Blick: In Ihrem eben erschienenen Buch «Wenn Haie leuchten» schreiben Sie, dass bloss fünf Prozent des Meeresbodens vermessen und ein Drittel der Meeresbewohner erforscht seien. Da liegt noch viel Arbeit vor Ihnen als Meeresbiologin.
Julia Schnetzer: Nicht nur vor mir! Aber auf jeden Fall können wir Meeresbiologinnen und -biologen noch viel tun und entdecken. Etwa alle vier Wochen ist in wissenschaftlichen Publikationen über eine neue Art zu lesen.
Ein enormes Tempo!
Ja, es geht deutlich schneller als früher. Im letzten Jahrzehnt entdeckten Forscherinnen und Forscher viel mehr Arten als in den Jahrzehnten zuvor.
Weshalb?
Weil wir heute technische Mittel haben, mit denen wir die Tiefsee viel besser erforschen können. So haben wir kleine Drohnen, die wir ohne Kabel runterlassen können und die dort den enormen Druck aushalten. Ein neuer Trick ist auch statt mit weissem mit rotem Licht zu arbeiten. Viele Tiere können Weiss in der Tiefe nicht wahrnehmen und werden dadurch nicht erschreckt.
Dort unten schwimmen Grönlandhaie, von denen Sie schreiben, dass sie mehrere Hundert Jahre alt werden – erstaunlich!
Das war auch für die Wissenschaft überraschend. Einzelne Exemplare sind 500 Jahre alt oder gar älter. Die Erforschung solcher Tiere kann vielleicht dazu beitragen, den Alterungsprozess des Menschen zu verstehen.
Ausgerechnet: Haie, vor denen wir uns so fürchten, als Helfer der Menschen. Wie bringen wir die Angst aus den Köpfen?
Die Frage ist, wie diese Angst in die Köpfe kam. Der Film «Der weisse Hai» war sicher ausschlaggebend, aber es ist schon so, dass viele Haie fies dreinschauen – bei manchen stehen die Zähne raus. Da erkennen wir: Das sind Raubtiere.
Macht Ihnen das als Taucherin Angst?
Ich bin nicht frei davon. Wenn ich in einer Gegend schnorchle, von der ich weiss, dass es grosse Haie gibt, das Wasser aber keine weite Sicht erlaubt, dann finde ich das manchmal unheimlich.
Für eine zusätzlich trübe Sicht sorgt der Plastikmüll in den Ozeanen. Sie nennen erschreckende Befunde, etwa, dass ein Grossteil im Meer absinkt und dann in die Nahrungskette gelangt.
Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass der meiste Plastikmüll nicht auf der Wasseroberfläche schwimmt oder an den Stränden liegt, sondern unter Wasser oder am Meeresboden. Das meiste ist Mikroplastik, das wir nicht sehen – das werden wir nie mehr rauskriegen.
Hoffnungslos?
Noch ist unklar, welche Konsequenzen das hat. Es bringt uns nicht sofort um, sonst wären wir alle schon tot. Aber was es etwa mit unseren Hormonen macht, da wissen wir noch nicht viel. Da müsste man mehr forschen.
Was ist sonst noch zu tun?
Wir müssen vor allem die Plastikproduktion drastisch einschränken. Plastik ist in der Medizin ein wichtiger Stoff, aber wir benutzen ihn häufig, wo er unnötig ist – ganz klassisch der Plastiktrinkhalm oder die kleinen Plastiksäcke. Diese Sachen landen dann sehr schnell im Meer.
Sie waren wissenschaftliche Koordinatorin der internationalen Wanderausstellung «Ocean Plastics Lab», in der Sie auf dieses Problem aufmerksam machten. Bewirken solche Ausstellungen ein Umdenken bei den Menschen?
Wir hatten viele hochrangige Politiker zu Gast, und da hatte ich den Eindruck, dass die Ausstellung etwas bewirkte. Einzelne stellten danach in ihren Behörden von Plastik- auf Glasflaschen um. Und kurze Zeit später kam die Verordnung der EU zur Abschaffung von Einwegplastik.
Wir verschmutzen den Lebensraum, den wir gleichzeitig plündern: Die neue Netflix-Dokumentation «Seapiracy» gibt einen drastischen Einblick in das Abschlachten auf hoher See.
Die Bilder sind sehr krass, aber für mich war das meiste nicht neu. Es ist gut, dass es diese Dokumentation gibt, denn vor zehn Jahren sprach man mehr über dieses Thema. Das kann nicht so weitergehen.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Ein Problem sind Netze, die im Meer verloren gehen. Schiffe müssten angeben, wie viele Netze sie mitnehmen und bei der Rückkehr zeigen, wie viele sie noch haben. Die Fischerei muss Verantwortung für ihren Müll übernehmen.
Ich nehme an, Sie konsumieren keinen Fisch. Wann haben Sie den letzten gegessen?
Das letzte Mal ass ich an Weihnachten eine Scheibe Lachs und bayerische Garnelen, weil das bei meinen Eltern Tradition hat. Aber sonst esse ich keinen Fisch.
Ist das die Lösung, keinen Fisch mehr zu essen?
Ich bin dagegen, mit dem Finger auf Leute zu zeigen. Ich finde es einen Unterschied, wenn eine Dorfbevölkerung am Meer den Fisch, den sie fängt, selbst konsumiert – das ist die Art, wie diese Menschen leben.
Wo liegt dann das Problem?
Ich sehe das Problem dort, wo wegen kapitalistischer Gewinnmaximierung immer alles wachsen muss. Da sind nicht die kleinen Fischer das Problem, sondern die riesigen Fischfabriken auf hoher See.
Diese Fischfabriken sorgen zudem für Lärm und verschandeln die Klanglandschaft der Meere. Wie schwerwiegend ist das?
Sehr, denn viele Tiere verständigen sich im Meer mittels akustischer Signale. Von Walen und Delfinen weiss man schon länger, dass sie singen und sich unterhalten. Aber neuere Forschungen zeigen: Es gibt auch Fisch- oder Muschellarven, die sich an Geräuschen von Riffen orientieren, um zu wissen, wohin sie müssen beziehungsweise wo sie sich niederlassen können. Mit Motorenlärm und Ultraschall zerstört der Mensch solche Orientierungsmöglichkeiten.
Was ist eigentlich so «sexy» an Ihrem Beruf, wie Sie es im Buch ausdrücken?
Nun, es ist das Bild, das sich die Leute von uns machen. Wenn ich meinen Beruf nenne, dann denken viele, ich liege den ganzen Tag am Strand unter der Sonne und kuschle zwischendurch im Wasser mit Delfinen.
Ein falsches Bild?
Bei den wenigsten meines Fachs sieht der Alltag so aus. Wir sitzen sehr häufig im Labor oder am Schreibtisch.
Sind Sie Einzelkämpferin oder Teamplayerin?
Ich arbeite meistens mit anderen Leuten zusammen. Wenn man aufs Meer rausfährt, geht das gar nicht allein – man muss schwere Tauchgeräte tragen und Arbeiten aufteilen. Wir unterstützen uns aber auch bei Expertisen. Das zeigt sich bei wissenschaftlichen Publikationen: Dort stehen meist mehrere Namen in der Autorenzeile.
Wie gross ist der Frauenanteil in Ihrem Fach?
Sehr hoch. Ich habe keine konkreten Zahlen, aber ich schätze, im Studium waren 80 Prozent Frauen. Auch bei Konferenzen sind viele Frauen anzutreffen. Bei den Professuren dünnt es sich wieder aus – dort sind Männer in der Überzahl.
Haben Sie Ambitionen, Professorin zu werden?
Ich finde Forschung toll, die will ich nicht aufgeben, aber momentan bin ich stark in der Wissenschaftskommunikation unterwegs, um aktiv etwas zum Besseren zu bewirken.
Das machen Sie nun auch mit Ihrem Buch, das sich an eine breite Leserschaft richtet.
Ja, das ist ein Ziel des Buchs: Ich will die Leserschaft für das Meer faszinieren und dazu bewegen, diesen Lebensraum zu schützen.
99 Prozent unseres Lebensraums befindet sich im Wasser, schreiben Sie. Müssten wir uns auf ein Leben darin vorbereiten – zumal dann, wenn der Meeresspiegel steigt?
Ich glaube nicht an «Waterworld». Es wird keine Lösung sein, Städte ins Meer zu bauen, denn Wasser ist ein schwieriges Element mit unberechenbaren Kräften. Was in Zukunft interessant werden könnte, ist das Meer als Agrarfläche, zum Beispiel für den Anbau von Algen.
Hätte das Leben im Wasser Vorteile? Wäre es zum Beispiel pandemiefrei?
Nein, selbst im Wasser lassen sich Viren und Bakterien übertragen. Auch Wassertiere haben Krankheiten. Das ist ein Problem in Aquakulturen, wo Fische eng aufeinander leben: Um Krankheiten zu vermeiden, setzt man Antibiotika ein.
Unser Leben entstand im Meer. Ist es denkbar, dass es evolutionär wieder dorthin zurückkehrt?
Das gibt es schon: Alle Säugetiere im Wasser wie Wale, Delfine oder Seehunde stammen von Lebewesen ab, die an Land lebten. Über Millionen von Jahren sind sie wieder zurück ins Wasser gewandert. Auch Insekten im Meer sind ursprünglich Krebse, die an Land wanderten, sich zu Insekten entwickelten und zum Teil zurück ins Meer gingen.
Weshalb gilt es als evolutionäre Weiterentwicklung, wenn Lebewesen ans Land kommen, umgekehrt aber nicht?
Das ist der menschliche Blickwinkel, aus dem er sich selbst als Krone der Schöpfung sieht – also Ansichtssache. Aus biologischer Sicht ist jener erfolgreich, der überlebt und sich eine stabile Population baut.
Julia Schnetzer kommt 1985 in München (D) zur Welt. Zu ihrem 18. Geburtstag schenken ihr ihre Eltern eine Reise in die Südsee. Nach dem Tauchen auf den Fidschi-Inseln beschliesst sie, Meeresbiologie zu studieren. Sie studiert in Köln (D), Merced (Kalifornien) und Panama und promoviert schliesslich in Bremen (D) in mariner Mikrobiologie zu Viren und Bakterien im Meer. Von 2017 bis 2020 ist sie wissenschaftliche Koordinatorin der internationalen Wanderausstellung «Ocean Plastics Lab» zum Problem des Plastikmülls in den Weltmeeren. Mit zwei Freunden betreibt sie das Projekt «Plötzlich Wissen!», bei dem sie mit Menschen auf der Strasse über Wissenschaft und Ozeane sprechen. «Wenn Haie leuchten» ist Schnetzers erstes populärwissenschaftliches Buch. Und demnächst startet sie bei Audible den Podcast «Sag mal, du als Biologin». Schnetzer wohnt heute in Bremen.
Julia Schnetzer kommt 1985 in München (D) zur Welt. Zu ihrem 18. Geburtstag schenken ihr ihre Eltern eine Reise in die Südsee. Nach dem Tauchen auf den Fidschi-Inseln beschliesst sie, Meeresbiologie zu studieren. Sie studiert in Köln (D), Merced (Kalifornien) und Panama und promoviert schliesslich in Bremen (D) in mariner Mikrobiologie zu Viren und Bakterien im Meer. Von 2017 bis 2020 ist sie wissenschaftliche Koordinatorin der internationalen Wanderausstellung «Ocean Plastics Lab» zum Problem des Plastikmülls in den Weltmeeren. Mit zwei Freunden betreibt sie das Projekt «Plötzlich Wissen!», bei dem sie mit Menschen auf der Strasse über Wissenschaft und Ozeane sprechen. «Wenn Haie leuchten» ist Schnetzers erstes populärwissenschaftliches Buch. Und demnächst startet sie bei Audible den Podcast «Sag mal, du als Biologin». Schnetzer wohnt heute in Bremen.
Julia Schnetzer, «Wenn Haie leuchten – eine Reise in die geheimnisvolle Welt der Meeresforschung», Hanser blau