Biologie-Professor Raphael Arlettaz über Artensterben und Klimawandel
«Wir riskieren unseren Planeten»

35 Prozent aller Pflanzen und Tiere drohen in der Schweiz zu verschwinden. Der Walliser Biologie-Professor Raphaël Arlettaz kämpft dagegen und erklärt, wieso wir Hunden alles und Wölfen nichts verzeihen.
Publiziert: 20.07.2018 um 22:04 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:36 Uhr
Benno Tuchschmid

Das Gebäude, aus dem Professor Raphaël Arlettaz gegen das Aussterben von Pflanzen und Tieren anforscht, ist ein grauer Betonklotz. Als Arlettaz 2001 den Lehrstuhl für Umweltschutz an der Uni Bern übernahm, hatte man ihm angekündigt, bald würde er in ein modernes Gebäude umziehen. 17 Jahre später sitzt der Unterwalliser immer noch in seinem aufgeheizten Büro – und ­erklärt, wieso sich insbesondere die Schweiz so schwertut mit dem Schutz der Artenvielfalt. Hinter ihm steht im Büchergestell die Kartonfigur eines Wiedehopfs. Arlettaz hat den Vogel im Wallis vor dem Aussterben gerettet.

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Für Professor Raphaël Arlettaz funktioniert Naturschutz nur, wenn die Menschen in die Natur gehen: «Die Menschen müssen in der Natur Gefühle erfahren, um die Wichtigkeit der Biodiversität zu erkennen».
Foto: Anja Wurm

Herr Arlettaz, wären Sie gerne ein Wiedehopf?
Arlettaz: Hängt davon ab wo. In vielen Gegenden findet er immer weniger Nahrung, in anderen ist er ganz ausgestorben.

Im Wallis nicht. Dort haben Sie den Vogel Ende der 90er-Jahre gerettet. 15 000 andere Tiere und Pflanzenarten stehen dagegen schweizweit vor der Ausrottung. Hat Sie die Rettung des Wiedehopfs etwas gelehrt?
Ja. Wir versuchten, die Landwirte damals mit einem rationalen Argument zu gewinnen: Der Wiedehopf frisst Maulwurfsgrillen, die eure Gemüsekulturen schädigen! Tatsächlich wollten viele Bauern ­Wiedehopf-Nistkästen in ihren Obstplantagen aufstellen. Aber aus einem anderen Grund.

Aus welchem?
Mir erzählte einer, sein Grossvater habe immer von diesem fantastischen Vogel gesprochen, er selbst habe ihn aber noch nie gesehen. Darum wollte er ihn zurück in seinem Feld. Verstehen Sie?

Nein.
Unsere Beziehung zur Natur ist vor allem emotional. Die zentrale Erkenntnis ist: Die Menschen müssen in der Natur Gefühle erfahren, um die Wichtigkeit der Biodiversität zu erkennen.

Sie sagen, das Artensterben sei dramatischer als der Klimawandel. Wieso?
In die Klimaerwärmung sind zwei Moleküle involviert, die der Mensch durch sein Verhalten in zu hoher Dosis in die Atmosphäre jagt. Der Angriff auf Biodiversität ist viel, viel komplexer; sie reicht von den Genen in den Organismen bis zum ganzen Ökosystem.

35 Prozent der Pflanzen und Tiere in der Schweiz sind vom Aussterben bedroht. Was bedeutet es für uns, wenn sie verschwinden?Wir riskieren unseren Lebensraum, das heisst die Grundlage unserer Wirtschaft, letztlich sogar die Grundlage unserer Existenz. Die Natur besteht aus der Interaktion all ihrer Elemente. Als Beispiel die Bestäubung: In der Schweiz gibt es zirka 800 Insektenarten, die bestäuben; nicht nur die Hausbiene! Wenn die Bestäuber aussterben, verlieren wir eine ökonomisch ex­trem wichtige Ökosystemdienstleistung, die uns die Natur gratis ­offeriert.

Die Natur ist hart. Tierarten sind immer gekommen und wieder verschwunden.
Schon, aber nicht in dieser Geschwindigkeit. Die Aussterbens­rate ist weltweit so hoch wie nie zuvor. Wenn immer mehr Spezies verschwinden, riskieren wir unseren Planeten.

Wieso nimmt die Artenvielfalt überhaupt ab?
Früher waren es die Kanalisierung der Gewässer und die Zerstörung der Feuchtgebiete. Da haben wir Fortschritte gemacht. Zurzeit gibt es in der Schweiz zwei massgebliche Treiber: die intensive Landwirtschaft mit ihren Pestiziden und Düngern. Und der immer grösser werdende Siedlungsraum.

Der Umweltschutz-Professor

Raphaël Arlettaz (56) stammt aus einer Unterwalliser Politikerfamilie. Er interessierte sich schon als Jugendlicher für Vögel. 1994 doktorierte er an der Universität Lausanne in Biologie. Als er 2001 die neu geschaffene Stelle als Professor für Conservatory Biology an der Universität Bern antrat, bestand er auf eine Teilzeitstelle, weil er die Aussenstation der Vogel­warte Sempach im Wallis weiterführen wollte. Auch aus wissen-schaft­lichen Gründen: «Die ­Natur ist für mich eine Quelle der Inspiration für Forschungsthemen.» In der Romandie gilt Arlettaz als Mr. Biodiversität. Er ist mit einer Opernsängerin verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Raphaël Arlettaz (56) stammt aus einer Unterwalliser Politikerfamilie. Er interessierte sich schon als Jugendlicher für Vögel. 1994 doktorierte er an der Universität Lausanne in Biologie. Als er 2001 die neu geschaffene Stelle als Professor für Conservatory Biology an der Universität Bern antrat, bestand er auf eine Teilzeitstelle, weil er die Aussenstation der Vogel­warte Sempach im Wallis weiterführen wollte. Auch aus wissen-schaft­lichen Gründen: «Die ­Natur ist für mich eine Quelle der Inspiration für Forschungsthemen.» In der Romandie gilt Arlettaz als Mr. Biodiversität. Er ist mit einer Opernsängerin verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Man könnte auch sagen: die ­Zuwanderung!
Mir schreiben immer wieder Leute E-Mails, die genau das behaupten. Ihnen schicke ich das PDF meiner Vorlesung, um das Thema objektiv weiterdiskutieren zu können. Leider folgen sie der Einladung nie.

Was steht denn da drin?
Dass es für die Umwelt natürlich eine Rolle spielt, dass wir Menschen immer mehr werden. Aber eben auch, dass das mit der Schweiz und ihren Grenzen nichts zu tun hat. Das Bevölkerungswachstum ist ein globales Phänomen. Und die Schweiz ist Teil dieses Planeten, egal welche Zuwanderungspolitik wir betreiben.

Gerade einmal 16 Prozent der Schweizer zählen den Umweltschutz zu ihren fünf grössten Sorgen. Wieso interessiert die Umwelt so wenig?
Es hängt schon immer auch davon ab, wie man fragt. Ich bin da nicht ganz so pessimistisch. Es gibt ­Studien, die zeigen, dass die Leute fähig sind, die Natur einzuschätzen. In der Ostschweiz mussten Probanden die Qualität einer Mähwiese visuell schätzen. Die breite Bevölkerung findet eine Wiese, in der es nur Löwenzahn gibt, weniger anziehend als eine Magerwiese mit vielen verschiedenen Pflanzen, aus denen die Heuschrecken zirpen.

Täuscht eigentlich der Eindruck, dass Städter sich mehr für Umweltschutz interessieren?
Viele Städter haben eine bessere Erziehung in Sachen Natur und Biodiversität.

Weshalb?
Gerade Leute aus den Bergen meinen oft, sie wüssten alles, einfach weil sie einen direkteren Kontakt mit der Natur im Alltag haben.

Haben Sie ein Beispiel?
In den 80er-Jahren traf ich einen Wildhüter aus dem Unterwallis in den Bergen. Er schoss mit einem Gewehr Tannenhäher ab. Einen nach dem anderen. Ich ging zu ihm, leicht aufgebracht – es ist nicht leicht, als Ornithologe eine solche Szene zu beobachten –, und fragte ihn: Was passierte hier?

Was antwortete er?
Dass die Tannenhäher die Körner der Arven fressen und diese ausrotten würden. Er hatte richtig beobachtet.

Wie bitte?
Diese Vögel fressen tatsächlich ­Arvenkörner und verstecken sie in Höhlen im Boden. Aber der Wildhüter hatte schlecht interpretiert: Der Tannenhäher hilft der Arve, sich auszubreiten. Denn wenn ein Vogel stirbt und sein Versteck nicht mehr aufsucht, dann wächst dort ein neuer Arvenbestand. Sie sehen: Interpretation ist genauso wichtig wie die Beobachtung.

Beobachtet man die Politik, scheint auch dort die Biodiversität nicht wichtig zu sein. 1993 trat die Schweiz der internationalen Biodiversitätskonvention bei. Erst 25 Jahre später beschloss sie Massnahmen.
Es ist schwierig zu verstehen. Die Situation ist heute schizophren! Wir finanzieren mit Steuergeldern Forschung im Bereich Naturschutz und integrieren dann die Erkenntnisse, die man daraus gewinnt, trotzdem nicht in unsere Politik.

Wieso nicht?
Ich sage immer: Die Politiker haben das Recht zu entscheiden, aber sie haben auch die Pflicht, sich richtig zu informieren. Und das geschieht viel zu selten. Viele Kenntnisse stammen aus Stammtisch-Diskussionen mit Politiker-Kollegen. Das reicht einfach nicht.

Das Bundeshaus ist keine zehn Minuten von hier entfernt. ­Kommen Politiker zu Ihnen?
Nein, nie. Aber morgen habe ich ein Treffen mit einer Politikerin aus der Waadt. Es gibt aber immer noch viele Politiker, die bei sogenannten Umweltschützern blockieren und nichts hören wollen. Im heutigen Parlament ist es generell schwieriger geworden.

Wie meinen Sie das?
Biodiversität taucht im Bundeshaus dann auf, wenn es um den Abbau von Gesetzen geht, die Luchs, Wolf und Bär schützen sollen. Dieses Denken stammt aus dem 19. Jahrhundert.

Die Natur als Feind?
Ja, die altmodische Trennung in Schädlinge und Nützlinge. Das hat nichts mit der heutigen Realität zu tun.

Wie meinen Sie das?
Gehen Sie ins Kunsthaus Bern! Dort finden Sie ein altes Gemälde aus dem Berner Oberland, auf dem ein Bartgeier einen Schäfer angreift. Das ist Mythologie. Der Bartgeier ist neugierig, aber er greift keine Menschen an. Aber früher hat man die Beobachtungen lokaler Menschen schlecht interpretiert. Heute geschieht das Gleiche mit dem Wolf. Manche Leute befürchten immer noch, dass der Wolf für Menschen eine reale, ­direkte Gefahr ist.

Für Schafe ist er das.
Der Wolf frisst Schafe, das ist klar, aber Rot- und Rehwild sind seine Hauptnahrungsquelle. Schauen Sie: Die Wolfspopulation hat zugenommen, er pflanzt sich heute in mindestens drei Kantonen der Südschweiz fort. Im Wallis wurden letztes Jahr 46 Schafe von Wölfen gerissen. Das ist zu viel, aber wenn man diese Zahl mit jener der ­Schafe vergleicht, die ohne Wölfe in den Alpen sterben, dann ist es schon ein sehr geringer Prozentanteil.

Katzen fressen jährlich in der Schweiz rund 800 000 Vögel und Nager. Wieso verzeihen wir ihnen eher als dem Wolf?
Tieren, die wir gezüchtet haben, bringen wir viel mehr Mitgefühl entgegen. Auch Probleme, die Hunde in der Gesellschaft verursachen, nimmt man als selbstverständlich hin.

Welche Probleme?
Versuchen Sie mal, die Statistik der Hundeangriffe auf Menschen mit jener von Wölfen auf Menschen zu vergleichen. Das können Sie gar nicht, weil es nämlich keine Wolfsangriffe auf Menschen gibt.

Nicht nur der Wolf, auch der Bär kehrt zurück.
Gerade letzte Woche wurden auf dem Sanetschpass im Wallis Bä-renspuren nachgewiesen. Das heisst, im Wallis gibt es zum ersten Mal seit 150 Jahren wieder einen Bären.

Das müsste Sie doch positiv stimmen!
Das ist positiv, sicher. Was man aber verstehen muss: Die Biodiversität allgemein schwindet, trotz der Rückkehr von Bär und Wolf.

Wieso kehren Bär und Wolf auf natürliche Art und Weise zurück?
Weil sie hier wieder Nahrung finden. Der Hirsch und der Steinbock waren in der Schweiz im 19. Jahrhundert ausgerottet. Naturschützer und Jäger haben sie wieder ausgewildert. Das kreierte gute Lebensbedingungen für Beute­greifer wie Wolf und teilweise auch den Bären.

Der Schweizer Nationalpark wurde 1914 eröffnet, der Gewässerschutzartikel stammt aus dem Jahr 1953. War die Schweiz früher umweltfreundlicher?
Die Schweizer haben sehr früh anerkannt, dass die Umwelt geschont werden muss. Aber man muss schon sehen: Der Mensch stand ­immer im Zentrum dieses Umweltschutzes. Man braucht saubere Luft, unverschmutztes Wasser, fruchtbare Böden. Dafür hat man gute Gesetze geschaffen. Aber um Biodiversität ging es dabei kaum.

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Siggi Bucher

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