Juni nahm die Zahl der Abtreibungen in der Schweiz um 60 Prozent zu, wie der Historiker Michael Fischer im Buch «Atomfieber» schreibt.

Die Besetzung von Kaiseraugst und die «Schlacht um Gösgen» im Jahr 1977, wo die Polizei eine friedliche Demo niederknüppelte – solches blieb dir erspart. Dafür gab es gesundheitliche Probleme. Anfang der Neunziger tauchten die ersten Risse im Kernmantel auf, mehr folgten. Zuganker, zur Stabilisierung befestigt, wurden von Experten als untauglich eingeschätzt.

Der Anfang vom Ende

Deine Betreiberin BKW war gerade dabei, deine Nachfolge zu regeln – der Plan zum Bau des Kraftwerks Mühleberg II wurde im Februar 2011 sogar vom Berner Stimmvolk angenommen – als ein Monat später erneut eine Katastrophe geschah: der Super-GAU in Fukushima. Noch im selben Jahr sistierte die Energieministerin Doris Leuthard alle Gesuche für neue Kernkraftwerke und kündigte den Atomausstieg an.

Angesichts deiner angeschlagenen Gesundheit beschloss die BKW im Oktober 2013, dich am Ende des Jahrzehnts definitiv und ohne Nachfolge in den Ruhestand zu schicken. Rund 200 Mitarbeitende werden bis 2034 damit beschäftigt sein, dich zurückzubauen und die abgebrannten Brennelemente zu entsorgen. Der Rückbau soll 927 Millionen Franken kosten, die Entsorgung weitere 1,427 Milliarden Franken.

Ich möchte dir für deine Dienste danken. Du und deine Geschwister haben uns zuverlässig mit Strom versorgt und zum Wohlstand des Landes beigetragen. Doch wie gesagt, die Zeiten ändern sich. Als erstes AKW, das in der Schweiz abgeschaltet wird, nimmst du eine Pionierrolle ein – und läutest den Anfang vom Ende der Atomkraft ein.

Am 20. Dezember, meinem Geburtstag, gehen bei dir die Lichter aus. Dafür zünde ich die Kerzen auf dem Kuchen diesmal nur für dich an.

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