Kreislaufwirtschaft
So soll der Abfallberg verschwinden

Immer mehr Verpackungen, immer mehr Müll. Die Umwelt leidet. Viele hoffen auf eine Besserung durch Kreislaufwirtschaft. Doch das könnte noch dauern.
Publiziert: 10.05.2019 um 11:45 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2021 um 18:06 Uhr
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und 716 Kilogramm sogenannte «Siedlungsabfälle» von Haushalten und Unternehmen fallen hierzulande jährlich pro Kopf an.
Foto: Getty Images
Tina Berg («Beobachter»)

Hat man das Brötli gegessen, den Eistee getrunken oder das neue Ladekabel eingesteckt, ist die Verpackung nur noch ein Ärgernis. Die schützende Hülle verliert ihren Zweck und führt zu schlechtem Ökogewissen und zu Mehraufwand, weil man sie entsorgen muss.

«Konsumenten und Konsumentinnen wollen die Verpackung eigentlich nicht, sie interessiert nur der Inhalt. Aber ein Joghurt kann man nur verpackt nach Hause transportieren – ohne wird es unmöglich oder zumindest sehr umständlich», sagt Roland Hischier, Ökobilanzexperte bei der Forschungsinstitution Empa. «Besonders Lebensmittelverpackungen lösen deshalb regelmässig Kontroversen aus. Obwohl die Herstellung des Inhalts die Umwelt häufig viel stärker belastet.»

Das Thema bewegt: Grossverteiler werden in der Öffentlichkeit regelmässig wegen vermeintlich unnötigen Verpackungen angegriffen. Neue Läden, die auf «Zero Waste», also null Abfall, setzen, werden dafür gefeiert. Umweltorganisationen fahren Kampagnen gegen Plastik, und immer neue Bilder von verendeten Tieren in den Weltmeeren machen Konsumenten betroffen. Detailhändler wie Migros und Coop sind deswegen unter Druck und versuchen, ihrerseits mit Gebühren auf Plastiksäcke die Kunden zu umweltschonenderem Verhalten zu bewegen.

Der Abfallberg wächst

Trotz wachsendem Umweltbewusstsein – Wohlstand und Bequemlichkeit sorgen für immer mehr Müll. Rund 716 Kilogramm sogenannte Siedlungsabfälle von Haushalten und Unternehmen fallen hierzulande jährlich pro Kopf an. Die Schweiz gehört damit zu den Spitzenreitern in Europa, der EU-Schnitt liegt bei 487 Kilo pro Kopf. Weltweit werden lediglich 14 Prozent des Plastikmülls rezykliert – egal ob die Verpackung rezyklierbar ist oder nicht. Und noch ist keine Besserung in Sicht: Das Bundesamt für Umwelt prognostiziert eine weitere Zunahme der Abfallmenge.

Was lässt sich dagegen tun? Die Suche nach der Lösung beschäftigt Forschung, Wirtschaft und Politik gleichermassen. Zum Beispiel den Lebensmittelwissenschaftler Selçuk Yildirim. Er leitet an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Zentrum für Lebensmittelherstellung und -verpackung und forscht an den Materialien der Zukunft.

«Die wichtigste Funktion der Verpackung ist es, als Barriere zwischen dem Inhalt und der Umgebung zu dienen», sagt er. Sprich: Kohlensäure darf nicht aus dem Getränk entweichen, und es darf nichts durch die Verpackung eindringen, damit etwa die Milch nicht schlecht wird. Die ideale Verpackung verbindet die notwendigen Funktionen mit möglichst wenig Umweltschaden.

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Materialien der Zukunft

Wichtig sei, dass die Materialien künftig besser rezyklierbar werden, sagt Yildirim: «Heute bestehen sie häufig aus mehreren Schichten, die unterschiedliche Eigenschaften haben: gegen Feuchtigkeit und Gase schützen, schön bedruckbar sein und Stabilität bringen. Momentan kann man diese schlecht voneinander trennen.» Deswegen würden Monomaterialien entwickelt, die alle Eigenschaften vereinen können und sich dadurch besser fürs Recycling eignen.

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt auf sogenannt aktiven Verpackungen, die Sauerstoff absorbieren und damit verhindern, dass sich zum Beispiel bei Backwaren Schimmel bildet. Auch an antimikrobiellen Folien und essbaren Hüllen wird in Wädenswil getüftelt. Zudem entwickelt die Forschungsgruppe von Selçuk Yildirim Materialien aus nachhaltigen Rohstoffen. Besonderes Interesse haben sie dabei an der Herstellung von Verpackungen aus Abfällen, die sowieso bei der Lebensmittelherstellung anfallen. Solche Verpackungen könnten dann zum Beispiel aus Gluten, Molke oder Kartoffelschalen bestehen.

Hoffnungsträger Kreislaufwirtschaft

Aber die Lösung des Abfallproblems kann nicht nur auf den Schultern der Wissenschaft lasten. Zukunftsforscherin Martina Kühne sieht den vielversprechendsten Weg in der Kreislaufwirtschaft, also einem System, in dem der ganze Abfall wiederverwendet wird und die Verantwortung dafür stärker beim Produzenten liegt. Ressourcen, Emissionen, Abfallproduktion und Energieverschwendung sollen durch das Schliessen von Material- und Energiekreisläufen minimiert werden. Wie es zum Beispiel die Firma Freitag mit kompostierbaren Kleidern oder das Food-Start-up ZüriChips mit Chips aus altem Brot tun.

Es stecke momentan viel Hoffnung darin, dass man mit solchen Ansätzen die Auswüchse der Konsumgesellschaft in den Griff kriege, sagt Kühne: «Heute können wir unsere Abfälle nach dem ‹Aus den Augen aus dem Sinn›-Prinzip irgendwo auf der Welt entsorgen. Aber je mehr wir Kreisläufe verlangsamen, verringern und schliessen, desto lokaler wird man sich mit allen Konsequenzen des Konsums auseinandersetzen und auch Verantwortung übernehmen müssen.» Das bedinge ein Umdenken und geschehe nicht von heute auf morgen.

Wirtschaft hat keine andere Wahl

«Ein Produkt komplett nachhaltig zu machen, ist ein komplexes Unterfangen und nicht immer kurzfristig umsetzbar», sagt auch Judith Walls, Professorin für Nachhaltigkeitsmanagement an der Universität St. Gallen. Die effektivste und schnellste Lösung für das Abfall- und Verpackungsproblem sei natürlich, schlicht weniger zu konsumieren.

Nichtsdestotrotz ist auch sie davon überzeugt, dass Unternehmen bald gar keine andere Wahl haben werden, als den Übergang zur Kreislaufwirtschaft zu machen. «In der Wirtschaft ist eine massive Bewegung spürbar, die die Art verändern wird, wie Unternehmen arbeiten.» Viele Investment- und Versicherungsunternehmen würden immer höhere Anforderungen an die Nachhaltigkeit von Firmen stellen, weil sie es als Risiko einstufen, wenn diese nicht die nötigen Massnahmen ergreifen. «Und wenn man den Geldfluss stoppt, reagieren die Unternehmen in der Regel ziemlich rasch», sagt Walls.

Wiederverwendbar, rezyklierbar, kompostierbar

Einen regelrechten Systemwandel brauche es, sagt Thomas Dyllick, Präsident des Vereins Prisma, in dem sich verschiedene Firmen und Detailhändler wie Aldi, Emmi oder Unilever zusammengeschlossen haben, um sich für die Kreislaufwirtschaft einzusetzen. «Der Übergang dazu ist nicht nur unvermeidlich, sondern in der EU ja bereits eingeläutet worden. Sie wird damit auch für die Schweiz zwingend, da die Unternehmen keine Separatlösungen werden anbieten können.»

Dadurch, dass die Verantwortung fürs Schliessen des Kreises beim Produzenten angesiedelt werde, habe dieser einen Anreiz, von Anfang an sinnvolle Lösungen zu entwickeln. «Bei Verpackungen heisst das, dass sie entweder wiederverwendbar, rezyklierbar oder kompostierbar sein müssen», sagt Dyllick. Die Bereitschaft zur Veränderung sei zunehmend spürbar, es fehle aber noch der Mut die grossen Schritte zu machen.

Auch in der Politik scheint man das erkannt zu haben: Die Stadt Genf verbietet ab 2020 Einwegplastik, und auch die EU hat ein solches Verbot beschlossen. Im Nationalrat wurde Ende 2018 trotz Lobbying der Detailhandelsbranche eine Motion der Umweltkommission gutgeheissen, die weniger Plastikmüll und Einwegprodukte will. Mit Postulaten forderten die beiden Ständeräte Ruedi Noser (FDP) und Beat Vonlanthen (CVP) den Bundesrat zudem jüngst auf, die Chancen der Kreislaufwirtschaft zu nutzen und deshalb zu überprüfen, wo Hemmnisse abgebaut und steuerliche Anreize gesetzt werden können.

Schnellere Lösung mit Mehrwegsystemen

Bei aller Euphorie – es gibt auch kritischere Stimmen. «Die Kreislaufwirtschaft ist zwar eine wichtige Vision, sie erfordert aber das Zusammenwirken vieler verschiedener Akteure und ist deshalb äusserst komplex in der Umsetzung. Viele Fragen sind noch offen», sagt Greenpeace-Mediensprecher Yves Zenger. Das heutige Wirtschaftssystem, das auf Endloskonsum und Wegwerfkultur basiere, habe verheerende Folgen, und ein Paradigmenwechsel sei nötig. Parallel zur Entwicklung der Kreislaufwirtschaft müsse man jedoch dringend die schiere Menge an Müll rasch reduzieren.

Zenger sieht alternative Liefer- und Verteilsysteme, die auf Wiederauffüllung und Wiederverwendbarkeit basieren, als beste Strategie um dem Abfallproblem beizukommen. Das ginge schneller. «Nur Mehrweg-Liefersysteme können den Teufelskreis von Verschwendung und Verschmutzung durchbrechen und die durch Einwegverpackungen verursachte ökologische und soziale Katastrophe beenden. Auch wenn das grosse logistische Umstellungen und Investitionen erfordert, ist es konkreter und schneller umzusetzen als die Realisierung der Kreislaufwirtschaft.»

Detailhändler wehren sich massiv

Es müsse das Verursacherprinzip gelten – die Verantwortung dafür liege bei Konsumgüterherstellern und -händlern. Heute würden sie diese noch zu wenig wahrnehmen und sich massiv wehren, wie aktuell beim «Sauberkeitsrappen» in Bern.

Der Greenpeace-Sprecher sagt: «Detailhändler wie Migros und Coop feiern zwar jede einzelne von Plastik befreite Obst- und Gemüsesorte öffentlich ab. Gleichzeitig bringen sie immer mehr einwegverpackte Convenience-Produkte ins Regal. Damit schaffen sie falsche Anreize und kurbeln die Verschwendung regelrecht an.»

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Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde von Beobachter.ch übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

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